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Neid, schrieb mein ehemaliger Chefredakteur Bernd Ziesemer in seinem Buch „Die Neidfalle“, kommt in zwei Variationen daher. Der weiße Neid sorge dafür, dass der Neidische alles daran setzt, um das Objekt des Neides ebenfalls zu erreichen. Schwarzer Neid hingegen mache Menschen böse und befeuere Angriffe auf den Beneideten.

Während in den USA der weiße Neid die Grundeinstellung sei, meinte Ziesemer, sei es in Deutschland der schwarze. Geht es um die SXSW, die größte Digitalkonferenz der Welt, neige ich dazu, ihm zuzustimmen.

Da erregte sich zum Beispiel eine Persönlichkeit der Werbebranche, deren gesamte Digital-Persönlichkeit um Positivität herum gebaut ist, über dieses Podium bei der SXSW:

Jene Person war noch nie in Austin vor Ort, macht sich aber jedes Jahr über die Konferenz lustig. Diesmal mokierte er sich über die Schuhe der einen Dame, nannte die andere „Skandalnudel“ und belustigte sich, dass die eine im Alter von 58 Jahren die Zukunft erklären wolle. Er selbst ist 57 Jahre alt und nennt sich selbst „Impulsgeber“.

Zur Erklärung: Hier diskutierten Frauen über die Rolle von Frauen in den Medien. Meghan, Duchess of Sussex, berichtete über die Angriffe auf sie via Journalisten und Social Media, Moderatorin Katie Couric erzählte von den sexistischen Attacken, nachdem sie als erste Frau die Hauptnachrichtensendung eines nationalen US-Senders übernahm und Schauspielerin Brooke Shields sprach über Sexismus in Hollywood.

Einer der Kommentatoren jenes Werber pflichtete diesem, von Sexismus triefenden Text bei und schrieb, er habe da immer mal hingewollt zu dieser SXSW, aber jetzt sei sie nicht mehr cool und er zu alt.

Wollte jemand schwarzen Neid definieren und außerdem ein Musterbeispiel für Alte, Weiße Männer haben – hier gibt es beides.

Die SXSW war ja nie cool. Vor 13 Jahren war ich zum ersten Mal in Austin, schon damals sah die angebliche Coolness der Konferenz so aus:

Oder so:

Nein, cool waren die Tage in Austin noch nie. Es gab über die 11 Male, die ich nun zu Gast war, immer Einzelmomente, die man  mit diesem Adjektiv belegen könnte. Doch insgesamt ist die Konferenz eben genau das – eine Konferenz mit inzwischen über 70.000 Teilnehmern.

Warum also fährt man dorthin? Weil es nirgends eine solche Kollision der Filterblasen gibt. Die South-by ist nicht nur eine Digitalkonferenz, sondern auch eine für Musik, Film und TV, ein Ort für Showcases junger Bands und Screenings neuer Filme und Serien.

Wenn man aber letzteres will, ist man bei der Comicon oder Glastonbury besser und stressfreier aufgehoben. Die Reise nach Austin treten die Freunde der Konferenz wegen der Inhalte an – und die sind so cool wie die Schulnerds in Highschool-Serien.

Fangen wir also mal an mit meinen rein subjektiven Beobachtungen – denn für Top-Trends oder so was ist das Angebot viel zu breit gestreut.

Über allem: der Tech-Supercycle

Ich stehe den Thesen und Prognosen der Futuristin Amy Webb immer  kritischer gegenüber (dazu demnächst mehr hier im Blog). Doch formt sie eben auch Begriffe und Bilder, die den Geist der Zeit gut treffen. Zum Beispiel dies:

Die Fortschritte in den Bereichen Künstliche Intelligenz, vernetzte Geräte und Biotechnologie sind so rasant, dass wir uns im frühen Stadium eines durch Technologie getriebenen Supercycle befinden. Solche Zyklen zeichnen sich durch einen Wirtschaftsboom aus, aber auch durch einen Anstieg von Preisen und von Wertmaßstäben wie Aktienkursen auf neue Rekordhöhen.

