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1995.

US-Präsident ist Bill Clinton. Der Dow übersteigt erstmals die Marke von 4.000, später von 5.000 Punkten, die Nasdaq schlägt die 1.000 Punkte.  Die Baring Bank kollabiert nach den Spekulationen von Nick Leeson. Der Bombenanschlag in Oklahoma tötet 168 Menschen. Jacques Chirac wird Präsident von Frankreich. OJ Simpson wird freigesprochen, Yitzhak Rabin ermordet.

All das wirkt wie aus einer fernen Zeit. In jenem Jahr 1995 aber sind auch Dinge beschlossen und eingeführt worden, die noch heute existieren und eine Rolle spielen.

  • Die WTO löst  das GATT-Abkommen ab.
  • Die Pflegeversicherung wird eingeführt.
  • Der erste Castor-Behälter erreicht Gorleben.
  • Das Bosman-Urteil verändert das Fußball-Transfersystem auf immer.

Stellen Sie sich bitte vor, im Jahr 2013 würde Philipp Rösler behaupten, die WTO sei so schwer zu beurteilen, weil man nicht so viele Erfahrungen mit ihr hätte. Was wäre, erklärte Daniel Bahr, die Pflegeversicherung sei für alle noch Neuland? Peter Altmeier spräche so von Atomtransporten. Und Matthias Sammer sagte dies von den Sommertransfers des FC Bayern.

Total irre? Grund für die Ablösung der genannten Personen aus ihren Posten, oder?

internet neuland merkel

Nun, dieses Jahr 1995 ist noch aus anderen Gründen interessant. 1995 wurde das Online-Auktionshaus Ebay gegründet. Und: Netscape ging an die Börse. Kevin Kelly beschrieb diesen Moment 2005 in einem lesenswerten Essay in „Wired“:

„Ten years ago, Netscape’s explosive IPO ignited huge piles of money. The brilliant flash revealed what had been invisible only a moment before: the World Wide Web. As Eric Schmidt (then at Sun, now at Google) noted, the day before the IPO, nothing about the Web; the day after, everything…

Before the Netscape browser illuminated the Web, the Internet did not exist for most people. If it was acknowledged at all, it was mischaracterized as either corporate email (as exciting as a necktie) or a clubhouse for adolescent males (read: pimply nerds). It was hard to use. On the Internet, even dogs had to type. Who wanted to waste time on something so boring?“

Dieses Jahr 1995 ist 18 Jahre her. Die heutigen Abiturienten sind in jener Zeit geboren worden. Was würden wir zu Eltern sagen, die behaupten: „Mein Kind ist für mich Neuland.“?

Deshalb ist es eine solche weltfremde Unverfrorenheit, eine unfassbare Unverschämtheit, ein Schlag ins Gesicht des Wirtschafts- und Technologiestandortes Deutschland, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel heute in Berlin allen Ernstes behauptet:

„Das Internet ist für uns alle Neuland.”

Nein. Ist es nicht.

Es ist nur Neuland für technophobe Politiker, und eine Regierungschefin, die sich larmoyant einen Bundestages der Maschinenstürmer hält, der im Wochenrythmus Entscheidungen trifft, die Deutschlands Zukunft gefährden. Für eine Generation von Volksvertretern, die mit einem Engagement an Technikthemen herangeht, der die Null-Bock-Generation von Jugendlichen wie auf Speed befindliche Hyperaktive wirken lässt. Es wäre schön, stünde auf der anderen Seite der politischen Skala eine Alternative. Doch Peer Steinbrück ist genauso steinzeitlich gestimmt, seine Internet-Kompetenzbeauftragte Gesche Joost lieferte beim Digitalen Quartett nur Floskeln.

Über dem dritten Tor der Hölle, so ersann es Dante Alighieri in seiner „Göttlichen Komödie“ steht geschrieben:

„Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“

Es ist ein schönes Motto für den Wirtschaftsstandort Deutschland anno 2013, dem Lande der Angela Merkel.

