Mal ehrlich, liebe Leser, Hand hoch (oder Kommentar rein): Wer von Ihnen hat von der E-Culture Fair in Dortmund gehört?
Mutmaßlich nicht sonderlich viele. Selbst Menschen, die ständig Auge und Ohr offen haben für kreative Kongresse und Treffpunkte blieben unbehelligt von dem, was sich von Montag bis Mittwoch im neuen Kulturzentrum Dortmunder U zutrug. Und das ist wirklich traurig – und ein Versagen der Veranstalter. Denn ich kenne eine Reihe Menschen, die es hoch interessant gefunden hätten, nach Dortmund zu kommen.
Die Messe will Kreative und Künstler mit dem Reich des Digitalen vereinen – und das aus NRW, den Niederlanden und Flandern. Zu sehen gab es ein sehr breites Spektrum von der Videokunst, über gesellschaftliche Experimente, Gedankenspiele von Architekten bis hin zu handfesten Produkten.
Zum Beispiel das „Instructables Restaurant“, ein Lokal, in dem alles auf Open Source basiert: Egal ob Suppenrezept und Stuhlbauanleitung – jeder kann das „Instructables“ nachbauen. Oder Social Spaces, eine Forschungsgruppe der Hochschule Limburg (Belgien). Sie zeigte eine Art Mind-Mapping-Tisch, bei dem kreative Prozesse befeuert werden sollen, in dem die Teilnehmer eine Art Gedankengangs-Schema mit grafischen Elementen auf einem von unten beleuchteten Tisch legen.
Für aktive Musiker vielleicht eine Revolution: Musescore. Die kostenlose Open-Source-Software will es selbst ungeübten Komponisten ermöglichen, ihre Werke in Noten zu verwanden, ja, sie können sogar mit Youtube-Videos vermischt werden. So könnte ein solches Video jemand dann zeigen, wie er den neuesten Madonna-Hit nachspielen könnte. Das ganze ist ein belgisch-deutsch-französisches Projekt, dessen drei Macher sich im Internet trafen. Verdammtes Sich-ins-Schaufenster stellen, denkt sich jetzt Ilse Aigner.
Der Verbraucherministerin dürfte auch nur so mittelmäßig gefallen, was Potemkino so veranstaltet. Oder vielleicht gerade? Alles begann dort mit dem Dokumentarfilmer Jean-Baptiste Dumont, der am Brüssler Bahnhof von einem Mann namens Gary angesprochen wurde. Dieser behauptete, man habe seine Brieftasche gestohlen und er brauche 80 Euro um zurück nach Norwegen zu kommen. Dumont gab ihm das Geld – und bekam es nie zurück. Stattdessen stellte er beim Googeln fest, dass dieser Gary schon zahlreiche Menschen betrogen hatte.
So begann das Projekt „Where is Gary?“. Dumont machte sich öffentlich auf die Suche und informierte über Web-Videos über den Stand. Die ganze Welt suchte mit, zahlreiche Nebengeschichten entstanden. Und am Ende fand der Filmer den Betrüger tatsächlich. Das Ergebnis: eine einstündige Dokumentation über einen Mann, der vom Lügen lebt.
Ein anderes Potemkino-Projekt läuft demnächst an: „Miss Homeless“ ist ein Film, der tatsächlich mit zahlreichen Obdachlosen entstand. Seine Premiere hat er am 17. Oktober, dem Internationalen Tag zur Besiegung der Armut. Und jeder kann dabei sein. Also, mit seiner eigenen Premiere. Denn wer eine solche organisiert, kann den Film zeigen.
Schließlich präsentierte Peter De Maego von Potemkino noch ein Projekt im frühen Stadium. „The Artists“ ist eine TV-Serie, in der es um fünf gestohlene Kunstwerke aus fünf Museen rund um den Globus geht. Sie alle verschwinden am gleichen Tag – und das auch in der Realität (na gut, in der Realität werden sie nur eingelagert). Und dann dürfen die Zuschauer miträtseln und so die Handlung auch verändern – Cross Media Storytelling ist eben der heißeste Scheiß im internationalen TV-Geschäft.
Ohne Grenzen denken anscheinend XML, ein Amsterdamer Kulturbüro, das sich auf Städteplanung spezialisiert hat. In Dormund zeigte es zwei Projekte, die sich mit dem Einfluss von Social Networks auf unsere Gesellschaft beschäftigten. Einerseits ein temporäres Hotel während der Olympischen Spiele 2012 in London. Seine Zimmer sind über die Stadt verteilt, jeweils eine Suite steht auf metallenen Beine hoch über der Straße. Die Vernetzung mit Facebook & Co. ist integriert, so dass die Gäste über sich und ihr Nächtigen in den „Aldgate Suites“ berichten. Das zweite XML-Projekt ist ein Spiel mit der Privatsphäre: Die Amsterdamer lasen die Twitter-Feeds von acht Mitbürgern mit. Aus dem Bild, das die Twitterer von sich gaben, entwarf XML jeweils ein individuelles Haus. Erst als dies als Architektur-Modell fertig war, wurde es den Belauschten präsentiert. Die Überraschten waren, so verlautete, überrascht – positiv. Gebaut hat aber wohl keiner.
