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  1. Warum sind so viele Trendvorschauen, die von Dezember an erscheinen, so langweilig?

Ich glaube, weil sie gar nicht durchdacht geschrieben werden. Mit wenig Vorlauf versuchen Autoren und/oder Interviewpartner irgendwas rauszuhauen, was spannend klingen könnte. Und so werfen sie das ein, was sie sich besonders wünschen oder was sie exzeptionell befürchten.

Seit 2010 versuche ich das anders zu halten. Mit Hilfe der Haystack-Methode von Trendforscher Rohit Bhargava sammele ich das ganze Jahr über Schnipsel, Artikel und Gedanken. Rund um die Jahreswende versuche ich dann aus diesem Gesammelten logisch erscheinende Trend-Linien zu erarbeiten.

Wie immer halte ich auch nach, wie gut oder schlecht meine Prognose im Vorjahr waren. Hier ist mein Zeugnis der 2023er Vorhersagen:

Begriff des Jahres: Generative KI

Klingt jetzt nach einem Easy Catch, aber nur noch mal zur Erinnerung: ChatGPT wurde erst am 30. November 22 für die Öffentlichkeit freigeschaltet.

1 Punkt für mich

Digitalmarketing wird salesgetrieben

Leider ja – 2:0

DeFi Domino Day

Eigentlich hatte ich eine Kettenreaktion im Bereich der dezentralisierten Finanzwelt erwartet. Das ist nicht so stark eingetreten, wie ich das erwartet hatte – obwohl die Anklage gegen Sam Bankman-Fried in Netflix-kompatiblen Anekdoten in die Öffentlichkeit gebracht hat, welche Methoden in der Szene so Alltag sind. Immerhin: Einige hat es erwischt, nachzulesen im wunderbaren Blog Web3isjustgoinggreat.

Halber Punkt Ok? 2,5:0,5

Blockchain-Ernüchterung

Leider nein. Die Kurse schwankten zwar, aber es gibt noch immer genügend Leichtgläubige, die hinter Bitcoin ein ernstzunehmendes Finanzkonstrukt erwarten. Nun soll es sogar ETF auf Bitcoin in den USA geben. Gut, es gibt ja auch Leute, die im Casino reich werden möchten.

Kein Punkt: 2,5:1,5

Startup-Sterben

Da hatte ich leider recht, sowohl was Europa als auch Übersee betrifft. Zu den abgestürzten Helden gehören Social Chain, Xpay, Allmyhomes, Comgy, Clevershuttle und Mädchenflohmarkt. „Startup-winter is upon us“, schriebe Morning Brew im Dezember. 

Nachtrag vom 5.1.24: Weltweit lagen die Startup-Investments so niedrig wie seit 5 Jahren nicht mehr. 

3,5:1,5

Innovationsfundament

Jene Startup-Trudeleien, glaubte ich, würden die Basis legen für spannende, wirklich innovative Ideen.  Vielleicht ja, an die Öffentlichkeit gedrungen ist aber nichts, was ich darunter werten würde.

3,5:2,5

Kulturkampf ums Home Office

Den Punkt würde ich mir schon geben. Die Konfliktsituation ist da: Arbeitgeber wollen ihre Leute zurück ins Büro haben, wenn auch meist nicht zu 100%. Rein rational wäre mehr Büropräsenz nicht nur für die Unternehmen besser, sondern auch für die Angestellten selbst, sagen Studien. Doch die Vehemenz, mit der selbst wissenschaftliche Erkenntnisse abgelehnt werden, zeigt: Es geht hier tatsächlich um einen Kulturkampf.

4,5:2,5

Filterblasen-Liebe

Neue Social Media-Plattformen würden wir sehen, behauptete ich, die dafür sorgen, dass Nutzerinnen und Nutzer in ihren Filterblasen bleiben und nicht gestört würden. Das war richtig – und falsch. Denn mit Whatsapp-Kanälen und Insta-Broadcast-Channels ist genau das passiert, nur eben bei vorhandenen Plattformen.

Ich persönlich halte sehr wenig davon, sich in solchen Filterblasen zu bewegen und sich von anderen Gedanken und Kulturen abzuschirmen. Doch wie wenig selbst vernünftig denkende Menschen mit anderen Lebensentwürfen zu tun haben wollen, zeigen die Reaktionen auf Threads. Dort erhitzen sich dann Menschen darüber, dass sie mit einem Mal Influencern begegnen. Und sie tun so, als sei das eine Beleidigung ihres majestätischen Status.

