Kai Diekmann hat mich Idiot genannt.
Nun habe ich überhaupt keine Probleme mit Beleidigungen, bevorzuge in der Regel aber kreativere. „Idiot“, das hat mich jetzt schon ein wenig enttäuscht bei solch einem kreativen Menschen.
Zugegeben: Mein Kommentar auf seinen Tweet war provokant. Dieser bezog sich auf die Analysen im Bildblog und auf Übermedien, die nachvollziehen wie die „Bild“ eines der Erregungsleitmedien war, die jene aufgeregte Stimmung in Deutschland geschürt haben. Hier empfehle ich zur Lektüre „Die Stimmungskanone der AFD“ und „Die AFD-Gärtner wundern sich über die Fruchternte„.
Kai Diekmann konterte meinen rotzigen Tweet mit dem Link auf die Flüchtlingshilfsaktion seines Ex-Blattes. Diese Aktion ist schön. Und lobenswert. Und offensichtlich tot. Während US-Zeitungen in Krisenfällen werbefreie Sonderseiten online stellen, ist die Microsite der „Bild“ mit Adblocker nicht erreichbar. Selbst wenn dieser ausgeschaltet wird, erscheint nicht viel abgesehen von Werbebannern (ich habe dies mit 4 Endgeräten und verschiedenen Browsern probiert):
Und überhaupt ist der Versuch, all die Falschmeldungen, Verdrehungen und Hysterisierungen mit der einen Aktion rechtzufertigen, ungefähr so, als dürfe man seine Kinder schlagen, wenn man die Ehefrau gut behandelt.
Doch ist Diekmanns Reaktion ja mehr als nur ein kurzer, unhöflicher Ausbruch. Sie steht aus meiner Sicht für eine generelle Haltung im deutschen Journalismus und diese Haltung macht die Debatte über die Bedeutung der Medien beim Aufstieg der AFD so schwer.
Ich schreibe nun 12 Jahre Texte in dieses Blog und seit dem ersten Tag werde ich mit dieser Einstellung konfrontiert: Wer Journalisten oder Medien kritisiert, der kann nicht richtig liegen – und selbst wenn, dann müssen diese Journalisten oder Medien geschützt werden. Wer aber Kritik ausspricht, der wird gern als unreflektierter Kritikaster (aka „Idiot“) abgetan. 2009 schrieb ich hier in der Indiskretion:
„Mit viel Geheul warnen gerade Tageszeitungen derzeit vor ihrem eigenen Untergang. Zeitungen seien doch so wichtig, jammern sie, und haben natürlich nicht Unrecht, zumindest was den Journalismus und seine Rolle für die Gesellschaft betrifft.
Doch ist die Vehemenz mit der sie selbst beteuern, auf dem rechten Weg zu sein, von solcher Penetranz und Selbstkritiklosigkeit, dass der Rückschlag nur eine Frage der Zeit sein wird. Ein erstes Anzeichen ist es, wenn ein renommierter Medienforscher wie Otfried Jarren von der Uni Zürich in den Ring steigt. Bei Carta schreibt er:
„Ausgerechnet die Presse aber hat sich gegen eine breite Debatte über ihre Zukunft versperrt: Nur Wenige durften etwas zur Verlags- und Journalismusentwicklung sagen, und zwar in den eigenen Publikationen. Hier gibt es eine eigentümliche heimliche Koalition zwischen Journalisten und ihren Verlegern: Sie jammern über die ach so schlimmen Verhältnisse. Sie lassen aber andere nicht oder nur selten über sich sprechen. Die Presse verbot sich die Debatte in eigener Sache. Erst jetzt – in der Krise – wird mit der Debatte begonnen.“
An der beschriebenen Haltung prallt jede Form von Kritik ab, sie verhindert jedes Hinterfragen, erst recht das Sichselbsthinterfragen. Das macht das Leben bequemer und ermöglicht genau jene Frontenbildung, die unsere Gesellschaft gefährdet: Das strikte Unterteilen der Welt in die, die für einen sind, und jene, die gegen einen sind.
Das Ergebnis dieser sich in den vergangenen Jahren immer weiter verbreitenden Weltsicht sehen wir im Bundestag. Der Aufstieg der AFD ist in einem erheblichen Maß damit zu erklären, dass sie es geschafft hat, diese Frontenbildung zu fördern und für sich zu nutzen (dazu finden Sie hier einen lesenswerten Text von Michael Seemann unter dem Titel „Digitaler Tribalismus und Fake News“).
Was da passiert ist aus meiner Sicht ein typischer Disruptionsprozess. Und das skurrile ist: Die Medien selbst haben sich disruptiert. Aber: Vielleicht können sie mit den gleichen Mitteln die Situation wieder herumdrehen.
