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Derzeit ist viel Aufruhr im Düssel-Dorf. Denn Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) versucht mit Influencer Marketing eine bestimmte Schicht der Jugend zu bedachtem Verhalten in Sachen Corona zu überreden.

Dazu hat er den Rapper Farid Bang engagiert – und damit beginnt (zur Erinnerung: in diesem Jahr findet auch die OB-Wahl statt) eine Debatte, die für mich vor allem eines zeigt: Wie wenig sich das Bildungsbürgertum in Deutschland mit der Realität der Gesellschaft beschäftigen mag und wie sehr man sich auf schlichte, die Intellektualität des Betrachters geradezu beleidigend simple Lösungen verständigen möchte.

Denn jener Farid Bang ist eine sehr umstrittene Person. Das liegt maßgeblich an einer einzigen gerappten Zeile. Sie lautet: „Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“.

2018 sorgte dies für einen Eklat, als Campino, Sänger der Toten Hosen bei der Verleihung des „Echo“ zur Debatte darüber aufforderte, wo die Grenzen der Provokation liegen dürfen.

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Farid Bang hat sich für diese Zeile – und für eine andere, die heute kaum noch zitiert wird, – entschuldigt, er ist nach Auschwitz gefahren, er ist im Anschluss (so weit ich sehen kann) weder durch rechte Äußerungen, noch durch Antisemitismus auffällig geworden. Vielmehr lieferte er sich einen Beleidigungsstreit mit AFD-Frau Alice Weidel.

Das glaubt der frisch auf das Thema stoßende Leser allerdings nicht. So zitiert die „Rheinische Post“ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, derzeit nordrhein-westfälische Antisemitismusbeauftragte mit den Worten: „Die Vorbildfunktion eines Musikers wie Farid Bang muss hinterfragt und diskutiert werden, wenn er Antisemitismus propagiert und zudem immer wieder auch mit gewaltverherrlichenden und frauenfeindlichen Texten provoziert“

Er propagiert Antisemitismus?

Auch „Die Zeit“ stellt dies in den Vordergrund:

Einschub: Bemerkenswert ist, dass zahlreiche Medien die bewussten Textstellen nicht mehr zitieren. Die Einordnung, ob Bangs Texte antisemitisch sind, wird unmöglich. Ich bin mir nicht sicher, ob sich die jeweiligen Redaktionen bewusst sind, welche Verantwortung sie damit übernehmen. 

Oder nehmen wir Geisels Konkurrentin im OB-Wahlkampf, die FDPlerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann (mit der ich gestern Abend auf Twitter, bleiben wir im Jargon, Beef hatte):

Sie behauptet auch:

Welche? Die Antwort könnte Sie überraschen:

Äh…

Nun ja.

Ich sag mal so: Die Überschneidung der Fans der Toten Hosen mit jenen, die Farid Bang hören, dürfte an Tagen wie diesen höchst überschaubar sein. Die Broilers existieren seit 28 Jahren und haben somit auch nur noch einen Hauch jugendlicher Frische. Und die Antilopengang dürfte kaum jene ansprechen, die Gangsta-Rap mit Streetcredibility hören.

All dies spricht nicht gegen die Bands und ihre Qualität. Sie ins Rennen zu bringen, zeugt aber von der Haltung vieler Entscheider, Bildungsbürger, Mittelschichtler und vor allem alter (ich bin auch alt) Menschen gegenüber der Realität der Gesellschaft.

Diese Realität lautet:

Hiphop und Rap sind die wichtigsten Einflüsse auf die Popkultur dieser Jahre.

Sie sind begehrlich, weil sie wie einst der Punk und später die Neue Deutsche Welle, den Eindruck erwecken, dass jeder Musik machen und zum Star werden kann.

Auch ich finde das unschön, das mit dem Erfolg dieser Stilrichtung. Denn Rap ist für mich musikalisch furchtbar öde. Zum Kotzen finde ich die Masse an frauenfeindlichen und gewaltverherrlichenden Texten. Trotzdem höre ich Alben, die ein Stück weit mehr Beachtung finden, um diese Subkultur besser zu verstehen. Bei der Einordnung hilft auch der WDR Cosmo-Podcast „Machiavelli“ sehr gut, der sich mit Hiphop und Politik beschäftigt. 

Die Gewaltigkeit der Bedeutung von Rap und Hiphop wird von vielen noch immer unterschätzt. Ich halte den Begriff „Subkultur“ für verfälschend, weil er das Feld verniedlicht – „Kultur“ fände ich passend. Doch zu selten passiert es, dass diese Kultur für jene, die ihr nicht folgen, in einen Kontext gesetzt wird. Der „Spiegel“ schrieb im Januar eine atemlose Titelgeschichte, in der er den Gangsta Rap in den Mittelpunkt stellte und gleich im Vorspann unterstellte, dass die „Generation Greta“ uniform sei.

Doch Rap ist eben so vielfältig wie die meisten anderen Musikrichtungen und Kulturarten – und vieles davon ist zutiefst ambivalent.

Womit wir bei der Fragen wären:

Ist Farid Bang antisemitisch?

Es gibt es nur sehr wenige Indizien dafür – um genau zu sein, so weit ich sehe, nur zwei Zeilen aus dem Jahr 2018. Sind diese Zeilen antisemitisch?

Überlassen wir das Urteil der Wissenschaft. Das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim hat 2018 eine sehr lesenswerte Ausgabe seines „Sprachreport“ dem deutschen Rap gewidmet (hier als PDF erhältlich). 

