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Jahresanfang heißt seit langen Jahren hier in der Indiskretion Kaffeesatzlesen. Wie in jedem Jahr möchte ich versuchen, einen Blick auf die kommenden 12 Monate zu werfen.

Aber auch diesmal gilt, dass ich mich haftbar mache für das Zeugs, das ich vor einem Jahr unter dieser Rubrik veröffentlicht habe. Deshalb erstmal ein Fazit der Prognosen für das Jahr 2022:

NFT- und Krypto-Crash

Hab.

ich.

Es.

Nicht.

Geschrieben?

Schon früh im Jahr zeigte sich, dass die Kurse von NFT und Kryptowährungen aberwitzige Übertreibungen darstellten. Nur ein Beispiel: Im Mai war bereits der Miami Coin kollabiert, eine Währung, die von Miamis Bürgermeister untertützt wurde (und Miami ist/war eine Art Hauptstadt der Krypto-Szene).

Markenaktionen landeten reihenweise an der Wand. So mochte bei einer Chevrolet NFT-Auktion überhaupt niemand mitbieten. Andere Marken machten Geld mit NFT. Jedoch bleibt die grundsätzliche Frage: Möchte man als Marketeer seinen Kunden ein Marken-NFT andrehen, dass absehbar bald nichts mehr wert sein wird?

Im November brachte es dann die Europäische Zentralbank EZB in einer Deutlichkeit auf den Punkt, die leider medial zu wenig Beachtung fand: 

„Since Bitcoin appears to be neither suitable as a payment system nor as a form of investment, it should be treated as neither in regulatory terms and thus should not be legitimised. Similarly, the financial industry should be wary of the long-term damage of promoting Bitcoin investments – despite short-term profits they could make (even without their skin in the game). The negative impact on customer relations and the reputational damage to the entire industry could be enormous once Bitcoin investors will have made further losses.“

All dies war absehbar, schaltete man ein ganz altes Trendbeurteilungssystem ein: den gesunden Menschenverstand 

1:0 für mich.

Metaverse: viel Gerede um keinen Fortschritt

Auch hier: Treffer.

Zunächst einmal drücken sich die Propheten des Metaverse um eine genauere Definition. Das Laptop-Mag fasste das jüngst in seinem CES-Bericht schön zusammen: „From honest mistakes to cynical attempts to sound on trend with what the cool kids are talking about, practically every brand managed to force the turn of phrase into their promotional efforts. „

Was da so auf den Plattformen passiert erweckt tiefe Melancholie. So investierte die EU in eine Metaverse-Party – und kaum jemand kam. Als im Herbst Datenanalysten eine Prognose über die tatsächlichen Nutzer versuchten, kamen schockierende Zahlen heraus. Sollten sich auf Decentraland gerade mal 500 Nutzer täglich bewegen. Die Plattformen wiesen das zurück und veröffentlichten eigene Zahlen. Allein: 56.000 aktive Nutzer im Monat auf einer derart großen Digitalfläche sind reichlich weit vom Gefühl eines Ballungsmomentes entfernt.

Und haben Sie dieses plätschernde Geräusch gehört? Das war Mark Zuckerberg, der im November hektisch zurückruderte. Ein Hauptgrund für den Kursverfall seines Meta-Konzerns war ja, dass der Kapitalmarkt seinen wolkigen Metaverse-Träumen nicht folgte. Und so behauptete Zuckerberg bei einer Konferenz der „New York Times“:About 80% of our investments – a little more – go towards the core business, what we call our family of apps, so that’s Facebook, Instagram, WhatsApp Messenger, and the ads business associated with that. Then a little less than 20% of our investment goes towards Reality Labs.“

Dabei geht es nicht mal darum, ob Meta es irgendwann schafft, in seinem – selbst von MitarbeiterInnen kaum genutzten – Teil des Metaverse Avatar mit Beinen darzustellen (was aktuelle nicht möglich ist. „Fast Company“ schrieb dazu: „The Metaverse is as dead as Zuckerberg’s cartoon eyes“: 

„No matter how realistic you make the avatars, the big bang for the metaverse needs a user experience that technology won’t deliver for a very long time.“

2:0 für mich.

Hohles Buzzword des Jahres: web3

Das schönste Bild zum Thema web3 im Jahr 2022 ist dieses hier:

Die Vokabel selbst wird immer seltener verwendet und auch die dahinter liegende Grundtechnologie Blockchain entpuppt sich als das, was sie schon immer war: hoch sicher – und saulangsam. Nur zwei Beispiele für den Status Quo: Im November beerdigten Maersk und IBM ihr gemeinsames Projekt und die australische Börse gab auch auf.

Yup: 3:0.

Platzende Blase des Jahres: Flugtaxis

Im Laufe des Jahres 2022 manipulierten die Hersteller von Flugtaxis ihre Kommunikation. Immer seltener tun sie so, als seien sie Taxis, also ein Verkehrsmittel für jedermann. Stattdessen sagen sie immer häufiger, was sie tatsächlich – und absehbar – sein könnten: ein Verkehrsspielzeug der Reichen.

Beispiel Lilium: Am 28.9. schrieb das „Handelsblatt“ über das medial gefeierte Senkrechtstarterjet-Startup:

„Lange Zeit gab Mitgründer Wiegand die Devise aus, mit seinem Jet die Mobilität für die breite Bevölkerung verbessern zu wollen.

Mittlerweile klingt das etwas anders. Roewe nennt im Brief an die Aktionäre zunächst Premiumkunden, dann folgt erst der kommerzielle breite Einsatz.“

Kein Wunder, dass Lilium es schaffte, seinen Aktienkurs zwischen dem Börsengang im September 21 und dem November 22 um über 85% zu reduzieren. Und: Es brauchte auch noch frisches Kapital.