Die Disruption der journalistischen Medienwelt
Dazu muss man festhalten, dass jener Begriff gerne falsch dargestellt wird (in – HA! – den Medien). Disruption bedeutet ja nicht, dass eine neue Technologie erscheint und – WUMM – alles ist anders. Vielmehr zeichnet sich die Idee der Disruption grob gesprochen dadurch aus, dass ein neuer Anbieter auftaucht, der eine vorhandene Funktion oder ein vorhandenes Produkt in einem oder mehreren Punkten anders macht. Dabei muss er nicht erst alles überrollen. Die Frage ist eher, wann der Erfolg des Neuankömmlings ausreichend am Geschäft der bestehenden Anbieter gekratzt hat, dass deren Geschäftsmodell nicht mehr tragfähig ist.
Vielleicht ist in der Wahrnehmung der Medienkonsumenten folgendes passiert: Für den allergrößten Teil der Menschen besaßen klassische Medienmarken ein gutes Ansehen und waren das Zeit- und Geldinvestment für ihren Konsum wert.
Dann kam das Internet und mit ihm neue Anbieter, die es Menschen ermöglichten, tiefe Informationen in Bereichen zu bekommen, für die sie sich mehr interessierten als für die Felder, die Redaktionen ihnen heraussuchten.
Ein Beispiel: In meiner ersten Zeit in Düsseldorf, Mitte der 90er, telefonierte ich täglich mit meiner Mutter. Denn die „Rheinische Post“ schrieb – aus mir unverständlichen Gründen – herzlich wenig über den von mir heiß geliebten SC Preußen Münster. „Westfälische Nachrichten“ und „Münstersche Zeitung“ hatten zu dieser Zeit aber noch keinen Online-Auftritt. Deshalb durfte meine Mutter mir die neusten Nachrichten über den SCP aus der Lokalzeitung vorlesen. Nun aber kann ich Nachrichten aus der Heimat sehr einfach in meinen News-Konsum integrieren, mal abgesehen davon, dass der Club selbst alle Informationskanäle bespielt. Und jede Meldung, die ich auf der Vereinshomepage lese knabbert am Budget des Medienkonsums.
Nächster Halt: das Social Web. Hier siegen menschliche Instinkte über die Ratio, weshalb sich wieder neue Gegner für klassische Medien bildeten: die Armee der Klickhuren. Mit brutal emotionaler Ansprache erreichten sie die Menschen und das ließ die Redaktionen nicht ruhen. Doch ist man in Medienhäusern nicht gewohnt, Dinge anders zu machen als die Konkurrenz – man macht es nach (sollten sie das nicht glauben, zählen sie mal die Magazin-Titel mit dem Wort „Land“ im Namen). Und so mutierten selbst seriöse Nachrichtendienstleister zu hormongestörten Hysterikern.
Jeder Klick aber, der zu jenen neuen Emotionalmedien geht, ist eben auch ein wirtschaftlicher Schaden für die Onlineangebote der Klassiker. Die haben sich nie wirklich überlegt, welche Finanzierungsmöglichkeiten es außerhalb von Paid Content geben könnte. Und so wurden sie von einem simplen Marktmechanismus mitgerissen: Wo es immer mehr Anzeigenflächen gibt, sinkt irgendwann der Preis – erst recht, wenn man Massenwerbeanbieter wie Doubleclick einsetzt.
So disruptierte vor allem die Print-Medienwelt sich selbst. Gedruckte Objekte sind eine Technologie, die immer weniger Menschen nutzen mögen – also sinken die Verkaufszahlen und mit ihnen die Werbeeinnahmen. Online dagegen versuchten die meisten Angebote so zu sein, wie die schreienden Billigheimer. Damit ramponierten sie einerseits das Image der Marke insgesamt. Denn jüngere Menschen kommen zuerst in Kontakt mit dem, was sich da online tut. Und warum sollten sie Geld für Inhalte einer Marke ausgeben, die ihnen im Web nichts anderes bietet als das, was alle anderen tun? Andererseits kratzten sie mit Negativmeldungen an der Stimmung ihrer Leser.
Diese Entwicklungen waren absehbar und sind in zahlreichen Medienblogs so prophezeit worden. Doch wer das schrieb, durfte sich über die Jahre hinweg in verschiedenen Versionen als Idiot titulieren lassen.
Was das mit dem AFD-Aufstieg zu tun hat? Die beiden Disruptionen der Medienwelt haben dafür gesorgt, dass der Anteil ausgeruhten Journalismus am Medienkonsum Stück für Stück zurückging – das ideale Futter für eine Hysterisierung der Menschen, die der AFD in die Karten spielt.