Auch die Urban Park Laboraties spielen mit der Stadt. Sie haben den großen Park der Westgasfabriek in Amsterdam mit Stadtgeschichteerzählgadgets gefüllt. Zum Beispiel QR-Codes an Gebäudewänden, die eine erklärende Web-Seite öffnen, Parkbänke, die beim Niedersetzen eine Geschichte erzählen oder Fernrohre, die per Augmented Reality historische Ansichten ermöglichen. Das bedeutet: Die großartige, wundervolle und inspirierende Konferenz Picnic (22. – 24. September) wird nochmal interessanter als ohnehin. Noch wer da?
Und wo wir gerade über die Picnic sprechen: Die deutschen Projekte auf der E-Culture Fair gingen größtenteils unter, die meisten waren wenig spannend. Für mich ist das symptomatisch: Jene überbordende Kreativität, die sich auch auf der Picnic Bahn bricht, die finde ich in Deutschland nicht.
Zugegeben: So hirngeflutet wie nach der Picnic verließ ich Dortmund nicht. Aber die E-Culture Fair ist eine kleine, spannende Veranstaltung. Sie hätte ein angenehmeres Ambiente verdient als das bei weiten noch nicht fertig zu seiende Dortmunder U, bei dem mein einst im Elektrohandwerk tätiger Vater gewarnt hätte: „Das ist ne Baustelle, da kannste keinen reinlassen bei den ganze Strippen, die in der Gegend rumhängen.“ Immerhin: Unter dem U hing eine großartige Projektions-Installation, deren Ankauf von der Stadt Dortmund definitiv erwogen werden sollte.
Und die Messe hätte mehr Interaktion verdient. Doch Kommentare konnten nicht via Twitter oder Facebook eingereicht werden – sondern nur über die eigens eingerichtete Plattform Cool Mediators. Ergebnis. Eine Person, mutmaßlich von den Veranstaltern, schickte gelegentlich mal was rein. Was für eine Geldverschwendung, was für eine verpasste Chance.
Kommentare
Anne Grabs 26. August 2010 um 18:23
Das ist echt schade, hätte es doch die Medienkunstszene bereichern können und mehr Austausch fördern. Vielleicht liegt es an der Kunstszene selbst, die sehr hierarchisch strukturiert ist, sodass solche Informationen nicht dort landen, wo sie hingehören. Die Medienkunst hat dann wohl noch nicht ihre Hausaufgaben in Sachen Kommunikation gemacht.
M.H. Nierhoff 26. August 2010 um 21:50
Ich ärgere mich gerade wirklich, dass ich deinen Blog im Reader habe. Denn ansonsten hätte ich nie von der E-Culture Fair erfahren, obwohl ich in Dortmund wohne, thematisch annäherndes studiere, mich für sowas sehr interessiere und so gut wie jeden Tag am U vorbeifahre und zwar bewusst, wegen der Videoinstallation. Gnahh
(Blog bleibt natürlich im Reader ;-))
Prospero 27. August 2010 um 0:54
Hand heb! Gehört schon, eigentlich wollte ich auch hin aber Termindopplungen. 🙂 Scheint nicht so als hätte ich was verpaßt. Ob die ISEA in meinem Heimatort am Samstag spannender wird?
Ad Astra
Der Ruhrpilot | Ruhrbarone 27. August 2010 um 8:05
[…] Ruhr2010: E-Culture Fair, Dortmund – schlecht vermarktete Gehirnflutung….Indiskretion Ehrensache […]
SvenR 27. August 2010 um 8:28
Nix mitbekommen, war aber auch fast drei Wochen im Urlaub.
Thomas Bonte 27. August 2010 um 9:47
A small correction perhaps: on http://musescore.org you can download the free software while on http://musescore.com you will be able to upload and share your sheet music. The latter is currently in private beta. Thanks!
Nina 27. August 2010 um 10:09
Das hätte ich mir gerne angesehen und obwohl ich mehrere Möglichkeiten habe, über lokale Events zu erfahren, habe ich es nicht mitbekommen. 😐
Steffen 27. August 2010 um 16:08
bekannt war das schon:
DIN A0- und DIN A1-Plakate in allen U-Bahn-Stationen Dortmunds sowie am HBF.
Plakatierung in den ICE-Netzen NRWweit.
Anzeigenschaltung bei Heimatdesign, neural.it, Die Zeit, De:Bug…
Artikel vorab in der Monatspresse bei allen wichtigen Mags inklusive Monatstipp Prinz, De:Bug (auch auf Startseite), 1 Seite Port01.
Postalische Aussendung von Einladungen an 6000 Adressen.
Newsletteraussendung und Facebook-Aktionen.
Verteilung von Flyer an NRW Unis, Clubs- und Veranstaltungsorte Dortmund, Essen, Bochum…Insgesamt 10.000 Flyer.
Tagespresse (nur ein paar Highlights) größter Artikel des Tages im Mantelteil der WAZ-Gruppe, Titel Lokal in Westfälischer Rundschau, größter Artikel im Kulturteil Ruhr Nachrichten.
Interviews sogar noch am Mittwoch am Nachtlager der ECF-Beteiligten.
TV-Berichte Sat-1, WDR, NRW.TV…
Special-Feature durch ISEA
….
Raventhird 27. August 2010 um 20:59
Vorberichterstattung wäre bei solchen Veranstaltungen wirklich wichtig. Hätte ich hier vorher davon gelesen und von einigen der wirklich spannend klingenden Projekte, ich wäre vermutlich hingefahren. So kann ich leider nur über den Nachbericht erfahren, was ich verpasst habe. Sehr schade :/.