Der wichtigste Auftrag des Jahres kam dann auch aus jener Reichen-Ecke. Die saudische Airline Saudia will 100 Liliums kaufen, um „einen hochmodernen Service einzuführen, der für Gäste der Business Class neue elektrische Punkt-zu-Punkt-Verbindungen sowie nahtlose Anschlüsse an den Drehkreuzen“ zu bieten.

Für so ein Millionärs-Spielzug hätte sich Doro Bäer als Digital-Staatssekretärin sicher nicht so vehement ins Zeug werfen können, wie für ein Gerät mit dem so demokratisch klingenden Titel Taxi.

Immerhin: Lilium und Volocopter existieren noch. Der Mitbewerber Kitty Hawk, hinter dem Google-Mitgründer Larry Page und KI-Professor Konstantin Thrun standen, verkündete sein Ableben in einenm schnöden Tweet:

4:0 für mich

Stationärer Handel erlebt Innovationswelle

Nein.

4:1.

Das große Popup-Aufpoppen

Ja, so ein paar Popup-Stores und Restaurants gab es, zum Beispiel von Jimmy Choo oder BMW. Insgesamt aber reicht das nicht für einen Punkt. Dabei hatte ich aber auch den Denkfehler gemacht, dass sich die Pandemie-Situation sehr schnell wieder normalisiert.

4:2

Marken-Abos sollen Kunden binden

Nope – außerhalb von Medien kann ich wenig bis gar keine neuen Abo-Modelle ausmachen.

4:3

Content-Marketing lockert Preisdruck

Auch hier: Niete.

4:4

Kleine Zeitungen werden verkauft

Ein paar gab es, aber nicht genug für einen Punkt – 4:5.

2022 wird politisch

Unbestreitbar – 5:5.

Die Pandemie endet (in der westlichen Welt)

Zwar etwas später, als ich erwartet hatte, aber – ja.

6:5

Wirtschaft treibt die Veränderung

Definitiv. Kaum ein Großunternehmen, dass nicht versucht, sich umweltfreundlicher aufzustellen. Kreuzfahrer verwenden andere Brennstoffe, Sportartikelhersteller recycelte Kunststoffe, überall wird nach Möglichkeiten zum Strom- und Wassersparen gesucht.

Ich schrieb aber auch:

„Oft werden Unternehmen nicht so viel Wohlwollen ernten, wie sie dies gern hätten. Denn es gibt in jeder Facette des poltischen Spektrums in Deutschland ausreichend Akteure, die Unternehmen grundsätzlich dämonisieren.“

Und auch das stimmte leider.

7:5

Die Gesellschaft parzelliert sich – Gewalt inklusive

Noch hält der soziale Kitt in Deutschland besser als in anderen Ländern. Und noch beschränken sich die Umweltbewegungen auf das Festkleben an Gegenständen und Autobahnen – da hatte ich Schlimmeres befürchtet. Die Razzia gegen die Reichsbürger und die körperlichen Attacken gegen Journalisten bei Impfleugner-Demos zeigen jedoch, wie schmal der Grat ist.

Deshalb würde ich mir hier einen halben Punkt geben.

7,5:5,5

Die Karens kommen

Noch ist das suppenkasperige Beharren auf der eigenen Meinung und den durch Hautfarbe, Geschlecht und oder gefühlten Status bestehenden Privilegien in Deutschland nicht so flächendeckend problematisch wie in den USA.

Doch gibt es sie durchaus, die deutschen Karens und gern fahren sie Fahrrad. Egal, in welcher Stadt ich unterwegs bin: Überall sehe ich Fahrradfahrer die versuchen, Autos zu blockieren und sich selbst dabei in Gefahr bringen. So gibt es in Düsseldorf einen inzwischen berüchtigten Herrn, der gerne Schlagenlinien auf dem Radwegpart einer geteilten Straße fährt, um Autofahrer zu irritieren.

Oder nehmen wir diese Dame:

@llinelyklages2 Was sagst du dazu #deutschland ♬ Originalton – llinelyklages2

Diese unterdrückte Wut findet sich im Alltag immer wieder – aber nur ausreichend für einen halben Punkt.

8:6

Stealth Wealth

Die modische Orientierung an altem Geld fand sich bei einem signifikaten Teil der Mode des Jahres 2022. Gefördert wurde dieser Stil auch durch Serien wie „The Crown“, wo Dianas Sloan Ranger-Stil ins Gedächtnis gerufen wurde. Und das zeigte sich auch beim Comeback ganz alter Cocktails wie dem Espresso Martini. 

9:6

Überfluss für Normalos

Eher nein. Hier wirkten sich der Ukraine-Krieg und seine Folgen bremsend aus.

9:7

Depression wird Top-Thema

Hm. Es wurde mehr über mentale Gesundheit gesprochen, gesendet und geschrieben. Aber weniger, als ich erwartet hatte. Dies hängt sicherlich auch mit dem raumgreifenden Kriegsthema zusammen. Enttäuschend war vor allem, dass zu wenig über die Gründe von Depressionen öffentlich nachgedacht wurde. Mir schien es, dass sie eher als unabänderliches Fakt da sind, statt sich zu fragen, wie wir als Gesellschaft mit einer steigenden Zahl von Menschen umgehen wollen, die mit ihrer mentalen Gesundheit kämpfen.

Auch hier: halber Punkt.

Endstand: 9,5:7,5 – und das ist doch mal ein exzellentes Ergebnis. Vor allem, weil die großen Tipps ja durchaus eintrafen.