Halber Punkt, finde ich: 5:3

Problembär: Junge Männer

Mehr aggressive junge Männer, würden wir sehen, war meine Idee. Und die würden den rechten Parteien Zustrom liefern. Wer da Zweifel hegt, kann sich ja mal die Videos vom Feuerwerksverkauf in diesem Jahr anschauen und versuchen, die Frauenquote im Bild zu berechnen. Ein signifikanter Teil junger Männer sucht jede Möglichkeit, um lautstark überkommene Männlichkeits-Klischees auszuleben. Diese jungen Männer sind in ihrer Symbolik stark deckungsgleich mit undemokratischen und faschistischen Signalen.

6:3

Woke-Backlash

Aber so was von. Nicht nur in konservativen Kreisen haben sehr viele Menschen von der Aggressivität der jüngeren Generation die, verzeihen Sie die Wortwahl, die Schnauze voll. Wenig hilfreich waren dabei Greta Thunbergs merkwürdige Palästina-Äußerungen und die ausufernde toxische Wokeness im digitalen Raum.

7:3

Das große Printmedien-Sparen

Treffer. Bei Gruner + Jahr machte der Sensenmann ebenso die Runde wie bei Axel Springer, wo allein bei „Bild“ über 200 Menschen ihre Arbeit verloren. „Focus“ ließ Teile seiner Redaktion umziehen, ein besonders perfides Sparmittel. Die Busch Group dagegen jonglierte auf abenteuerliche Weise zwischen Zukäufen und Insolvenzverfahren, machte die „Hamburger Morgenpost“ von der Tages- zur Wochenzeitung, der „Buchreport“ ging komplett unter. Die „Ostthüringer Zeitung“ versucht derweil möglichst viele Leser auf digital zu trimmen und das „Bocholt-Borkener Volksblatt“ wurde an den Lensing-Verlag verkloppt – und das sind nur einige Beispiele.

8:3

Neue Influencer-Generation via TikTok

Ja, definitiv. TikTok ist die neue Schmiede für kreative Menschen im Web.

9:3

Rogue Geoengineering

Glücklicherweise eine Fehlprognose. Das Thema aber bleibt weiter sehr, sehr spannend und für meinen Geschmack zu wenig beobachtet von deutschen Medien. Wer mehr erfahren möchte: Der „Economist“ hatte sich jüngst dem Solar Geoengineerings angenommen.

Endstand: 9:4 – ich persönliche nenne das ein „Hammer-Ergebnis“, sie dürfen das aber gern anders sehen, liebe Lesenden. 

Und somit rufe ich ohne viel Getue auf die Bühne:

Die Glaskugeligen Kaffeesatzlesereien 2024!

2023 war das Jahr, in dem ein Großteil der Menschen in der westlichen Welt realisierten, dass sie eine Künstliche Intelligenz nutzten. Tatsächlich taten sie das natürlich schon länger, zum Beispiel bei Videospielen, Google Maps oder Siri – aber da hatte ihnen das ja keiner gesagt.

Auch 2024 wird uns Generative KI beschäftigen. Die futuristischen Visionen, die derzeit aber schon für die nahe Zukunft gesponnen werden, gehe ich nicht mit. Trotzdem wird es viel zum Thema KI geben – damit dies den Artikel hier aber nicht überlagert, fangen wir erstmal mit allem an, was nicht mit Artificial Intelligence zu tun hat…

Instant Reality Social Media

Vor einigen Tagen schrieb ich am Beispiel der Ultimate World Cruise schon, dass dies für mich einer der öffentlichkeitswirksamsten Digitaltrends werden wird.

Royal Caribbean Cruise Lines vessel Serenade of the Seas arrives in Seattle July 17, 2021

Wir werden 2024 verstärkt Momente sehen, in denen irgendwo etwas passiert, was Menschen interessiert. An diesen Orten werden Nutzerinnen und Nutzer Inhalte produzieren und so Teil einer ad-hoc entstehenden Weiterentwicklung des Reality-TV-Konzeptes im Social Web werden – inklusive externer Berichterstatter und einer Tribalisierung rund um diese Inhalteproduzenten. 

Messenger-Marketing boomt in Deutschland

Wir werden 2024 sehr viel Marketing über Messenger-artige Funktionen sehen.

