Geschichte war in der Schule nie mein Fach. Das lag vielleicht an den Lehrern, denn in dieser Disziplin versammelte unsere Schule die eher fragwürdigen Gestalten des Kollegiums – von den pädagogisch Herausgeforderten bis zu den politisch recht Rechten.
Deshalb liebe ich das Internet, denn hier hole ich vieles nach, was mir in meiner Jugend entgangen ist. Denn im Netz gibt es Menschen, die ihr spezifisches Fachwissen kurz und knapp dem Interessierten überbringen.
So wie Asta Helgadottir. Die ehemalige isländische Parlamentsabgeordnete für die Piraten beschäftigt sich mit der Veränderung des Urheberrechts. In einem langen Twitter-Thread hat sie zusammengetragen, wie deutsche Verlage die Meinungs- und Pressefreiheit attackieren. Und das tun sie nicht nur seit dem Kampf um das Leistungsschutzrecht 2012/13.
Nein, es ist erschreckender: Seit 1850 wollen deutsche Verlage verhindern, dass ihre Inhalte auch nur zitiert werden. Die Begründung ist schockierend oft deckungsgleich mit dem, was wir heute lesen. Da gibt es eine neue Technik, zum Beispiel Telegraphie, und die würde das ach so wichtige Geschäft des Journalismus ruinieren.
Verhinderung statt Anpassung und Innovation – das ist keine aktuelle Strategie der Medienkonzernen: Es ist in ihrer DNA verankert.
Wenn also das nächste Mal ein Chefredakteur oder Verlagsgeschäftsführer vom bösen Internet jammert oder über Urheberrechtsverletzungen klagt (die im Fall von Nachrichten übrigens vor allem in der Fantasie dieser Personen vorkommen), dann zeigen Sie ihm diesen Thread.
1850: Deutsche Presseverleger wollen Urheberrecht auf Nachrichten durchsetzen, weil die neu eingetroffene Technologie des Telegramms ihr Geschäftsmodell ruiniert. Es wird abgelehnt. 1/26#THREAD #copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1886: Deutsche Presseverleger wollen, dass Nachrichten in der Berner Übereinkunft urheberrechtlich geschützt werden. Es wird abgelehnt, und eine Urheberrechtsausnahme für Nachrichten wird etabliert. 2/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1908: Deutsche Presseverleger wollen beim Berliner Treffen für die Berner Übereinkunft die Möglichkeit der Reproduktion von Nachrichten durch das Urheberrecht einschränken. Es wird abgelehnt, da das Urheberrecht nur für kreative Schöpfungen gilt. 3/26#copyright #Artikel11
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1908: Die Berliner Konferenz wiederholt damit ihre Unterscheidung zwischen kreativer Schöpfungen und nicht-kreativer Informationen und Nachrichten im Hinblick auf den #Urheberrechtsschutz von 1886. 4/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1925: Unter Berufung auf die Entscheidung der Berner Übereinkunft lehnt die Haager Konferenz zum Schutz des gewerblichen Eigentums einen Vorschlag ab, Nachrichten unter gewerblichen Eigentumsschutz zu stellen. #Urheberrecht 5/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Alle Versuche der vergangenen fünfundsiebzig Jahre Nachrichten als geistiges Eigentum interpretieren zu lassen schlugen fehl. Das Vorhaben, Nachrichten urheberrechtlich zu schützen, schien hoffnungslos zu sein. 6/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1920er Jahre: Die Funktechnologie bedroht die etablierten deutschen Presseverlage. Die Tatsache, dass jeder Besitzer eines Empfangsgerätes Nachrichten hören kann! Blasphemie. 7/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1920er Jahre: “Nachrichtendiebstahl” explodiert in Deutschland. Die großen Presseverleger sind erstaunt darüber, dass die Leute nicht bereit sind, eine hohe Gebühr für den Kauf ihrer Zeitungen zu zahlen. 8/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1927: Deutschen setzen sich für eine Resolution innerhalb des Völkerbundes ein um unveröffentlichte Nachrichten UrhG zu schützen. Offizielle Mitteilungen der Regierung unterliegen der Gemeinfreiheit, aber der Status veröffentlichter Nachrichten wird innerstaatlich geregelt 9/26
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1928: Das deutsche Ministerium schlägt ein Gesetz vor, um ‘Tagesneuigkeiten’ und ‘vermischte Nachrichten tatsächlichen Inhalts’ als geistiges Eigentum zu schützen. #Urheberrecht 10/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1928: Die Radiotechnologie war einer der Hauptgründe für das neue Nachrichtengesetz in Deutschland, da es die traditionelle Nachrichtenbranche untergrub. #Urheberrechte ©. 11/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1928-1933: Die Debatte über das neue deutsche Pressegesetz wird fortgesetzt aber nie in Kraft gesetzt, da das NS-Regime und neue Pressekontrollgesetze das Gesetz überflüssig machen. 12/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1948: Auf dem Brüsseler Treffen zur Berner Übereinkunft wird betont, wie wichtig es ist, dass Nachrichten nicht unter das#Urheberrecht fallen, da der freie Zugang zu Nachrichten für die Demokratie essenziell ist. 13/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1965: Das neue westdeutsche Urheberrechtsgesetz ähnelt der Idee des Nachrichtenschutzes der Weimarer Republik von 1927. #Urheberrecht 14/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
1967: Die Stockholmer Konferenz zur Berner Übereinkunft bekräftigt noch einmal, dass Nachrichten und andere Informationen nicht dem #Urheberrecht unterliegen sollten. 15/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