Womit wir zum frisch aufgebrochenen Jahr kommen – hier sind sie, die glaskugeligen Kaffeesatzlesereien 2023:

Begriff des Jahres: Generative KI

Im Bereich der digitalen Technologie laufen gewisse Entwicklungen in vorhersehbarer Art ab – zum Beispiel der berühmte Hype Cycle. Oder aber, wie Digital-Vordenker Clay Shirky einmal formulierte, dass das was heute spielerisch und albern wirkt zum nächsten, großen Ding wird.

Genau das sehen wir derzeit im Bereich der generativen KI. Darunter versteht man jenes Feld der Künstlichen Intelligenz, bei dem ein Algorithmus vorhandene Bilder, Texte, Töne oder Videos nimmt und sie in neue Werke verwandelt.

In diesem Januar sind solche Anwendungen das Spielzeug du jour, sei es bei Bildern in Gestalt von Dall-E oder bei Texten in Form von ChatGPT.

Die Ergebnisse sind „leicht erschreckend“, um Ryan Reynolds zu zitieren, den derzeit vielleicht kreativsten Kreativen Hollywoods. Er ließ ChatGPT einen Werbespot für das Mobilfunkangebot Mint schreiben, an dem er beteiligt ist:

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ChatGPT zeigt auch, wie die nähere Zukunft von Artificial Intelligence architektonisch aussehen dürfte. Einerseits gibt es die eigentliche KI, vergleichen wir sie mit einem See. Und auf dem liegt dann eine Schicht von Anwendungen, die wie Tretboote, Angler oder Schwimmer die Fähigkeiten dieses Sees nutzen.

Der Haken an der Sache: Der Großteil von Unternehmen und NutzerInnen wird sich über den See treten und sich den Fisch servieren lassen ohne zu wissen, wie sich der See eigentlich zusammensetzt. Genauso, wie naive Krypto-Anleger überrascht sind, dass einzelne Währungen und Plattformen eng miteinander verknüpft sind, werden jene Tretbootpassagiere und Fischfreunde böse Überraschungen erleben, ob der problematischen Basis, auf der ihre KI-Programme unterwegs sind.

War das Bild jetzt zu schief?

Schon tauchen die ersten interessanten Fragen auf. Zum Beispiel: Wer hat das Copyright an solch einem, per KI generierten Werbetext? Sind Berufe wie Redakteur, Synchronsprecher oder Bildrechercheur künftig überflüssig? Übernehmen Roboter am Donnerstagnachmittag die Weltherrschaft?

Die öffentliche Begeisterung für solche spielerischen Anwendungen löst für gewöhnlich zweierlei aus: Zum einen wollen gründungswillige Experten vom Boom profitieren, zum anderen begeistern sich Geldgeber für das Segment. Folge: noch mehr Anbieter im Feld.

Ersteres passiert nicht öffentlich, das Zweite sehen wir bereits. So verbündete sich Microsoft jüngst mit OpenAI, der Plattform auf der ChatGPT und Dall-E basieren, und die Chat-KI GameOn sammelte im Dezember frisches Geld ein.

Im Jahr 2023 wird das Thema Künstliche Intelligenz im Kapitalbereich die Rolle übernehmen, die in den vergangenen Jahren Krypto in all seinen Facetten so wie das Metaverse innehatten. Sprich: Es ist das Buzzword, mit dem Investorengelder angesogen werden, auch wenn oft genug nur heiße Luft hinter den Ideen steckt. 

Im Gegensatz zu jenen Schneeballsystemen, Betrugsmodellen und Wolkenkuckucksheimen gibt es im Bereich der KI reale, sinnvolle Anwendungen. Und deshalb wird diesen Investments auch etwas folgen.

Allerdings: Wir werden auch sehr viel über die jetzt schon offensichtlichen Schwächen dieser Systeme reden. Denn was ChatGPT oder Dall-E ja betreiben ist „stochastic parroting“, also das dateigetriebene papageiartige Zusammenmixen vorhandener Informationen – ob die korrekt oder ästhetisch sind, können diese Angebote nicht erkennen.

Dabei werden wir 2023 die Früchte dieser neuen KI-Startups nur in den Anfängen sehen. Aber es wird reichlich Diskussionen um Künstliche Intelligenz geben und in deutschen Talkshows werden die handelsüblichen Technikdämonisierungszirkel beieinandersitzen. 

Digitalmarketing: Sales, Sales, Sales

Für qualitatives Onlinemarketing wird 2023 kein schönes Jahr. Die Inflation wird zwar sinken, aber relativ hoch bleiben, die Unsicherheit ebenfalls. Das bedeutet, dass Verbraucherinnen und Verbraucher in vielen Bereich vorsichtig sein werden und viel Wert auf niedrige Preise legen.

Für Nicht-Discounter wäre die richtige Strategie in dieser Situation in die Markenbildung zu investieren. Stattdessen passiert das Gegenteil: Qualitätsanbieter wollen bei den Billigen mitspielen. Erstes Beispiel: In seiner neuen Kampagne geriert sich Edeka als Lidl- und Aldi-Konkurrent.

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Ähnlich wird es online laufen. Statt mit Kommunikation und Brand-Building vorhandene Kunden zu binden wird sich ganz viel um Sales, SEO und andere Media-Arten drehen. Dies wird dann die Media-Preise nach oben treiben und das ganze Unterfangen konterkarieren. 

Weshalb es auch die andere Seite geben wird: Neue Marken, zum Beispiel aus dem Direct-to-consumer-Umfeld, haben alle Chancen. 

DeFi-Domino-Day

Das Versprechen von Kryptowährungen, NFT, DAO und Smart Contracts war es, eine neue, dezentralisierte Finanzwelt zu erschaffen. Diese Idee war von Anfang an fragwürdig, ihre Durchführung von Tag 1 an eine Lüge.