Das liegt maßgeblich an den neuen Funktionen aus dem Meta-Reich. Sie spielen jenen deutschen Marketing-EntscheiderInnen in die Karten, die alles tun, um nicht mit ihren KundInnen kommunizieren zu müssen – und leider ist deren Zahl groß. Denn weder Whatsapp-Kanäle noch Instagram Channels sind ja echte Kommunikation, sie sind einfach Sendung und das blöde Kundenvieh kann sich nicht aufregen oder beschweren.

Gefeiert wird das dann als „Community“, obwohl es das Gegenteil ist. Ein Beispiel für das, was kommt, konnte man jüngst bei Turi2 nachlesen. Dort sagte Mario Bertsch, der Digitalmarketing-Verantwortliche der Drogerie-Kette DM: „Wir möchten mit der Community authentisch kommunizieren.”

Natürlich verwendet auch er den Begriff „authentisch“ als Ausrede für schlechte Fotos, Texte auf Grundschul-Niveau und Ideen, deren Produktion hoffentlich nicht länger als 243 Sekunden gedauert hat, aber von Bertsch allen Ernstes als „gehaltvoll“ bezeichnet werden.

Das sieht dann so aus:

Wow! Von 630.000 Menschen, die den Kanal abonniert haben, lassen sich so im Schnitt 1 bis 3 Prozent dazu hinreißen, ein vorgegebenes farbiges Herzchen zu touchen.

Wobei im Fall von DM die Kritik die Falschen trifft. Denn die Drogerie ist ja eine der ganz wenigen Großmarken in Deutschland, die auf zum Beispiel Instagram Bedeutung haben (siehe dazu auch das aktuelle OMR-Ranking) – und zwar, weil sie dort genau anders agieren und vor allem: kommunizieren.

Solche Funktionalitäten spielen der Grunddeformation des deutschen Marketings in die Karten. Dieses hat sich längst devot dem Vertrieb ergeben, es geht nur noch um Sales, Sales, Sales – und dann wundert man sich, wenn die Preisbereitschaft der VerbraucherInnen sinkt, man sich mit dem Handel Händel liefert und coolere Marken aus dem Netz den eigenen Markt aufräumen.

Heißer Scheiß: Apple Vision Pro

Glauben wir den üblicherweise gut informierten Analysten, so wird Apples Mixed-Reality-Brille Vision Pro im Februar starten. Dabei wird es nur in den USA rund 500.000 Stück geben. Es ist keine Knaller-Prognose, wenn ich behaupte, dass die ausverkauft sein werden.

Doch was kommt danach? Auch weiter glaube ich: nicht viel. Aktuell sehe ich keine Anwendung, die ein Delle ins Universum schlagen wird. Die Vision Pro wird den Alltag von Singles sicher bereichern, mehr wird 2024 aber auch nicht passieren.

Die erste Runde Vision Pro wird sich verkaufen wie geschnitten Brot – die zweite in den USA schon nicht mehr. Noch 2024 werden wir deutsche Medien erleben, die das Gerät zum Flop erklären. 

Heißer Scheiß II: Pre-Internet-Traditionsmarken

Sollten Sie die fantastische Serie „The Bear“ noch nicht gesehen haben – tun Sie es. Vielleicht haben Sie dann auch den Drang, ein so perfekt sitzendes, weißes T-Shirt zu besitzen, wie Hauptfigur Carmen Berzatto.

Foto: fx/hulu

Rund um diese Shirts ist ein weltweiter Hype entstanden. Das „New York Magazine“ (Abo übrigens auch mal empfohlen – die schreiben Geschichten, die sonst keiner macht, und, Junge, können die schreiben!) hat recherchiert und zwei Hersteller eruiert. Einerseits die Hipster-Marke Whitesville, die aufgrund der Erwähnung Lieferprobleme bekam, andererseits die deutsche Marke Merz B. Schwanen.

Die hat eine lange Tradition – oder auch nicht. Die Traditionsmarke Merz war 2008 am Ende. Die Designer Gitta und Peter Plotnicki erwarben aber die Markenrechte. Sprich: Eigentlich hat das heutige Merz b. Schwanen nichts mit seinen Wurzeln gemein außer dem Namen – aber es wirkt sehr historisch.