Bisher allerdings wurden Super-Zyklen durch eine Technologie getrieben – zum Beispiel die Dampfmaschine oder das Internet. Nun sind es drei und die befeuern sich gegenseitig. Deshalb werde dieser Supercycle alle Bereiche unseres Lebens berühren – es ist eine Zeit der fundamentalen Veränderungen. Webb: „Nach diesem Übergangszyklus wird unsere Gesellschaft ganz anders aussehen.“

AMD-Chefin Lisa Su mit Futurist Ryan Patel. Foto: SXSW

Künstliche Intelligenz, Phase II

Im vergangenen Jahr stand die SXSW ein wenig unter Schock. Vier Monate vorher hatte OpenAI sein ChatGPT veröffentlicht und auf den Podien versuchte jede/r einen ersten Sinn aus dem steil durch die Decke gehenden Dienst zu orakeln.

Diesmal waren die Bilder, gedanklichen Flugbahnen und Storylines deutlich klarer.

Die vorhandenen KI-Angebote hat nun jedermann durchgespielt und sich ein Bild gemacht (oder machen lassen). Für die Großen wie ChatGPT wird es ein wildes Jahr, prophezeite Elisabeth Bramson-Boudreau, die CEO und Verlegerin der „MIT Technology Review“.

  • Die Modellanbieter werden versuchen, die Voreingenommenheit ihrer Modelle herunterzudrehen. Dies sah auch Shane Legg, Mitgründer und Chief Scientist von Google DeepMind so: Im Fokus stehe bei den Modellen derzeit die Komplexität und Subtilität der menschlichen Gesellschaft über Kulturen und Ländergrenzen hinweg.
  • Es wird noch mehr Copyright-Klagen geben.
  • Es werden immer mehr Lösungen entstehen, um eigene Daten aus dem KI-Training herauszublocken. Die Software von Nightshade macht zum Beispiel Bilder für dieses Training unbrauchbar.
  • Die Kosten für den Betrieb von KI-Modellen werden in die Höhe schießen – egal ob es um Chips geht, um Bandbreite oder Rechenleistung.

Und das alles in einem Feld, das nicht so erfolgreich ist, wie es gerne tut. Die „Technology Review“ befragte in ihrem ständigen Panel 1000 Technik-Entscheider, ob sie bereits einen funktionierenden Use Case für KI hätten: Nur 9% sagten ja, 59% hatten Bedenken wegen der Risiken. Bramson-Boudreau ergänzte: „Und das sind Leute, die technikaffiner sind, als andere Entscheider.

Derweil entwickeln sich KI-Modelle aber bereits weiter. Unter anderem Webb prognostizierte in Austin das Herannahmen von Large Action Models (LAM). Während Large Language Models zu erahnen versuchen, welchen Text ein Nutzer haben möchte, zielen LAM darauf ab, die Intention eines Menschen vorauszuahnen.

Dazu sind neue Formen von Daten nötig, zum Beispiel Pupillenreaktionen oder konkrete Handlungen. Diese werden mit vernetzten Geräten erfasst, von denen Webb eine steigende Zahl erwartet. Ihre Ankündigung, dass wir „Facecomputer“ wie Apples Vision Pro noch in diesem Jahr „überall“ sehen und Gerätschaften wie der Rabbit r1 und der AI Pin von Humane fundamentale Innovationen seien, halte ich dabei für eine Fehleinschätzung – denn letztere sind nichts anderes als Handys ohne Telefonfunktion und Kamera.

Der Rabbit r1

Absehbar aber ist, dass der Einsatz von KI bei der Unterstützung alltäglicher Aufgaben das nächste große Feld ist – und dafür braucht es neue Datenformen und Schnittstellen.

KI & Ethik: das große Laissez-faire

Und wie gefährlich ist KI nun?

Die Diskussion darüber lief angenehm unaufgeregt oder erschreckend passiv ab – je nachdem, wie man das sehen möchte. So breitete ChatGPT-Chef Peter Deng ein wohliges Laken der Kuscheligkeit über alle Bedenkenträger: „KI macht uns menschlicher“ und sein Arbeitgeber setze alles daran, dass die Menschen mehr Zeit für das hätten, was sie wirklich tun wollen.