Die Partei selbst befeuerte dies noch. Ihre absurden und oft von Hass getriebenen Ausbrüche wurden brav von allen Medien weitergegeben. Simon Hegelich hat im Political Data Science-Blog sehr lesenswert analysiert, in welchem Zusammenhang die Berichterstattung über die AFD und deren Erfolg stehen.
Helfer der Disruption: Deutschlands Eliten
Hilfreich war dabei eine Anomalie Deutschlands. Im Rahmen einer OECD-Studie zeigte sich, dass nur in Deutschland der Anteil der Social Media-Nutzer unter den Menschen mit geringer Bildung höher ist als der gleiche Anteil unter jenen mit hoher Bildung.
Soziale Netzwerke und der Bildungsstand ihrer User: Deutschland entgegem dem Trend https://t.co/QN9TRA1945 #Neuland pic.twitter.com/Er9MomnLVf
— OECD Statistik (@OECDStatistik) 17. November 2015
Nun gibt es etliche Punkte, über die man bei dieser Studie im Detail diskutieren kann. Doch den grundsätzlichen Trend wird wohl jeder bestätigen können: Die deutschen Eliten aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik halten sich lieber aus dem Social Web fern. Als Beleg kann hier auch die Grafik mit den Social Media-Aktivitäten deutscher Chefredakteure und Verlagsgeschäftsführer herhalten, die wir 2015 mal bei kpunktnull erstellt haben. Sprich: Jene, die Menschen von einer vernünftigen Meinung überzeugen sollten, überlassen den Schwachmaten das Feld.
Zu lange kamen sie damit durch. „Also ICH“ (natürlich lautstark und mit einem Hauch von Entsetzen vorgetragen ob der bloßen Vermutung, jene Person könne solche Dienste nutzen) „bin ja nicht auf Facebook“, gehört zum Grundwortschaft der Bildungsbürger. Das war so lange nur arrogant und gestrig, wie es nur die eigenen sozialen Kontakte beschädigte oder dazu beitrug, sich in der kleinen, eigene Filterblase gefangen zu halten. Nun aber bedeutet jene Abstinenz auch, rechten Kräften ein mächtiges Instrument zu überlassen.
Es hat sich etwas geändert. Und zumindest einer hat das schon gemerk: Gabor Steingart. Über Jahre positionierte sich der „Handelsblatt“-Kleinanteilsverleger als bewusster, ja „demonstrativer“ Nicht-Wähler. Er hat sogar ein Buch darüber geschrieben mit dem Titel: „Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers“. 2009 sagte er dem Deutschlandfunk:
„… Nichtwählen ist eine sehr politische Reaktion, die auch vorgesehen ist von unseren Grundgesetzvätern, für den einen Fall nämlich, dass einem das Angebot insgesamt nicht passt, dass einem vor allem die Spielregeln nicht passen, und ich bin bekennender Nichtwähler, weil ich glaube, nur so können wir die derzeit knappste Ware in unserem politischen Betrieb erzeugen, nämlich Nachdenklichkeit über die Spielregeln. Unsere Spielregeln erlauben keine wirklich direkte Demokratie.“
Zum Argument, dass Nichtwählen extreme Parteien stärke, sagte er:
„Die Rechtsparteien beispielsweise sind weit davon entfernt, in den Bundestag einzuziehen, trotz Nichtwählern. Die Ränder, was den rechten Rand angeht, sind nicht gestärkt worden. Die waren interessanterweise da am lebhaftesten, als die Wahlbeteiligung hoch war, Ende der 60er-Jahre nämlich, und seit dem haben wir keine Rechtsparteien im Bundestag, nicht mal in Sichtweite. Wir erleben im Gegenteil den Niedergang von Republikanern, NPD und all diesen undemokratischen Parteien.“
Und ich gebe zu: Ich war in diesen Punkten lange Steingarts Meinung. Doch hat sich mit der AFD da eben etwas verändert. Und so gesteht Steingart zwar nicht ausdrücklich einen Fehler ein, dreht seine Meinung aber öffentlich um 180 Grad – Respekt. Hier der Auszug aus seinem Morning Briefing vom 22. September:
„Im Jahr 2009 hatte ich ein Buch mit dem Titel „Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers“ veröffentlicht. Darin hieß es: „Ich kündige den politischen Parteien die Gefolgschaft, weil ich von der Politik deutlich mehr erwarte, mehr Ernsthaftigkeit, mehr Anstrengung und ein Denken in Alternativen. Das Parteiensystem scheint mir nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.“ Im heutigen Leitartikel unserer Zeitung trete ich den Teil-Rückzug an. Ich begründe, warum die Zustände im Parteienstaat noch immer zum Himmel schreien, nenne aber zwei wichtige Gründe, warum ich am kommenden Sonntag trotzdem wählen werde. Nachahmer erwünscht!“
Doch was sollte man tun? Alle jetzt mitdiskutieren und alles wird gut?