In einer Zeit, da sich alles so schnell zu verändern scheint, kein Stein auf dem anderen bleibt und Grundfesten erschüttert werden, sehnen sich die Menschen nach physischen Gegenständen, die aus ruhigeren Zeiten zu stammen scheinen und deshalb eine vermutet höhere Qualität haben. Dieses Begehren ist besonders stark in der Generation Z. Weshalb altväterliche und -mütterliche Kleidung im Stil des englischen Landadels beim Sport einer der Modetrends 2024 werden wird.

Ein anderes Beispiel dafür ist die Thermoskanne von Stanley:

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

Ein Beitrag geteilt von NowThis (@nowthis)

2024 haben Marken eine Chance, die es schaffen, solch eine historische und deshalb scheinbar handwerkliche Anmutung zu schaffen. Und dabei ist es egal, ob diese Anmutung sich mit der Realität deckt.

Threads wird Alltag, Twitter stirbt noch nicht

Der Start des Meta-Twitter-Klons Thread in Deutschland war ein spannendes Experiment. Denn im Grunde spielten viele, die beim Twitter-Durchbruch dabei waren, das Ganze nochmal durch – nur mit mehr Vorwissen und gesetzten Erwartungen.

Wie sehr sich mittelalte Menschen darüber erhitzen, dass es Influencer nicht nur gibt, sondern sie auch in ihre Timeline gespült werden – so heftig artikulierte Majestätsbeleidigungen gab es zuletzt wahrscheinlich beim Fall des Habsburger-Reichs.

Threads ist insgesamt ein gut konzipiertes Produkt. Fast ein wenig, als hätte sich das Twitter-Management tatsächlich mal für die Weiterentwicklung der Plattform interessiert.

Doch wenn irgendwo etwas passiert, dann ist Twitter noch immer der Ort, wo diese Nachrichtenlage am ehesten zu erforschen ist. Deshalb glaube ich auch nicht, dass Twitter 2024 sterben wird (erst recht nicht, wenn man sich vor Augen hält, wie oft Medien Twitter nun schon für Kurz-vor-dem-Exitus gehalten haben). Musk wird versuchen, seine Kreditverträge neu zu verhandeln und ich würde tippen, das wird auch funktionieren.

Sprich: Threads wird leben, Twitter nicht sterben

Distanzierte Gesellschaft

Die Kritik an InfluencerInnen auf Threads zeigt eine ungute Entwicklung in unserer Gesellschaft. Selbst aufrechte Demokraten haben keine Lust mehr auf andere Meinungen oder diverse Lebensentwürfe – auch wenn sie das Gegenteil behaupten.

So driftet unsere Gesellschaft weiter auseinander. Und da, wo wir uns begegnen, zeigt sich, wie wenig wir es noch gewohnt sind, ganz andere Menschen zu treffen und vielleicht auch noch Verständnis für sie zu haben. Deshalb müssen Flughäfen rund um den Globus um etwas bitten, was selbstverständlich sein sollte – Respekt vor ihrem Personal:

Dies wird weiter dadurch befeuert, dass wir in drei Bereichen Orte verlieren werden, an denen wir mit Menschen anderer Couleur zusammenkommen:

  • Büros: Auch wenn der große Home Office-Hype abklingt, so sind Büros eben ein Stück weit weniger ein Treffpunkt unterschiedlicher Menschen.
  • Kinos: Nicht jeden Sommer ist Barbenheimer. Dafür kommt jetzt ein Loch, dass durch die Streiks von Autoren und Schauspielern entstanden ist. 2024 werden wir ein Kinosterben sehen.
  • Gastronomie: Schon jetzt schließen Restaurants. Die wieder erhöhte Umsatzsteuer wird die Preise derart nach oben bringen, dass dies erst der Anfang ist.

2024 ist das Jahr, in dem wir Orte verlieren werden, die Schmelztiegel unseres Zusammenlebens darstellen. 

Peak Abos

Seit längerem ist absehbar, dass Verlage irgendwann einen Punkt erreichen, an dem ihre härteste Stammklientel mit Abos versorgt ist. Sieht man sich die Kurven in Deutschland wie in den USA an, haben wir diese Phase erreicht.

Nun müssen die Medienkonzerne lernen, wie man Abo-Einnahmen im Alltag steuert. Und das bedeutet, sie müssen Rabatte so lenken, dass sie neue Kunden locken, die alten halten und gleichzeitig keinen Ärger erzeugen, weil sich Stammkunden mit höheren Preisen angesichts der diskontierten Angebote über den Tisch gezogen fühlen.