Nachtrag: Es dauerte nicht lang, bis aus der Analog-Kanzlerin ein Meme wird. Auf Tubmblr darf hier und hier geschumzelt werden, während auf Twitter der Hashtag #Neuland grassiert:



Kommentare


Kb2 19. Juni 2013 um 14:58

Deutschland hat eine florierende Start-up-Szene, die dürfte sich jetzt mit Füßen getreten fühlen. (…) Sehr schön der Satz: „Mein Kind ist Neuland“. Danke! 🙂

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Neuland | word of mouse 19. Juni 2013 um 15:29

[…] Angela Merkel: “Das Internet ist für uns alle Neuland.” Wie bitte? […]

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Links | sixumbrellas 19. Juni 2013 um 17:01

[…] Die Bundeskanzlerin der Maschinenstürmer Lustig, wie sich unsere Bundeskanzlerin auf großer Bühne bloß stellt. Wenn es nicht so traurig wäre… […]

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Froschs Blog : » Neuland 19. Juni 2013 um 19:39

[…] Ehrensache: Die Bundeskanzlerin der Maschinenstürmer (via +Elfriede […]

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Nachschlag zu #Neuland | Sashs Blog 20. Juni 2013 um 4:14

[…] Im Übrigen durchaus Folgen, die klassisch konservative Themen einbeziehen. Thomas Knüwer zieht in seinem Blogeintrag von gestern z.B. nicht nur lustige Vergleiche, sondern stellt (einmal mehr) fest, wie fatal sich diese Internetangst seitens der Regierung auch […]

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Aktuelles 20. Juni 2013 — neunetz.com 20. Juni 2013 um 14:17

[…] Die Bundeskanzlerin der Maschinenstürmer "Stellen Sie sich bitte vor, im Jahr 2013 würde Philipp Rösler behaupten, die WTO sei so schwer zu beurteilen, weil man nicht so viele Erfahrungen mit ihr hätte. Was wäre, erklärte Daniel Bahr, die Pflegeversicherung sei für alle noch Neuland?" […]

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#Neuland my ass… | Upgrade.me-Blog 20. Juni 2013 um 17:17

[…] Die Bundeskanzlerin der Maschinenstürmer – indiskretionehrensache.de […]

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gerd_meissner 20. Juni 2013 um 17:20

1) Nicht persoenlich nehmen.
2) Politiker nicht ernster nehmen, als sie es verdienen, speziell, wenn sie es klar *nicht* verdienen. Der Niedergang der Traditionsmedien in Deutschland hat m.E. auch damit zu tun, dass (Ex-) Journalisten diesen Fehler – u.a. wg. (eingebildeter) Machtpartizipation – oefter machen als Medienkonsumenten.
3) Nicht verbittern.

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Ronny 21. Juni 2013 um 8:29

Dies war mal ein richtig schönes Eigentor. Und dies kurz vor der Wahl. Also wer jetzt noch als Internetaffiner eine Person wählen kann, die auch die nächsten 4 Jahre wahrscheinlich nicht verstehen werden, was sich durch das Internet gerade ändert …. Aber man soll ja nicht von einer Person auf die ganze Partei schließen, oder?

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Carom 21. Juni 2013 um 11:13

Die Kanzlerin gibt wieder, was die Mehrzahl der Bevölkerung wahrnimmt. Das, was sich auf Dienstleistungen rund um IP-basierte Verbindungen stützt („Google“ zum Beispiel) und so längst nennenswerter Teil des eigenen Lebens ist, wird von dieser Mehrheit eben nicht als Internet wahrgenommen, sondern als… tja, als was eigentlich? (Kann das jemand mal bitte untersuchen?)

Ich finde, man sollte Frau Merkel vor allem für die Leistung danken, die eigene Begriffsarmut und die großer Teile der Bevölkerung in ein einziges Wort zu fassen. #Elend wäre in dem Zusammenhang eventuell auch passend gewesen.

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dorengba 22. Juni 2013 um 23:14

Danke für die Zusammenhänge. Noch ein kleiner Ausblick:

So verkündet die blasierte Arroganz der Macht, dass sie geruht, diese Technik erst zur Kenntnis nehmen zu wollen, wenn es ihr geradewegs als Instrument zur Herrschaft dienlich ist.

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Glaskugelige Kaffeesatzlesereien 2014 1. Januar 2014 um 11:30

[…] uns darauf einstellen können, dass Analog-Wutbürger im Einklang mit klassischen Medien und dem Bundestag der Maschinenstürmer hyperventiliert, wenn nicht gar nervenzusammenbricht, wirft Google seine Datenbrille Glass auf den […]

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