Ähnlich entspannt gab sich DeepMinds-Mitgründer Legg. Es könnten alle Arten von Problemen im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz auftreten, zum Beispiel Missbrauch, Fake News, aber auch Fehlausrichtungen, wenn Programmierer etwas Gutes erreichen wollten, das Ergebnis aber in die ganz andere Richtung gehe – man könne eben nicht immer voraussehen was passiere, wenn eine neue Technologie ausgerollt werde.

Tja, machste nix dran? Eine etwas befremdliche Haltung, nachdem Legg zuvor das Herannahen einer Artificial General Intelligence (AGI) prophezeite. 2001 sagte er bereits, dass eine solche AGI 2028 Realität sein könnte, eigentlich hat er den Begriff sogar geprägt – nun sieht er sich gut im Plan. Mehr noch: Aufhalten könne man deren Entwicklung jetzt nicht mehr, „Ich sehe da keinen sinnvollen Weg, das zu tun… Viele Unternehmen aus der ganzen Welt arbeiten daran. Zu dieser großen Zahl von Marktteilnehmern kommen auch noch die Geheimdienste.“

Welche Gefahren durch AGI entstehen könnten, mit dieser Frage würden sich Wissenschaftler aber erst seit kurzem beschäftigen: „Ich habe früher versucht, diesen Forschungszweig anzustoßen. Aber es fanden sich keine Leute weil niemand daran glaubte, dass AGI Wirklichkeit werden könnte.“

DeepMinds Shane Legg (rechts) mit Semafor-Tech-Reporter Reed Albergotti.

Neue Computer

Bei den steilen Prognosen über die nähere Zukunft Künstlicher Intelligenz wird in Medien oft übersehen, wieviel Rechenpower KI benötigt. Experten sind sich dieser Herausforderung durchaus bewusst, weshalb neue Formen von Computern das gefühlt zweitwichtigste Thema in Austin darstellten.

So gehörten Chiplets, also kleine, spezialisierte Versionen konventioneller Chips zu den Top10-Trends der „MIT Technology Review“ für das laufende Jahr, genauso wie Exaflop-Computer, die so viel Rechenleistung haben wie 100.000 verbundene Laptops. Das Problem: Sie saugen erhebliche Mengen an Energie.

Weiter in der Zukunft liegen Quantencomputer sowie die Verbindung von Biotechnologie und Computern. Doch gibt es bereits vielversprechende Ansätze, bei denen Rechner mit im Labor gezüchteten Zellen eine ganz neue Art der IT-Architektur ermöglichen.

Die finale Lösung hat niemand. Doch zeigten die Tage von Austin deutlich, warum OpenAI-Chef Sam Altman versucht, 7 Billionen Dollar für ein AI-Chip-Unternehmen aufzutreiben: Der Bedarf ist genauso riesig wie die Kosten, um ihn zu decken.

Fuhr auch rum: Teslas Cybertruck.

Culture Media statt Social Media

Der für kpunktnull erhellendste Gedanke der SXSW 2024 kam von Krystle Watler, der Head of Creative Agency Partnerships bei TikTok und John Dempsey, dem General Manager der Kreativagentur Bodega.

Ihre These: Wir stehen an der Schwelle vom Social Media- ins Culture Media-Zeitalter.

In Social Media entscheidet maßgeblich der Social Graph – also jene, denen wir folgen und die uns folgen – über das, was uns die Algorithmen der Plattformen anzeigen. Auf neueren Diensten, allen voran TikTok, entscheiden aber ausschließlich unsere Interessen darüber, was wir vor die Augen bekommen.

Das ist keine Marginalie. Das Social Web ließ unsere Filterblasen platzen. Denn wir alle sammeln Kontakte aus verschiedenen Lebensphasen und -bereichen ein, von der Schulfreundin über den Kommilitonen zur Kollegin und dem Typen, der den Dauerkartenplatz neben uns beim Verein der Herzen besitzt.