Das ist umso schwerer, je weniger durchdigitalisiert Geschäftsprozesse sind. Was im Fall der Verlage bedeutet: Es wird sauschwer.

Wenn Abos erst freigegeben werden müssen, weil irgendwo irgendwer was eintippen muss, wenn Abos erst gekündigt werden, weil man fünfmal (ich denke mir das nicht aus) „Ich will wirklich kündigen“ klicken muss, wo Leser mit Kleingedrucktem in Abo-Fallen (wie bei der „Süddeutschen Zeitung“ – siehe Screenshot) gelockt werden – dann ist der Zorn der Kundschaft absehbar und damit ein Einnahmenproblem.

In diesem Jahr werden Verlage sehr viel darüber klagen, dass sie nicht genügend Abos verkaufen. Deren Preise werden sinken, während gleichzeitig die Verlage weiter sparen.  

CRISPR wird Schwurblers Liebling

Kaum eine Technologie ist für Laien schwerer zu verstehen als die Gen-Schere CRISPR. Vielleicht ist das der Grund, warum sie in den Medien bislang nicht so überbordend gefeiert wurde, wie sie das eigentlich verdient hätte. Ende 2023 wurde die erste, auf CRISPR beruhende Therapie gegen Sichelzellen-Anämie in den USA und in Großbritannien freigegeben.

2024 werden etliche CRISPR-Heilmethoden ein so marktnahes Stadium erreichen, vielleicht gar zugelassen. Und damit wird CRISPR und das Biotech-Unternehmen CRISPR Therapeutics zum Nummer 1-Thema der deutschen Verschwörungsschwurbler werden. OK, bis zur US-Wahl natürlich – dann gibt es ja neuen Wahnsinn zu erspinnen.

Und damit – zur Künstlichen Intelligenz.

GenAI tritt auf die Bremse

Wir Menschen sind irrwitzig schlecht darin, exponentiell zu denken. Ebenso schlimm: Wir denken viel zu sehr linear und zu wenig vernetzt, was in einer vernetzten Welt in die falsche Richtung führt (mehr dazu unter diesem Link).

Deshalb wird aktuell so getan, als ob die Entwicklung Generativer KI munter so weiter geht. Übersehen wird dabei, dass GenAI eine Technologie ist, die immens viel Rechenleistung, Speicherkapazität und Bandbreite erfordert. Nun mangelt es daran nicht, nur kostet es eben Geld.

Über welche Summen wir reden, schrieb der Dealbook-Newsletter der „New York Times“ am 30. Dezember:

„Das französische KI-Startup Mistral AI – ein europäischer Konkurrent von OpenAI – sammelte 2023 mehr als eine halbe Milliarde Dollar. Mehr als 200 Millionen Dollar kamen von dem Silicon Valley Venture-Capital-Riesen Andreessen Horowitz in einer Finanzierungsrunde, die Mistral, gerade einmal sieben Monate alt, mit 2 Milliarden Dollar bewertete.

Aber selbst das könnte nicht ausreichen, um eine Art Allgemein Generatives KI-System wie es ChatGPT bauen will und das Mistral im Sinn hat, anzutreiben. „Es wird deutlich, welche riesigen Summen an Geld nötig sind, um wettbewerbsfähig zu sein“, sagte (Matt) Clifford (der Organisator des britischen AI-Summit). „Wenn man ein allgemeines Modell bauen möchte, könnte es sein, dass der benötigte Kapitalbedarf so groß ist, dass es für traditionelles Venture-Capital sehr schwierig wird.“

Dies ist aber nur einer der Punkte, der die GenAI-Entwicklung abbremsen wird. Genauso wird es regulatorische Änderungen geben und wie die Gerichte in Sachen Urheberrecht entscheiden ist ebenfalls offen.

2024 werden wir deshalb hektische Finanzierungsrunden und ein erstes Aussieben der Anbieter sehen. Ein GenAI-Startup zu sein, muss man sich ab einer gewissen Größe leisten können. Das neue Jahr wird die KI-Euphorie signifikant abbremsen.

Branchenvokabel des Jahres: Augmentation

Die steigenden Preise in Sachen Technik werden einen Strategiewechsel auslösen. Wenn klar ist, dass nicht alle überleben, gilt es Marktanteile zu erobern. Dabei ist der Markt weniger das, was wir derzeit sehen, also das Öffentlich-Stellen von AI-Modellen.