Tatsächlich ist diese neue DeFi-Welt viel zentralisierter als das Bankensystem: Wenige Player finanzieren und beherrschen den Markt, untereinander gibt es erhebliche Verflechtungen. Und das bedeutet, schon der Zusammenbruch eines kleines Rädchens im Getriebe lässt das System implodieren – das zeigten am Jahresende die Verwerfungen rund um FTX.

Doch der Zusammenbruch der Kryptoszene ist ja noch nicht beendet. Wir werden auch im Laufe des Jahres 23 sinkende Kurse sehen und damit verbunden bilanziell destabilisierte Marktteilnehmer erleben. Für den Pfeffer in den offenen Wunden sorgen dann ermittelnde Behörden.

Sprich: 2023 wird für die Kryptoszene zum Domino Day. 

Blockchain-Ernüchterung

Schon für das Jahr 2019 hatte ich hier spannende Blockchain-Ideen prognostiziert – und sie kamen nicht. Und so geht das, seit der Begriff erstmals auftauchte. Die Hoffnung ist groß, erfüllt wird sie kaum. Irgendwann muss man der Sache wohl ins Auge sehen: Blockchain sorgt für ein sehr hohes Maß an Sicherheit, eine Grauzone in Sachen DSGVO und vor allem für signifikant langsamere Systeme.

Das gesunkene Interesse zeigt sich auch bei den Such-Volumina:

Mehr noch: Am häufigsten wird in Ländern gesucht, die in Sachen Internet-Seriosität eher mittelmäßig beleumundet sind.

Weshalb ich glaube: 2023 wird über Blockchain kaum noch geredet werden. Und das wird sich bis auf absolute Nischenbereiche nicht mehr ändern. 

Startup-Sterben

Die Finanzmärkte hatten kein schönes Jahr. Waren die vergangenen Jahre geprägt von einem Überangebot von Investmentgeldern, haben die steigenden Zinsen und der Kollaps von Kryptowährungen die Lage verändert.

Wer nicht schnell genug aus dem Krypto-Schneeballsystem raus ist, wird entweder vorsichtiger oder auch den Rest seines Vermögens verlieren. Die steigenden Zinsen wieder verschieben Gelder von Großinvestoren in Richtung Anleihen.

Diese changierende Situation, gepaart mit einer China-Ukraine-bedingten Unsicherheit bringt Unruhe in das Verhältnis von Startups und ihren Investoren. Letztere werden weitere Investments sehr genau überdenken.

2023 wird deshalb ein Jahr des Startup-Sterbens werden. Auch Corporate-VC und Accelerator-Programme werden schrumpfen. Gesamtwirtschaftlich muss das nicht schlecht sein, denn vor Beginn des Ukraine-Kriegs war es fast schon zu einfach für junge Unternehmen, eine Finanzierung zu bekommen. 

Innovationsfundament

Nicht nur im Bereich Artificial Intelligence wird 2023 eine Art Anlauf-Jahr werden, um dann einen großen Sprung zu machen. In den vergangenen Monaten gab es in der US-Techszene einen erheblichen Stellenabbau und jene, die ihren Job verloren, werden nicht umschulen zu FleischwarenfachverkäuferInnen. In Deutschland wird sich ein vergleichbarer Effekt wie zuvor beschrieben ergeben.

Doch wer sich selbständig machen will, wird weiter selbständig machen. Zwar mangelt es derzeit an Kapital, aber nicht an guten Leuten, um Ideen zu verwirklichen.

In diesem Jahr werden deshalb viele, spannende Startups entstehen. Wir werden sie vielleicht noch im vierten Quartal 2023 sehen, wahrscheinlicher aber erst im kommenden Jahr.  

Kulturkampf ums Home Office

Bekanntermaßen teile ich die Begeisterung um das Home Office nicht. Im Sommer 2020 beschrieb ich meine Bedenken länger, ein Jahr später bestätigten sich die Sorgen in zahlreichen Studien. 

Wir Menschen wissen halt nicht immer, was gut für uns ist. Und das betrifft auch die Vorstellung, dass  ein dauerhaftes Arbeiten aus der eigenen Wohnung total schnafte ist.

Im kommenden Jahr werden wir mehrere Entwicklungen sehen, die zum internen Kulturkampf in Unternehmen werden könnten. Unter anderem

  • Unternehmen werden spüren, dass es praktisch unmöglich ist, neue MitarbeiterInnen rein digital in eine bestehende Firmenkultur einzugliedern.
  • Die Vorgabe bestimmter Tage, an denen der Großteil der Belegschaft sich im Büro treffen soll, wird sich als nicht praktikabel erweisen.
  • Deshalb werden viele Unternehmen wieder zur Büropflicht an mindestens 4 Tagen zurückkehren.
  • Die Zahl mentaler Erkrankungen aufgrund von Home Office wird zunehmen.
  • Das Murren in großen Unternehmen mit physischer Produktion wird zunehmen – Büroarbeiter im Home Office werden als Faulpelze angesehen.

2023 wird ein turbulentes Jahr, in dem es in vielen Unternehmen ob dieses Themas krachen wird. Es wird Abgänge geben, weil MitarbeiterInnen unbedingt im Home Office arbeiten wollen und Abgänge, weil genau das nicht gewünscht ist. 

Außerdem werden sich Großunternehmen MitarbeiterInnen leisten, die über Events versuchen sollen, die Belegschaft ins Büro zu bekommen. 

Filterblasen-Liebe

Bislang war Social Media das größte Filterblasenzerplatzinstrument in der menschlichen Geschichte. Und weil wir entdeckten, dass die Menschen um uns herum manchmal Ansichten vertreten, die sich  von den unseren signifikant unterschieden, rieben wir uns aneinander – Filter Clash nannte das der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.