John Dempsey (Bodega) & Krytle Watler (TikTok)

Wenn wir nun unseren Interessen folgen, tauchen wir ab in Subkulturen. In solchen Konstrukten wird selten Kritik am Kern der Kultur geübt. Die Nischenbesetzer entwickeln starken Korpsgeist und finden (fast) alles toll, was die anderen machen. Wer Kritik übt, wird häufig aus der Gruppe ausgeschlossen. Gleichzeitig entsteht eine Bindung zum „Wir“ in der Gruppe, die noch stärker wird, wenn die Gruppe ein „Die“ findet, das als Gegner genutzt werden kann.

Somit entstehen im Culture Web die Filterblasen, die für das Social Web immer behauptet wurden – in Gestalt von Nischen. „Nische bedeutet dabei aber nicht klein, sondern speziell. mit eigener Sprache und eigener Kultur“, erläuterte Watler. Ein bekanntes Beispiel: #BookTok – jene TikTok-Creator, die zur Macht im Literatur-Business geworden sind und weltweit die Bestseller-Listen beeinflussen.

Für das Marketing hat dies einen steigenden Einfluss von Influencerinnen und Influencern zur Folge – und ein Ansteigen von deren Zahl. Während diese bisher ihre Reichweite mit viel Arbeit aufbauen mussten, kann es jetzt viel schneller passieren, dass sie bekannt werden, weil ein Inhalt von ihnen den Nerv einer Subkultur trifft.

Für Marken gilt deshalb ein Rat noch viel stärker, den sie schon vor 10 Jahren bekamen: Influencer können eine erhebliche Wirkung entfachen, wenn man ihnen die Kontrolle über das gemeinsame Projekt überlässt und somit auch die Kontrolle über die eigene Marke ein Stück weit loslässt. Dempsey: „Im Marketing ist die Culture Ära geprägt von Cocreation zwischen Marken und Creator und von Community.“ 

Wie das aussehen kann, zeigte Bodega mit der Arbeit für Heinz Ketchup. Die Agentur engagierte den reichweitenstarken TikToker E.J. Marcus und gab ihm nur die Idee, einen vegetarischen Vampir zu spielen, der sich statt von Blut von Ketchup ernährt.

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Was mit diesem Video begann, wurde zu einer erfolgreichen Serie von Kurzvideos. Allerdings: Es gab kein Script und kein Drehbuch, die Ideen wurden von und mit Marcus am Set entwickelt. Als ich das hörte, weinte ich ein wenig in mich hinein, weil wir eine deckungsgleiche Idee vor einigen Jahren startreif hatten und unser Kunde dann doch den Mut verlor.

Allerdings: Ganz so einfach ist das nicht mit der Nische und dem Marketing. „Wer in einer Kultur Erfolg haben will, muss daran teilnehmen“, sagte Dempsey. Die Verantwortlichen müssen einerseits im Social-Culture-Web unterwegs sein, vor allem auf TikTok: „There is the real shit.“ Andererseits müssen sie die Normen und Werte der einzelnen Kulturen lernen, um nicht gegen sie zu verstoßen.

Porsche belegte als Sponsor die prominenteste Location in Austin, die für solche Zwecke verfügbar ist.

Alkoholfrei – wie ein Markt entsteht

Bisher hielt ich den Markt für alkoholfreie Getränke – also nicht Cola und Co, sondern Getränke, die alkoholische Varianten ersetzen – für eine Zeitgeisterscheinung, die eine kleine Nische bilden wird. In Austin hat sich das geändert.

Das liegt nicht nur an unserer SXSW-WG-Mitbewohnerin Felicitas Hackmann, die unter Chateau Zero und mit dem Podcast Radio 0,5 FM, eine wichtige Multiplikatorin des Themas ist, sondern vor allem an den Panels zum Thema.

Der Bereich zeigt, wie heute ein Markt im Konsumgüterbereich entsteht: durch Neugier, Selbstzweifel, Statusdenken und Community Building.

1. Neugier und Zweifel am eigenen Lifestyle

Alkohol ist eine Droge des Gruppenzwangs. Wer nicht trinkt, wird schief angeschaut: Alkoholiker? Schwanger? Sich dem entgegenzustellen erfordert ein Selbstbewusstsein, dass gerade in der verunsicherten Generation Z oft fehlt.