Viel wichtiger wird es sein, die Modelle in Funktionalitäten einzubetten, so wie Microsoft das in den USA schon mit seinem Copilot macht. Dieses Einbinden ist die Augmentation, wobei dieser Begriff noch sehr weit definiert wird.

2024 werden sich die GenAI-Anbieter zuvorderst darum kümmern, ihre Technologie in möglichst vielen Bereich einzubinden und erst zweitrangig die Qualität ihrer Modelle zu verbessern – sowohl in Unternehmen als auch, zum Beispiel mit der Ankündigung persönlicher Assistenten, bei privaten Nutzern.

Überhastete KI-Investitionen

Technologie ist zum Ego-Booster des Top-Managements geworden. Leider hat dies nicht dazu geführt, dass Top-Entscheider in der Breite technologiekompetenter geworden sind. Erst war es eine blinkende Homepage, dann SEO-Ergebnisse, Follower im Social Web, Big Data-Projekte, NFT oder Metaverse-Präsenzen – sehr viel davon wurde angegangen, weil man das Gefühl hatte, es tun zu müssen, und ohne verstanden zu haben, warum. Das ist menschlich verständlich. Manchmal geht es im Rahmen einer großen Organisation eben auch darum, seine Machtposition durch kommunikationsträchtige Initiativen auszubauen, um später andere Projekte reibungsloser verwirklichen zu können.

Oft ist das Pushen einer Technologie leider nur die Gemächtsverlängerung eines CEO. Wenn Mathias Döpfner nun zum Beispiel behauptet, Axel Springer werde alles auf KI setzen, ahne ich schon belustigende Entwicklungen, nachdem er selbst öffentlich demonstriert hat, dass er die Funktionsweise von GenAI nicht verstanden hat. 

Nun hat Generative KI tatsächlich immenses Potential. Doch höre ich bereits von kundigen UnternehmensvertreterInnen, dass ihre Chefs die Technologie so handhaben, als sei sie ein LinkedIn-Profil. Zum Beispiel die Forderung, eigene LLM-Modelle zu entwickeln: Sie wirkt, als seien jene immensen Summen, die derzeit in Investitionsrunden fließen, nicht durch tatsächlichen Finanzbedarf gedeckt. Sind sie aber. Und deshalb übersteigt die Entwicklung eigener Modelle die Möglichkeiten der allermeisten Unternehmen.

Letztlich werden Unternehmen auf vorhandene Foundation Models zurückgreifen und diese für sich adaptieren.

Dabei sind die Erwartungen oft überzogen, auch weil eben das Verständnis der Funktion fehlt. Zum Beispiel werden wir die Implementierung Augmentierung von GenAI im Bereich des Wissensmanagements erleben. Es ist eine offensichtliche Idee: Man macht das gesamte Wissen eines Unternehmens zugreifbar, so dass jede/r, egal ob im Call Center oder im Controlling, in menschlicher Sprache Fragen stellen kann.

Allein: GenAI-Systeme sind nicht dafür konzipiert worden, zuvorderst korrekte Antworten zu geben. Das tun sie trotzdem sehr häufig, aber sehr häufig ist ein Problem, wenn die Justiz ins Spiel kommt. Gibt ein Call Center-Mitarbeiter zum Beispiel eine falsche Antwort, die das zugehörige Produkt beim Kunden explodieren lässt, wird dem Gericht sehr egal sein, wie die Antwort entstanden ist – das Unternehmen haftet.

Abhilfe schaffen soll eine Technologie namens

Retrieval Augmented Generation (RAG).

Und damit wir uns das schon mal merken, habe ich es gefettet. RAG KI erkennt gewisse Informationen als gegeben an und lässt diese unverändert. Allerdings steht diese Technik am Anfang und erfordert eine hohe Datenqualität.

Aktuell steht es aber noch schlecht um die Korrektheit von Daten. Wer zum Beispiel ein OpenGPT mit ChatGPT baut, kennt das, was Romanautor Tom Hillenbrand erlebte: Obwohl er ein Buch per PDF ins System einfütterte, war der GPT nicht in der Lage, einfache Fragen zu beantworten – nachzuhören im höchst unterhaltsamen Podcast „Schreiben & Schreddern“:

2024 werden wir viele GenAI-Projektankündigungen von Unternehmen erleben. Von diesen Projekten werden wir dann aber nicht mehr viel hören, weil die Einstellung solcher Vorzeigeobjekte selten per Pressemitteilung verkündet wird. 