Die Pandemie war solch ein Filterblasenzerplatzen auf Speed. Jeder erlebte andere Personen, die er oder sie zuvor wertschätzte und die nun Zweifel an der Wirkung von Impfstoffen hegten oder Verschwörungstheorien nachhingen. Das Ausmaß dieses Filter Clashs war so heftig, dass wir nun erleben werden, wie wir als Gesellschaft genug voneinander haben – wir werden uns separieren und Filterblasen bewusst suchen.

Jüngere agieren bereits so, sie ziehen sich auf digitale Kommunikationswege zurück, in denen sie scheinbar die Kontrolle haben – ein Beispiel dafür ist der Erfolgszug von Discord. Selbst die debattierverliebte Digitalsphäre hat, um es münsterländisch-direkt zu sagen, die Schnauze voll. Bei einigen herrscht fast eine religiöse Begeisterung für Mastodon als Twitter-Alternative, weil dort wenig bis gar keine Kritiker auflaufen.

2023 werden wir neue Social Media-Plattformen sehen (und den Aufstieg vorhandener), die divergente Gruppen und Meinungen voneinander separieren. Gut für die Gesellschaft wird das nicht sein, denn wir bräuchten mehr Berührung mit jenen, die anders denken – nicht weniger. 

Problembär: junge Männer

In der Folge 10 der herausragend sehenswerten Fußball-Doku „Welcome to Wrexham“ geht es um Hooliganism. Irgendwann fällt sinngemäß der Satz: Dort wo sozial unterprivilegierte, junge Männer mit Alkohol gepaart aufeinander treffen, kann Hooliganism entstehen.

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Diesen Satz kann man schon mal im Hirn bewegen in einer Zeit, da wir über den Missbrauch von Feuerwerkskörpern an Silvester debattieren.

Denn junge Männer stellen das kommende Großproblem unserer Gesellschaft dar. Nicht alle, natürlich – aber eine signifikant große Minderheit. In ihnen paart sich das Krisengefühl ihrer Generation, eine Mixtur aus Existenzangst und Unsicherheit ob der eigenen Ziele, mit einem gefühlen Statusverlust und der Kolllision mit der Werthaltung, mit der sie erzogen wurden.

Quer durch die Gesellschaft sind diese jungen Männer ja mit klassisch männlichen Ansprüchen aufgewachsen, ohne dass dies bewusst von Seiten der Eltern gepusht wurde. Jungs bekamen Pistolen geschenkt, Mädchen die Puppen. Dies verändert sich in der Erziehung, aber eben nicht von heute auf Morgen – dieser Prozess wird Jahrzehnte dauern.

Entstanden ist ein Männlichkeitsanspruch, der natürlich keine Null- oder Eins-Einstellung ist, sondern auf einer Skala ausgelebt wird. Dieses Ausleben kollidiert mit einem signifikanten Teil der jungen Frauen dieser Altersklasse, die ein ganz neues Selbstbewusstsein ausleben. Folge: Der Single-Anteil wird steigen, bei Männern eher ungewollt, bei Frauen eher gewollt. Dass wir auf dem Weg sind zeigt, dass junge Männer weltweit Orientierung in Form von Gemeinschaften suchen – auch wenn diese durch negatives Verhalten geprägt sind: Krypto-Bros, Incels, Fußball-Ultras…

Gleichzeitig findet im Arbeitsleben ein Aufholprozess der Frauen statt. Und natürlich ist es frustrierend, wenn man als junger Mann schlechtere Chancen im Bewerbungsprozess hat, einfach aufgrund des Geschlechts.

Dies wird gesellschaftlich thematisiert und so entsteht selbst bei jenen, die von diesen Entwicklungen nicht direkt betroffen sind, die Angst vor einem Statusverlust.

Angst erzeugt Aggression sowie das Verbünden mit Gleichdenkenden. Und deshalb werden wir 2023 mehr aggressive, gewaltbereite, junge Männer erleben, die Parteien außerhalb des demokratischen Spektrums Zulauf bringen werden. 

OK, GenZer – der Woke-Backlash

Dieses Comedy-Stück der BBC zeigt nur einen Hauch weit übertrieben, wie sich manche Menschen in dieser Zeit vorkommen:

@bbc_scotland The chief wants to apologise… #scotsquad #scottishcomedy #scottishtiktok #scottishbanter ♬ Scot Squad The Chief Apologises – BBC Scotland

Dieses Gefühl, es niemandem Jüngerem mehr Recht machen zu können, ist intensiv bei Menschen über 40. Das ist auch nicht verwunderlich. Denn die GenZ stellt lautstark und mit einem Hang zum Absolutismus und ohne Bereitschaft zu Ambivalenz und Kompromiss Forderungen auf. Alte Managementsprüche wie „My way or the highway“ oder „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ könnten auch von dieser Generation geprägt worden sein.

Damit will ich diesen Forderungen ihre Dringlichkeit und Richtigkeit nicht absprechen, egal ob es um Umwelt, Diversität oder den Umgang mit Minderheiten geht. Nur: Wer in einer Gesellschaft Ziele erreichen will, muss mehr tun als laut zu sein und sich an einem Bilderrahmen festzukleben.

Die älteren Generationen sind aufgewachsen mit der Entwicklung von Wegen, um Ziele zu erreichen und einer Umsetzung im Rahmen eines ermüdend langsamen, demokratischen Prozesses. Bei vielen gährt das Gefühl, die Jüngeren wollten halt auf die Schnelle ihren Willen haben, während man selbst hart dafür arbeiten musste. Grund dafür ist sicher auch, dass in der öffentlichen Kommunikation der Aktivistengruppen aus dem Bereich Umwelt Endziele weiträumig ausgerufen werden, es aber beim Weg, diese zu erreichen, recht schwammig bleibt.