Dabei will eine steigende Zahl von Menschen weniger Alkohol trinken. Da sind jene, die das aus gesundheitlichen Gründen wollen oder müssen; andere, die Angst haben vor Kontrollverlust, manchmal, weil sie in der eigenen Familie gesehen haben, was Alkoholsucht anrichten kann; oder auch Frauen, die Angst haben, KO-Tropfen in einen Drink gemixt zu bekommen. Und schließlich greift ein gehöriger Teil der GenZ zu Marihuana als Rauschmittel des Vertrauens. So wurde aus den Dry January in den USA der Cannuary, denn die Verkäufe von Cannabis erreichten ein Rekordhoch.

Aber: Bei den meisten bedeutet das nicht, dass sie zu 100 Prozent auf Alkohol verzichten. In den USA trinken 94% der Verwender von Null-Promille-Getränken weiter jene mit Alkohol.

„Die Menschen glauben, man muss vollständig trocken sein oder Alkohol trinken. Das ist eine Fehlwahrnehmung. Es geht darum, wie man nicht-alkoholische Getränke in seinen Lifestyle einbaut“, sagte in Austin Pauline Idogho, Gründerin des Alkoholfrei-Cocktail-Produzenten Mocktail Club. Fachbegriff dafür: Sober Curiosity. 

2. Statusdenken

Die zweite Zutat eines florierenden Marktes im Digitalen Zeitalter ist ein unübersehbares und schnell wachsendes Angebot. Denn Konsum ist eben auch eine Status-Aussage. Und in einer Welt, die in weiten Teilen global und uniform wirkt (selbst in Austin gibt es jetzt einen Hermès-Shop), können Menschen sich einen höheren sozialen Status verschaffen, in dem sie demonstrativ etwas konsumieren, das ihre Bezugsgruppe nicht kennt, das sie aber mit einer Story versehen können.

Lange fehlten aber die Alternativen über Apfelschorle und Co hinaus. „Heute gibt es handwerklich sehr gut gemachte Produkte“, meint Idogho. Das war auch in Austin sichtbar: Mehrere Hersteller waren sehr präsent, teilweise sogar als Sponsor wie Lyre’s.

Der Gruppendruck der Alkoholtrinker wird also gekontert mit dem Wissen über immer neue non-alkoholische Getränke auf der Karte oder im Laden.

3. Community-Building

Die finale Zutat, um einen Markt voranzutreiben ist dann die Bildung einer Community. Wer sich allein dem Gruppendruck stellen muss, und das ja oft über lange Zeit, resigniert irgendwann.

Unterstützung gibt es heutzutage aber in Form des digitalen Raumes. Dort kann man sich mit Gleichgesinnten austauschen – und sogar treffen. So organisiert Absence of Proof alkoholfreie Cocktailabende in Bars quer durch die USA. Soberbuddy vermittelt Kontakte digital, auf The Phoenix reicht das Spektrum vom Krafttraining bis zur Open Mic Night.

Dieses Community Building sorgt dafür, dass aus einem neuen Markt kein Kurzfrist-Hype wird: Denn wer einmal in einer Gemeinschaft gebunden ist, hat eine emotionale Austrittsbarriere. Und auch, wenn jener Markt irgendwann seinen Höhepunkt überschreiten sollte, wird ein substantieller Teil der Gruppenmitglieder bleiben. Die Frage ist, dann ob diese ausreichen, um den Markt wirtschaftlich weiter zu bespielen.

Panel zu Restaurants als Plattform (v.l.): Abuehlhiga (Mason Dixie), Senior (Colada Shop) und Kurtz (Mike’s Hot Honey)

Restaurants x Konsumgüterindustrie

Viele Gastronomen kämpfen ums Überleben und versuchen, neue Einnahmequellen zu finden. In den USA geht man dieses Thema strukturierter und professioneller an als in Deutschland.