Was kommt: AI Engine Optimization

SERP steht für Search Engine Result Page und ist eine wichtige Abkürzung im Jahr 2024. Schon seit einigen Jahren hat Google die SERP maßgeblich verändert. Früher gab es eine Liste von Links als Suchergebnis, heute Kästen mit konzentrierten Informationen. Diese Entwicklung wird sich verstärken.

2024 werden Google und Bing als erstes Suchergebnis in vielen Fällen eine KI-generierte Antwort, also: eine richtige Antwort, statt Links liefern. 

Das wird den organischen Traffic auf vielen Seiten – Nachrichten-Sites, Unternehmens-Homepages, Wikipedia – signifikant sinken lassen.

Und das wird die Profession der Suchmaschinenoptimierung signifikant verändern. Gegen Ende des Jahres 24 wird AI Engine Optimization zum spannenden Thema werden. 

Renaissance des Surrealismus

Jede in der Masse verbreitete Technologie verändert unsere Wahrnehmung. Und dies wird auch GenAI im Bildbereich tun. Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Dall-E oder App-Filtern haben dafür gesorgt, dass surreale Bildmotive und die eigene Veränderung in Richtung surrealer Portraits die bestimmende Optik des Jahres 2023 geworden sind.

Dall-E hat aus einem Portrait von mir und der Aufforderung dieses surreal zu verändern das hier gemacht. Ich finde das… surreal.

2024 werden wir ein neues Interesse an allem rund um Surrealismus erleben – von Optiken über Mode bis zur Kunst. Zeitgeistbewusste Marketing-Kampagnen werden sich in diesem Feld ebenfalls bedienen. 

Und damit schließe ich mal die Prognosen für das neue Jahr. Manches davon wird schwer überprüfbar werden, aber da schauen wir mal im kommenden Januar.

Bis dahin freue ich mich sehr über Kommentare in den Kommentaren!


Kommentare


Alexander Labinsky 4. Januar 2024 um 23:15

Also ich weiß nicht, ob das mit dem Home Office wirklich ideologiegetrieben ist oder nicht einfach ein Almende-Dilemma. Ja, klar wäre es besser für die UNTERNEHMENSPRODUKTIVITÄT wenn alle regelmäßig im selben Büro sind und neue Ideen generieren. Aber für meine INDIVIDUELLE LEBENSQUALITÄT ist halt der Verzicht auf die zwei Stunden Pendelei dann doch attraktiver und mein vorgegebenes Arbeitspensum (das die möglichen Aufgaben, die aus den neuen Ideen entstehen, logischerweise nicht mitberücksichtigen kann) kriege ich auch runtergeschrubbt inklusive nebenbei die Wäsche waschen. Da gewinnt also am Ende der individuelle Vorteil über den gesellschaftlichen Vorteil, für den ich aber verzichten müsste, wissenschaftliche Erkenntnisse hin oder her. So, wie ich auch davon ausgehe, dass die meisten protestierenden Bauern nicht wirklich ideologisch verbohrt davon ausgehen, dass Landwirtschaft nur dann eine Zukunft hat, wenn möglichst viele Kleinbetriebe möglichst viel Diesel möglichst billig beziehen können, um sich möglichst noch ein Jahr irgendwie gegen Agrarkonzerne behaupten zu können. Aber trotzdem sind sie im Moment des Wegfalls wohl kaum daran interessiert, über die Effizienzsteigerungen durch industrialisierte Großbetriebe, Vertical Farming, den Klimawandel, die Höhe von Agrarsubventionen am EU-Budget und andere interessante wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskutieren, die Subventionen für Agrardiesel als eher fragwürdig erscheinen lassen…

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Thomas Knüwer 5. Januar 2024 um 9:19

@Alexander Labinsky: Wenn Sie den Eindruck haben, dass für mich Unternehmenskultur mit Ideologie zu tun hat, dann habe ich mich leider nicht verständlich genug ausgedrückt. Unternehmenskulturen entstehen, oft genug unbewusst, und das über lange Zeiträume. Der Begriff der Ideologie beinhaltet für mich einen Rahmen, der ein aktives Formen nach sich zieht – das aber ist nicht gemeint.