2013: Die Bundesregierung führt im Sinne des Vorschlags von 1927 einen neuen #Urheberrecht-Zusatz für Online-Presseverlage ein. Es wird allgemein als Fehlschlag betrachtet. 16/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
2015: Die spanische Regierung führt einen neuen, unerlassbaren Urheberrechtszusatz für Presseverleger ein. Google entfernt spanischen Nachrichten von Google News. Kleinere Verlage trifft das neue Gesetz unverhältnismäßig schwerer. 17/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
2016: Die EU-Urheberrechtsrichtlinie schlägt einen neuen EU-weiten Urheberrechtsschutz für Presseverleger vor – die Schaffung einer #linktax auf Nachrichten. #Artikel11 18/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
2019: Die #Urheberrechts-Reform der EU ist fasst am Ende angelangt, basierend auf einer letztendlich sehr deutschen Vorstellung von der Bedeutung von Nachrichten: Als wachsende Einnahmequelle für große Presseverleger die ihr Informationsmonopol weiter ausbauen können. 19/26
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Ein entsprechendes #Urheberrecht für Presseverleger wurde immer wieder international vorgeschlagen – und immer wieder ABGELEHNT, da der Zugang zu Nachrichten ein wertvolles öffentliches Gut ist und Informationen keine künstlerische Schöpfungen sind. 20/26#copyright #Artikel11
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
In Kürze werden wir ein verwandtes #Urheberrecht erhalten, das Presseverlagen mehr Kontrolle über den Informationsfluss und Verbreitung von Nachrichten im Internet geben wird. 21/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Der Grund: technologischer Wandel und die Notwendigkeit, Investitionen zu schützen. Die gleichen Gründe die schon 1850, 1886, 1908, 1925, 1948, 1967 vorgebracht wurden. Und doch hat die Presse all dies überlebt. #Urheberrecht 22/26#copyright #Artikel11 #SaveYourInternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Dies ist ein historischer Überblick wie die Lobby der deutschen Presseverleger seit anderthalb Jahrhunderten konsequent für ein Monopol auf Nachrichten und Informationen einsetzen haben #Urheberrecht 23/26#copyright #Artikel11 #saveyourinternet
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Und jetzt, im Jahr 2019, wird ihr feuchtester Traum in Erfüllung gehen. Information ist Macht: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit. “- George Orwell 1984 #Copyright #Artikel11 24/26
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Quellen: Tworek, Heidi J. S. 2014. “Journalistic Statesmanship: Protecting the Press in Weimar Germany and Abroad.” German History 32(4):559–78. 25/26
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Quellen: Die Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst von 1886 bis 1986, herausgegeben von der Weltorganisation für geistiges Eigentum, Genf 1986. 26/26
— Ásta Helgadóttir (@asta_fish) 6. März 2019
Kommentare
Hollywood-Interviews, RWEs „Sorry“, VDS-Wutbürger und -Witzfiguren – Legaltime 8. März 2019 um 9:31
[…] 5. Der Kampf der deutschen Verlage gegen die Presse- und Meinungsfreiheit im Wandel der Zeit(indiskretionehrensache.de, Thomas Knüwer)Das Jammern der Verlage über den Medienwandel hat anscheinend eine lange historische Tradition: Bereits 1850 hätten deutsche Presseverleger ein Urheberrecht auf Nachrichten durchsetzen wollen, weil angeblich das Telegramm ihr Geschäftsmodell ruiniere. Die ehemalige isländische Parlamentsabgeordnete Asta Helgadottir hat in einem Twitter-Thread zusammengetragen, welche Argumente über die folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte noch bemüht wurden. Medienexperte Thomas Knüwer empfiehlt: „Wenn also das nächste Mal ein Chefredakteur oder Verlagsgeschäftsführer vom bösen Internet jammert oder über Urheberrechtsverletzungen klagt (die im Fall von Nachrichten übrigens vor allem in der Fantasie dieser Personen vorkommen), dann zeigen Sie ihm diesen Thread.“ […]
Alex 10. März 2019 um 17:33
Sie habe doch Vollkommen Recht: Verhinderung statt Anpassung und Innovation – ist keine aktuelle Strategie der Medienkonzernen.
Harald Möller 11. März 2019 um 14:47
Ich finde, derjenige, der Geld mit Musik, Nachrichten usw., die er nicht selber produziert hat, verdient, sollte einen bestimmten Prozentsatz des Umsatzes an den Produzenten zahlen. Leute, die dieses nur aus Spass an der Freude tun, ohne Geld dafür zu erhalten, sollten nichts zahlen.
Thomas Knüwer 14. März 2019 um 19:43
@Harald Möller: Mit Verlaub – ich würde zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Thema raten. Denn es geht hier um das Urheberrecht. Das Urheberrecht aber hat auch bei Nachrichten immer der Autor – nicht der Verlag. Letzter bekommt nur das Nutzungsrecht. Auch weiß ich nicht, was sie mit "Spaß an der Freude" meinen. Menschen haben schon immer Inhalte geteilt, ohne zu zahlen – Mixtapes, zum Beispiel.
Das Thema ist weitaus komplexer.
Digitalsteuer: Wie Deutschland es wieder einmal verhorstet hat – Euro Journal 13. März 2019 um 14:11
[…] das andere. Gerade die deutschen Verlage aber können das nicht akzeptieren, sie haben eine lange, seit 1850 währende Tradition, sich gegen technische Realitäten zu […]
Lesenswerte Links – Kalenderwoche 11 in 2019 – Ein Ostwestfale im Rheinland 15. März 2019 um 8:01
[…] Der Kampf der deutschen Verlage gegen die Presse- und Meinungsfreiheit im Wandel der Zeiten von Thomas. […]