„Restaurants sind Plattformen der Nachbarschaft“, sagte zum Beispiel Daniella Senior, Gründerin des Colada Shops, einem kubanischen Konzept mit drei großen und drei kleinen Filialen. Sie möchte, dass Menschen aus der Gegend den ganzen Tag in ihre Lokale kommen – vom Frühstück bis zum Absacker-Cocktail – und so ein Ort des Zusammenkommens und daraus eine Community entsteht. Und die kauft dann auch anderes, zum Beispiel Merchandising des Colada Shops. Gleichzeitig gibt es in den Seniors Gastronomien Produkte, die mit lokalen Produzenten entwickelt wurden – was sowohl die Bindung zu den Herstellern als auch zum Restaurant stärkt.

Genau solche Storys suchen amerikanische Lebensmittelhersteller. Denn Kooperationen mit High-End-Köchen in den USA funktionieren auf lange Frist nicht so gut, vielleicht weil die Erwartungen zu hoch sind oder bei den Gästen der Star-Chefs die Differenz zwischen dem Essen im Restaurant und dem im Supermarkt zu groß ist.

Was aber funktioniert, sind Kooperationen zwischen Herstellern und jenen Nachbarschaftsrestaurants mit einer guten Story. So wie Mason Dixie Foods: Was als kreative Pop-up-Bäckerei begann, ist heute eine Marke für tiefgefrorene Backwaren mit nationalem Vertrieb inklusive Marriott-Hotels.

Dabei geht es nicht darum, die Restaurants besucht zu haben, um die Produkte zu kaufen. Aber die Story eines kleinen Familienbetriebs als Mit-Absender eines Produktes schafft mehr Vertrauen als eine neue Marke, die erst emotional aufgeladen werden muss.

Besonders spannend fand ich die Geschichte von Mike’s Hot Honey. Mike Kurz verabschiedete sich aus der Musikindustrie und arbeitete in einer Pizzaria in New York. Dort verwendete er Honig mit Chili, den er aus Studientagen in Brasilien kannte. Und den fanden die Kunden so toll, dass er begann diesen selbst abzufüllen. Bald wurde daraus eine Marke in Kooperation mit einem Hersteller.

Heute wird der Honig US-weit vertrieben und Kurz orientiert sich an der Getränkeindustrie: „In Kneipen sieht man Leuchtschilder von Bier- oder Spirituosenmarken. Restaurants, die mit uns arbeiten, bekommen auch Neonschilder und Kleidung für den Service. Manchmal machen wir eine Illumination Ceremony, wenn ein neues Leuchtschild installiert wird. Außerdem wollen wir die Restaurants überzeugen, unseren Markennamen voll auszusprechen und unser Logo auf die Karte zu nehmen – das ist wichtig für die Markenbildung.“

Solch ein Markendenken halte ich auch bei deutschen Gastronomien für möglich. Als größte Hürde sehe ich eher, dass sie nicht wüssten, mit wem sie kooperieren sollten – hier müsste die Food-Industrie in Vorleistung gehen. Dank der mittelständischen Struktur derselben in Deutschland könnte dies aber unkomplizierter verlaufen, als in den USA.

Drahtloses Laden für E-Autos

Die überraschendsten Entdeckungen der SXSW macht man oft, wenn die Session, in die man eigentlich will, voll ist und man sich spontan neu entscheidet. So ging es mir mit „Untethered: Wireless Charging for EVs“.

Drahtloses Betanken von E-Autos? Klingt nach einer Zukunftsstudie, aber man kann sich das ja mal anhören, dachte ich. Und dann fiel meine Kinnlade runter.

Denn das kabelbefreite Laden ist bereit für die Serienproduktion. Witricity, ein Spin-off des MIT, wird in diesem Jahr schon die ersten Projekte umsetzen. Die Idee ist: Hersteller montieren unter ihre Fahrzeuge einen 30x30x5 cm großen Kasten, der rund 10 kg wiegt. Parkplätze werden mit einem ähnlichen Gerät ausgestattet. Zum Laden muss das Auto nur über diesem Kasten abgestellt werden – mehr nicht.