Wenn Sie schreiben, dass Ihre gefühlte Lebensqualität ansteigt, so ist dies kurzfristig vielleicht der Fall. Aber wie ich in meinen längeren Artikel schon schrieb: Wir Menschen sind irrwitzig schlecht darin zu erkennen, was gut für uns ist. Arbeit im Büro gibt uns ein Raster vor und genauso gibt uns die Zielerreichung bei der Arbeit eine ständige Bestätigung. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind. Wenn Sie aber vom "Runterschrubben" des "Arbeitspensums" schreiben, und nicht nahe der Rente sind, erlauben Sie mir als 54 Jahre altem Sack eine Prognose: Das wird ne üble Midlife-Krise werden. Denn werden Sie auch in 10 Jahren noch damit OK sein, ein Pensum zu schrubben?

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Alexander Labinsky 8. Januar 2024 um 12:09

@Thomas Knüwer: Keine Sorge, das war ein Erzähler-Ich, um die Argumentationslinie zu überspitzen – prinzipiell bin ich (Millenial) bei Ihnen, schon allein aus der simplen Beobachtung heraus, dass es "das Allheilmittel", egal in welchem Zusammenhang, nicht gibt. Klar, ich beschwere mich nicht darüber, dass ich jetzt flexibler agieren kann, aber man muss kein Arbeitspsychologe sein um zu erkennen, dass die Vereinzelung im Home Office aus Organisationssicht nicht gut sein kann: Wenn ich sowieso nur Einzelkämpfer bin, kann mir natürlich auch herzlich egal sein, wie es meiner Firma geht, denn die ist dann nur noch ein Eintrag im LinkedIn-Profil. Am Ende ist die militante Forderung nach Home Office nur ein weiterer Schritt im Umbau unserer Gesellschaft in eine Sammlung von Individuen, die sich gegenseitig nichts mehr schuldig sind, sondern ihr Leben maximalindividualistisch durchoptimieren. Womit wir ja auch wieder bei Ihrem Punkt der Distanzierten Gesellschaft sind – wie soll auch eine Gesellschaft zusammenfinden, der auf die Frage, wozu wir den ganzen Klimbim eigentlich veranstalten, nichts besseres einfällt als ein Schulterzucken? Egal, ob Home Office, Schuldenbremse, Migration oder Klimawandel – eine Vision, wo das Ganze hinführen soll und welche Zukunft man sich von den Maßnahmen verspricht, habe ich bisher noch nicht gehört. Das Narrativ "Damit es unsere Kinder einmal besser haben" scheint aktuell jedenfalls niemand mehr ernst zu nehmen. Daher wäre meine Zukunftsprognose: Wir werden wieder mehr von alternativen Gesellschaftsmodellen hören – ob die nun spannend oder gruselig werden, sei mal dahingestellt, aber unser aktuelles Gesellschaftssystem ist qua "Alternativlosigkeit" in der Krise und irgendwer wird in der Lage sein, den Menschen etwas hinzuwerfen, was sie wieder zum Träumen anregt…

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Ulf Maan 8. Januar 2024 um 15:31

VR Brillen wie Apple haben meiner Meinung einen bisher nicht beachteten Mehrwert: es kann ein Teil des Wohnungsproblems lösen
wenn man sich in eine kleine Wohnung per Mixed Reality ein gigantisches Kino, Screens, ineTischtennisplatte oder Modelleisenbahnen, etc. erschaffen kann, werden kleine, günstige, energieverbrauchsmässige sparsame Wohnungen möglicherweise deutlich attraktiver

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Thomas Krabbe 17. Januar 2024 um 2:20

Danke Thomas, dass Du das gute alte Bocholter Borkener Volksblatt in Deiner Kaffesatzleserei erwaehnt hast!
Mir hat Deine 2023 Abrechnung insgesamt sehr gefallen. 9:3 klingt wie Deutschland : Brasilien 2014. Ich faende daher noch Deine Prognose zum Abschneiden der Mannschaft bei der EM 2024 fuer angemessen.

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Thomas Knüwer 17. Januar 2024 um 9:54

@Thomas Krabbe: Bei mir gilt ja, dass ich keine unsympathischen Teams unterstütze, weshalb ich hoffe, dass der DFB in der Vorrunde krachend rausfliegt. Auf meinem Shirt dagegen sind Three Lions – und die werden es packen.

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