Zumindest könnte es ein Stück weit für ein anderes Klima sorgen. Allerdings haben selbst als vernünftig erscheinende Menschen gelegentliche Hysterie-Anfälle.
Gestern jedoch hörte ich die wunderbare Show „Tell me something I don’t know“ von den Machern der Radioshow Freakonomics (sowohl die Show wie der Podcast wären für Deutschland übrigens auch eine Bereicherung):
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Und beim Auftritt von Prof. Katherine Milkman von der Wharton School (Uni Pennsylvania) kam mir eine Idee…
Wir brauchen die Re-Disruption der Medien
Jene hysterischen Meldungen, die für ein Klima der Unruhe und Angst sorgen, sind nicht nur aus sich heraus eine Gefahr: Sie verbreiten sich digital schneller, ergab Milkmans Forschung. Sie untersuchte, welche Artikel aus der „New York Times“ besonders stark geteilt wurden. Ihre Zusammenfassung für den Scientific American:
„The take-away message from this work is that if you want your video, press release, news story, blog post or tweet to reach as many people as possible, there are specific things you can do to increase its chances of being widely shared. Make it emotional—ideally triggering emotions like anger, anxiety or awe that tend to make our hearts race; and if you can, make it positive.“
Emotionale Meldungen werden häufiger geteilt, am häufigsten aber positive emotionale Meldungen. Warum aber tauchen solche so selten in meinem Nachrichtenstrom auf (und ich ahne, dass es vielen Lesern hier ähnlich geht)?
Weil es sie in Deutschland praktisch nicht gibt.
Machen sie, liebe Leserinnen und Leser, sich mal auf die Reise über Deutschlands Nachrichtenportale. Es ist deprimierend. Gefühlt die Hälfte der Meldungen sind negativ konnotiert, dazu kommen neutrale. Doch positive, noch dazu emotional positive Meldungen sind die absolute, rare Ausnahme.
Glauben sie nicht? Hier ein Überblick über Spiegel Online am 6. Oktober, als ich Teile dieses Artikels schrieb:
Positive Nachrichten gibt’s nur vom Fußball – wundert sich noch jemand über die Bedeutung dieses Sports in unserer Gesellschaft?
Dabei gibt es durchaus angenehme News. Im Podcast weist Milkman darauf hin, dass sich beispielsweise hoffnungsvolle News aus der Wissenschaft verbreiteten. Doch auch die sind in Deutschland – erst recht auf der Startseite von Nachrichtenportalen – die Ausnahme. Ein völlig anekdotisches Beispiel: In meinem Nachrichtenstrom landete vergangene Woche eine Meldung der Uni Oxford, nach der vielleicht Blinde wieder sehen könnten. Hammer, oder? Berichterstattung in deutschen Medien: null, so weit ich sehe. Nun kann es ja sein, dass diese Meldung so nicht stimmt und deshalb durch redaktionelle Filter gefallen ist. Doch ist dies nicht die einzige Meldung und die positiven Nachrichten finden schlicht nicht statt.
Wie wäre es also mit einem Pakt der Medien – und mit uns Nutzern? Einer gemeinsamen Fördermaßnahme zum Umdrehen der Stimmung? Sprich: einer Re-Disruption der Medien?
Zum Beispiel könnten die Chefs vom Dienst, die Seitenfahrer (Nachrichtenseiten werden ja nicht gesteuert, sondern gefahren), die Ressorleiter und Chefredakteure für eine Zeit von drei, vier Monaten versuchen, jederzeit in der oberen Hälfte ihrer Startseite eine positive Nachricht zu platzieren. Oder sie könnten darauf achten, dass an gerade laufenden Meldungen der positive Spin betont wird und nicht der negative (wie sonst immer).
Dabei sollte es nicht darum gehen, eine eigene Rubrik einzurichten oder einen Positivnachrichtengedenktag in den Kalender zu schreiben. Das würde die Idee zunichte machen, denn in einer Welt, in der das Positive einen Tierschutzstatus bekommt, ist das Negative die Norm.
Nein, es ginge darum, Milkmans Erkenntnisse einem Deutsch-Test zu unterziehen: Gelten ihre Analysen auch hier zu Lande?
Wenn dem so wäre, könnte das Experiment weitergehen. So wie die negativen, hysterischen Meldungen die öffentliche Wahrnehmung untergraben haben, könnte sie dann ja vielleicht durch die positiven Nachrichten wieder aufgebaut werden.
Es ist ein naiver Gedanke, zugegeben, aber ich bin halt ein Idiot. Andererseits: Was hätten wir zu verlieren?
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