Wie gesagt: Die Ziele sind im Grundsatz legitim. Doch die Vorgehensweite stößt bei immer mehr Menschen auf Ablehnung, obwohl sie diese Legitimität ebenfalls sehen.

Im Jahr 2019 antworteten Jüngere eine Zeit lang auf Äußerungen, die idealtypisch für eine ältere Generation, die sich ihrer Privilegien nicht bewusst waren: „OK, Boomer“. Es war die digitale Version des alten Ruhrpott-Kommentares „Leg Dich gehackt.“.

2023 werden wir eine Art „OK, GenZ“ erleben. Die Themen, die jener Generation wichtig sind, werden nach vorne gebracht – aber immer weniger unter Beteiligung der Jüngeren. Aktivisten jeder Couleur werden immer weniger Einfluss haben, es könnte sogar sein, dass Aktivismus als solcher – leider – einen derartigen Imageschaden erleidet, dass er immer unbedeutender wird. Und natürlich: Das wäre ein Schaden für die Gesellschaft. 

Das große Printmediensparen

Strom wird zwar teurer, trotzdem sind rein digitale Geschäftsmodelle weniger von den Krisen rund um den Ukraine-Krieg und China-Covid betroffen, als jene mit physischen Komponenten – auch im Medienbereich.

Dort erleben Print-Verlage einen nie erlebten Kostenanstieg: Die Papierpreise verdoppelten sich in 2022, die Energiekosten laufen desgleichen aus dem Ruder. Doch auf die Abonnenten lässt sich das kaum umlegen – Print-Abos werden seit langer Zeit Jahr für Jahr teurer als es nur die Inflation begründen würde. Schon gibt es Kürzungen bei der Zahl der Seiten. 

Na gut, wird halt alles digital, könnte man sagen. Doch einerseits sind viele Lokalverlage noch immer nicht im aktuellen Jahrtausend angekommen, andererseits sind die Digitaleinnahmen deutlich geringer als die für Print-Produkte.

2023 werden Alt-Verlage deshalb erheblich Kosten kürzen. Ob personalseitig da noch viel möglich ist, halte ich für fraglich. Weshalb es zu Titeleinstellungen kommen könnte, genauso aber auch zu einer Reduzierung der Ausgaben von Zeitschriften und Zeitungen. 

Neue Generation Influencer via TikTok

Bislang ist ein großer Teil der Influencer-Branche stark getrieben von Filterblasen. Es gibt Menschen mit hoher Reichweite, deren Tun aber außerhalb der Einflusssphäre ihrer Anhänger wenig Beachtung findet. Vielleicht ist Ricardo Simonetti der Einzige in Deutschland, der als digitaler Beeinflusser bekannt wurde und nun über eine beständige massenmediale Präsenz verfügt.

Das liegt auch daran, dass die Tätigkeit eines Influencers abgestimmt ist auf das, was Social Media-Plattformen fordern und nicht andere Medienformate. Doch nun gibt es eben eine Plattform, die anders tickt – TikTok.

Durch die Mischung aus Bewegtbild, Text, gesprochenem Wort und Musik ist TikTok eine Melange der  klassischen Medien. Und somit tauchen dort auch Kreative auf, die auf anderen Plattformen eher weniger Reichweite erzielen würden.

Im Jahr 2023 werden wir TikTok-Creator erleben, die den Sprung ins Fernsehen, Radio und andere Medien schaffen. 

Und ich lege noch was Boldes nach:

Der deutsche Beitrag für den Eurovision Song Contest wird ein TikToker werden. 

Rogue Geoengineering

Manchmal Sehr oft kann man sich über deutsche Medien nur wundern. Vor Weihnachten berichtete, wenn ich das richtig sehe, nur Golem über eine Meldung, die bei vielen Naturwissenschaftlern Unruhe auslöste, weil sie klingt wie aus einem schlechten Science Fiction-Roman.

Das Geoengineering-Startup Make Sunsets behauptet, in einem Test über einen bei Amazon gekauften Wetterballon Schwefelpartikel in die Stratosphäre eingebracht zu haben. Diese sollen die Erderwärmung bremsen. Für diesen Test gab es keine Genehmigung, es ist überhaupt fraglich, ob sie nötig wäre und auf welchem Weg sie zu beantragen wäre. Die mexikanische Regierung hat der Sache erstmal einen Riegel vorgeschoben. 

Die Folgen solcher Experimente sind – genauso wie die Folgen etlicher Ausprägungen von Geoengineering unabsehbar. Jene Schwefelpartikel kühlen theoretisch tatsächlich die Atmosphäre runter – doch in welchem Ausmaß und wie sie sich dann verteilen, ist wissenschaftlich umstritten.

Startups im Feld des Geoengineering gibt es reichlich und die Vermutung liegt nahe, dass unter ihren Chefs auch etliche Anhänger des Libertären Denkens weiter Teile des Silicon Valley zu finden sind.

Und deshalb werden 2023 etliche Berichte (vielleicht nicht in deutschen Medien) über wildes Geoengineering und die moralischen Fragen dahinter lesen. 

Das sind sie also meine glaskugeligen Kaffeesatzlesereien. Und wie immer freue ich mich über Einwürfe, Lob, Kritik und so nen Zeugs in den Kommentaren.


Kommentare


Tim 21. Januar 2023 um 21:23

<i>Stattdessen passiert das Gegenteil: Qualitätsanbieter wollen bei den Billigen mitspielen. Erstes Beispiel: In seiner neuen Kampagne geriert sich Edeka als Lidl- und Aldi-Konkurrent.</i>

Oh, Edeka ist ein Qualitätsanbieter? Im Gegensatz zu etwa Aldi? – Davon höre ich jetzt zum ersten Mal. Wenn ich mir irgendwo versehentlich Schimmelobst einpacke, dann bei "Wir lieben Lebensmittel" Edeka. Selbstverständnis und Realität klaffen bei denen weiter auseinander als bei jedem anderen Supermarkt.