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Damit sind aktuell 10kw/h mit einer Effizienz über 90 Prozent erreichbar. Im Labor gibt es auch schon Varianten mit 75kw/h.

Somit könnten sich Autos ein Beispiel an Handys nehmen – auch die haben ja zwei Ladepunkte, einen mit Kabel, einen ohne. Ich finde diese Innovation spektakulär, auch weil Witricity-CEO Alex Gruzen sie in  angenehmer, fast trockener Unaufgeregtheit präsentierte.

Virtuelle Zäune in der Rinderzucht

Die Digitalisierung der Landwirtschaft fasziniert mich weiter. In den USA wird jetzt mit Virtual Fencing gearbeitet – wenn auch bisher im kleinen Rahmen, weil die Systeme so teuer sind.

Dabei bekommen die Rinder Halsbänder mit GPS-Ortung umgehängt. Im Kopf sollte man dabei haben, dass die Flächen Weideland riesig sind und die Tiere teils über Wochen allein herumlaufen. Entfernt sich ein Rind aus dem gewünschten Gebiet, wird zunächst versucht, es mit einem lauten Ton in die richtige Richtung zu schicken. Gelingt das nicht, gibt es – analog zum Elektrozaun – einen Stromschlag.

Dies hilft auch bei der nachhaltigen Bewirtschaftung, wie Matt Perrier, Besitzer der Dalebank Angus Ranch in Kansas erklärte. Rinder suchten Orte in der Nähe von Wasser und Schatten, grasten aber dort dann so lange, dass nichts mehr vom Gras übrig bleibe. Bisher mussten sie dann von Hand weitergetrieben werden, was den Tieren Stress macht. Nun ginge das einfacher, stressärmer und für die Natur nachhaltiger.

Studie: Der NetBall soll durch den Wald rollen und gehen und so unauffällig Fauna und Flora überwachen.

Häuser aus dem Drucker

Vor zwei Jahren stellte Icon aus Austin seine 3D-gedruckten Häuser erstmals vor. Das Musterhaus hat mich damals umgehauen – ich würde da sofort einziehen.

In diesem Jahr gab es den nächsten Schritt zu sehen. Ein neuer Drucker macht es möglich, zum ersten Mal zweigeschossig zu bauen, es gibt ein neues, CO2-ärmeres Baumaterial, eine KI-unterstützte Planungssoftware und einen Katalog von 60 Modellen, die direkt gebaut werden können.

Und auch die neuen Häuser würde ich sofort nehmen:

Foto: Icon

Musiktipps

Entstanden ist die SXSW aus einem Musikfestival. Auch heute noch gibt es das und es ist eine Plattform für junge Bands, die sich vor allem dem US-Markt präsentieren wollen. Meine persönlichen Entdeckungen in diesem Jahr:

The Manatees aus Southampton

Lo Moon aus Los Angeles

Ash als Wiederentdeckung

Und warum Noah Vonne, die ich vor zwei Jahren auf der SXSW zum ersten Mal sah, nicht längst ein Star ist, muss mir mal jemand erklären.

Noah Vonne

Neid fressen LinkedIn auf

Das waren nur einige der Eindrücke, Gedanken und Informationen, die ich in diesem Jahr aus Austin mitgenommen habe. Sie werden meinen Kopf und unser Geschäft bei kpunktnull nicht nur dieses Jahr beschäftigen, sondern tragen noch eine ganze Zeit weiter – so geht das jedes Jahr.

Ist das cool?

Über diese subjektive Kategorie darf jeder selbst entscheiden. Anstrengend sind vier bis fünf Sessions am Tag auf jeden Fall. Die SXSW macht Spaß, kostet aber, wenn man sie ernst nimmt, verdammt viel Energie.

Wenn Sie, liebe Lesenden, nun diesen Text hinter sich haben, dürfen Sie selbst entscheiden, ob man auf Basis eines Fotos diese Konferenz ins Lächerliche ziehen möchte.

Vielleicht aber haben Sie auch Lust, kommendes Jahr mal selbst hinzufahren. Ich habe mein Ticket für die 25er Ausgabe gestern gekauft.

Foto: SXSW


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