Antworten

Thomas Knüwer 23. Januar 2023 um 9:32

@Tim: Aha, Schimmelobst. Wo könnten Sie sich das denn bei Aldi oder Lidl einpacken? Ach ja, nirgends. Denn schon das zeigt ja den Unterschied zwischen Discountern und höherwertigen LEH-Mitbewerbern: Frischetheken. Und natürlich ist die Edeka-Landschaft durch ihre Struktur inhomogener als andere, aber Konzepte wie zum Beispiel das, was Zurheide in Düsseldorf auf die Beine gestellt hat, stehen über dem Rest, was Deutschland zu bieten hat.

Antworten

Tim 23. Januar 2023 um 9:56

@ Thomas Knüwer: Positive Einzelfälle mag es durchaus geben. Ich kenne auch einen, sogar fast zwei richtige gute Märkte. Qualität ist aber in der Fläche sicher kein gelebter Kernwert bei Edeka. Und klar kann man Schimmelobst via Spin "Frischetheke" zu einem Qualitätsmerkmal umdeuten, aber damit wird man genau niemanden überzeugen.

Antworten

Thomas Knüwer 23. Januar 2023 um 17:25

Eine Frischetheke ist kein "Spin". Dahinter steht eine andere Logistik und ein anderer Anspruch. Denn die Frischetheke bezieht sich ja nicht nur auf Obst, sondern ebenso auf Fleisch, Käse und manchmal Fisch.

Antworten

Uwe 23. Januar 2023 um 10:40

Ist "Die Pandemie endet" nicht eher "Die Pandemie wurde (von inkompetenten PolitikerInnen) als beendet deklariert"?

Antworten

con2epa 23. Januar 2023 um 10:42

Ich weiss nicht, wann Sie zuletzt in einem Aldi waren, aber im Raum Duisburg/Essen, wo beide Namen vertreten sind, gibt es bei Aldi umfangreiche Obst- und Gemüsetheken. Frisch, zum Selber aussuchen. Auch ein Kühlregal mit "ToGo-Artikel" ist verfügbar. Von den ganzen Markenprodukten ganz zu schweigen.

Gleichzeitig hat zum Beispiel unser REWE seine Frischetheke, wo man früher Käse und Fleisch abschneiden konnte, eingestellt. Ja, der REWE hier sieht innen noch ein bisschen schöner aus, Aldi hat aber nicht mal mehr einen billigeren Boden. Bei REWE kann ich sogar günstiger einkaufen, weil sie durch ihre Eigenmarken eine größere(!) Auswahl an "Dicounterprodukten" bieten.

Ich fürchte, Discounter und Supermarkt kann nur noch anhand der Auswahl in Zahlen unterschieden werden. Die Welt ist auf den Kopf gestellt. 😉

Mag jetzt anekdotisch sein, Ihre Aussage aber nicht weniger. ^^

Antworten

Thomas Knüwer 23. Januar 2023 um 17:26

Diese Frischetheken bei Aldi sind aber die Ausnahme in Vorzeigemärkten. Das unterscheidet die Kette dann von anderen. Und das ist auch gut so – Discounter können nicht das gleiche bieten, sonst würde es ja teurer. Gleichzeitig gibt es erste klassische LEHler die ihre Frischetheken aus Kostengründen einsparen. Bis das aber flächendeckend zu beobachten ist, wird noch Zeit vergehen. Im Endeffekt werden wir möglicherweise eine Markt-Polarisierung haben, wie sie anderswo auch zu beobachten ist: Auf der einen Seite Qualitätsanbieter mit hohen Preisen, auf der anderen Seite Discount. Das wäre voraussichtlich das Ende von Edeka oder Rewe, denn es gelingt klassischen Unternehmen selten, ihre Kostenstrukturen derart umzubauen, dass sie mit Billiganbietern mithalten können – egal in welcher Branche.

Antworten

Michael 23. Januar 2023 um 17:32

"Wer in einer Gesellschaft Ziele erreichen will, muss mehr tun als laut zu sein und sich an einem Bilderrahmen festzukleben"
Interessant, dass dieser Satz ausgerechnet in dem Absatz steht, in dem es um die angebliche Kompromisslosigkeit der Jüngeren geht. Die Mitglieder der Letzten Generation sind angeblich zwischen 19 und 73 Jahren alt. Letztens stand einer vor Gericht, der war jugendliche 59 Jahre. Die typischen Aktivisten, die sich auf die Straße kleben, haben oft selber bereits Kinder – zumindest diejenigen, die sich in den Medien präsent zeigen.
Sie mögen bei jüngeren Menschen mehr Zuspruch haben als bei Älteren, aber dass die jüngere Generation grundsätzlich weniger kompromissbereit wäre als zu früheren Zeiten, kann ich ganz gewissen nicht behaupten. Da waren die 68er (bis hinein in die grün-alternativen Listen der späteren Jahrzehnte) doch wesentlich radikaler und fundamentalistischer.

Antworten

Thomas Knüwer 24. Januar 2023 um 9:25

Hm… Letzteres würde ich bestreiten. Die Forderungen der 68er entstanden ja in langen, ermnüdenden Diskussionen im Rahmen von Uni-Vollversammlungen inklusive der Abstimmung in Papieren. Wenn man das heute betrachtet, wirkt es ja fast wie eine Satire. Und die Idee vom "Marsch durch die Institutionen" wurde von Rudi Dutschke entworfen. Sie ist das exakte Gegenteil von dem, was derzeit (noch?) von Seiten der Umweltbewegung zu beobachten ist. Dass auch Ältere dabei sind ändert ja nichts daran, dass die Bewegung von den Jüngeren getrieben wird.

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Michael 25. Januar 2023 um 11:56

Ich war damals nicht dabei, aber die Diskussionen fanden doch eher eintern statt und nicht als offene Bühne, an der jeder teilnehmen konnte. Dass einzelne auch sehr gesprächsbereit waren, ist ja kein Widerspruch (und Rudi Dutschke ist ein Extrembeispiel, er hat schließlich erkannt, dass auch die Arbeiterschaft stärker eingebunden werden musste). Trotzdem würde ich sagen, dass die heutige Generation wesentlich gesprächsbereiter ist als die Generation "Trau keinem über 30". Heutzutage wird mit den Omas gegen Rechts oder mit Parents for future zusammen demonstriert.

Dass die Aktionen von der Letzten Generationen u.ä. von den jüngeren getrieben wird, würde ich bezweifeln. Anscheinend hat das aber bisher noch keiner genauer untersucht (ich finde nichts dazu). Eher handelt es sich um die Generation, die in der Kindheit noch schneereiche Winter und verregnete Sommer erlebt hat und jetzt mit Grausen sieht, wie ihre Kinder aufwachsen müssen.

Aber selbst wenn es anders wäre: Diejenigen, die sich "am Bilderrahmen festkleben", sind ohnehin eine ganz kleine Minderheit und bestimmt nicht stellvertretend für ihre Generation. Die typischen Jugendlichen sind Digital Natives vom Typ Influencer/Startup-Gründer oder, wenn stärker politisch engagiert, brave Friday-for-Future-Demonstranten mit Hang zum Vegetarismus. Also durchaus dialogbereit.

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Thomas Knüwer 25. Januar 2023 um 13:32

Ich weiß nicht, woher Sie diese Ansicht haben. Es gab zig Uni-Vollversammlungen, Räte, die Asta, etc. Und die kommunizierten intensiv miteinander. Die Abspaltung der RAF erfolgte ja auch deshalb, weil den Handelnden zu viel geredet wurde und zu wenig gemacht. Die Gesprächsbereitschaft der heutige Aktivisten kann ich persönlich nicht ausmachen. Es gibt harte Zielformulierungen und wenig Akzeptanz gegenüber anderen Meinungen. Letztlich kommt immer das Totschlagargument (pun intended), dass es ums Überleben geht. Das ist ja auch nicht falsch. Nur gibt es zu wenig Vorschläge für die konkreten Wege dahin.

Wenn Sie von der Generation schreiben, die noch schneereiche Winter erlebt hat – das wäre dann ja so meine (Jahrgang 69). Die sehe ich dann doch eher nicht als die führenden Köpfe.

Ihr Bild von der jungen Generation würde ich dann absolut gar nicht mehr unterschreiben (als Arbeitgeber komme ich ja auch in Kontakt). Viele träumen von der Startup-Gründung, aber die wenigsten sind hart genug das durchzuziehen. Startup-Gründung und Work-Life-Balance vertragen sich nun mal nicht. Aber natürlich: Aktivisten sind immer nur eine besonders engangierte Minderheit ihrer sozialen Schicht.

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Michael 25. Januar 2023 um 13:49

Sie widersprechen sich hier gerade selbst. "Viele träumen von der Startup-Gründung" – eben, sowas geht halt nicht, wenn man nicht dialogbereit ist und keine anderen Meinungen zulässt. Ob man das dann auch durchhält, ist eine andere Sache, die hier nicht von Bedeutung ist.
Ich glaube, Sie verorten die "harten Zielformulierungen" auf der falschen Seite, zumindest wenn es um das Thema Klima gehen sollte (so habe ich das mit dem Festkleben an Bilderrahmen verstanden). Die kommen nicht von der "jungen Generation" (ich fühle mich wie ein Opa, wenn ich sowas schreibe), sondern die Bundesregierung hat sich in Pais vertraglich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das 1,5-Grad-Ziel eingehalten wird. Dass wir das nicht schaffen werden, wenn wir die Kohle unter Lützerath verfeuern, ist wissenschaftlicher Konsens, darüber gibt es grundsätzlich nichts zu diskutieren. Dass es trotzdem geplant ist, bedeutet nicht, dass irgendwelche Maximalforderungen der "Jungen Generation" (ich sterbe innerlich schon wieder) nicht erfüllt werden, sondern dass die Bundesregierung vertragsbrüchig wird.

Über das Wie und Wann wird dagegen durchaus sehr offen gestritten und diskutiert, und zwar generationenübergreifend. Es besteht keineswegs übergreifend Einigkeit darüber, ob wir ein Tempolimit brauchen und wenn welches, oder ob Flüge verboten werden sollten, oder ob Kohlekraftwerke weiterlaufen sollten und das mit den Atomkraftwerken passieren soll. ich weiß nicht, wo Sie Ihre Informationen hernehmen, aber solche Diskussionen werden sowohl in sozialen Medien als auch in den üblichen Kanälen sehr intensiv und offen geführt. Von einigen radikalen Aktivisten sollte man sich nicht in die Irre führen lassen.

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Manuel 26. Januar 2023 um 10:25

Bezüglich Home-Office sehe ich nur zwei Optionen: alle oder niemand. Zwischenformen sind durchaus problematisch.

Wenn alle remote arbeiten, basieren darauf wichtige Teile der Firmenkultur. Beispielsweise dass Vertrauen vor Kontrolle geht, dass asynchrone Kommunikation der Standard ist, dass Videocalls normal sind, dass Arbeit nicht Familie ersetzen soll.

Realistischerweise sind es eher kleinere Firmen, die in ein solches Setup wechseln können.

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