Darin beschäftigen sich die Linguisten Sven Bloching und Jöran Landschoff mit der Musik von Farid Bang und seinem Kooperationspartner Kollegah. Auszug zum Thema Antisemitismus:

„Im Kontext dieser Analyse liegt die Vermutung eines systematischen Antisemitismus allerdings fern, da sich diese zwei Zeilen als drastische Tabubrüche lesen und der Auschwitz-Vergleich sich in die Kategorie der Diffamierung von Opfern historischer Ereignisse generell, die Holocaust-Zeile als der Versuch der Darstellung einer maximal grausamen Gewaltanwendung einordnen lassen. Gemeinsam ist allen Vergleichsobjekten die Schwäche, die sie in irgendeiner Form – sei es durch ihre historische gesellschaftliche Stellung (Frauen, ethnische Minderheiten), ihre (proklamierte) körperliche Kraft (andere Rapper und Musiker), oder ihre Wehrlosigkeit in einer gegebenen historischen Situation (z. B. die Opfer des Columbine-Massakers oder des Holocausts) aufweisen. Es lassen sich einige weitere Beispiele finden, zum Beispiel wird Laas Unltd. auch als „Sklave“ bezeichnet. Begreift man das Judentum als religiös-ethnische Gruppierung (Dexinger 1988, S. 331), und bedenkt man, dass auch Sinti und Roma in Auschwitz ermordet wurden, lässt sich diese Zeile in der Kategorie der ethnischen Abgrenzung der Männlichkeit fassen, bei der Männlichkeitscharakteristika ethnisiert und gegeneinander abgegrenzt werden, um die eigene Ethnie und Maskulinität zu erhöhen. Die im Konzentrationslager getöteten Menschen fallen alle in die Kategorie von diffamierten Minderheiten und Opfern von Gewalt, auch politische Gegner und Menschen mit Behinderung. Das Prinzip der eigenen Erhöhung und der Herabsetzung anderer bleibt in allen Fällen gleich.

Legt man der Beantwortung der Frage nach der antisemitischen Einstellung der beiden Rapper Farid Bang und Kollegah nur die Texte dieses Albums zugrunde, müssten die Autoren diese als linguistisch nicht eindeutig belegbar zurückweisen. Strukturell stehen die beiden Textzeilen als Außenseiter neben erkennbaren Strukturen von Gewaltverherrlichung, Subordination der Frau und Diffamierung anderer Musiker sowie Maskulinismus, während für einen strukturellen Anti- semitismus weitere Hinweise fehlen, wie die quantitative Analyse verdeutlicht.“

Womit wir beim nächsten Realitätsschock wären: Farid Bang ist eher nicht antisemitisch – doch ein weiter Teil der Musik, die junge Menschen heute hören, ist systematisch frauenfeindlich und gewaltverherrlichend, darunter Farid Bang und Kollegah.

Warum ist das so?

Weil Musik für viele junge Menschen schon immer Rebellion und Grenzüberschreitung war. In den 50ern war es einfach die Andersartigkeit des Klangs, dies setzte sich in den 60ern fort, gepaart mit Texten, die Drogenkonsum beschönigten. Die Rolling Stones mussten sich den Vorwurf des Satanismus für den heute harmlos erscheinenden Song „Sympathy for the Devil“ gefallen lassen. Meine Eltern waren entsetzt, als ich Iron Maiden hörte, mit diesen komischen Horrorbildern auf dem Cover und natürlich röhrte ihr „666 – the number of the beast“ in voller Lautstärke aus meiner Akai-Anlage. Ebenso provokant für die Älteren war der heute zurecht vergessene Song „Geil“ – weil er inhaltlich aus nicht viel mehr als der Wiederholung des Tabu-Wortes „Geil“ bestand.

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Gerade Jugendliche werden durch Tabubrüche angezogen. Die Jugend ist die Zeit, da Menschen ihre Grenzen ausloten.

Nun ist aber die Gesellschaft insgesamt in den vergangenen Jahrzehnten liberaler und offener geworden, die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben. Um sie anzutesten reichen die Tabubrüche von einst nicht mehr.

Wer sich nicht in jener Kultur bewegt, die gerade Grenzen auslotet, muss sich bemühen, sie zu verstehen, um sie zu verstehen. Meine Eltern glaubten nicht, dass „The Number of the Beast“ keine Satansverehrung war, sondern die Beschreibung eines Traums, angelehnt an den Film „Omen II“.

Deshalb auch sollte man den Kontext von Rap kennen, beispielsweise den von Battle Rap, wenn es um Farid Bang geht. Beim Battle Rap geht es darum, den anderen mit Worte anzugreifen. Bloching und Landschoff schreiben:

„Die meisten „Disses“ und Diffamierungen des untersuchten Albums basieren darauf, einen Tabubruch mit der etablierten Kultur durchzuführen, wobei gleichzeitig männliches Dominanzverhalten propagiert und positiviert wird, das wiederum eine bestimmte Auffassung von Maskulinität proklamiert und dem Mainstream entgegenzustellen versucht.“

Zu weite Teile des deutschen Rap bestehen aus solchen Elementen, die Werte transportieren, die verachtenswert sind. Nur sollten wir dann darüber eine gesellschaftliche Debatte führen. Zu genau der hat Campino einst beim Echo aufgerufen. Passiert ist – so gut wie nichts. Rapper wie Haftbefehl werden sogar im Feuilleton der „FAZ“ positiv besprochen. Und ich selbst konnte nicht entdecken, wo die Toten Hosen, das Gespräch seit dem Echo 2018 weiter verfolgt hätten.

Doch dies ist ein Thema für die lange Frist. In der kurzen Frist haben wir: Corona.

Wer Bilder aus der Düsseldorfer Altstadt, längste Theke und so, Sie wissen schon, sieht, macht sich große Sorgen um eine Virenübertragung. Rein anekdotisch sehe ich in meinem Lieblingslaufrevier, dem Grafenberger Wald, Jugendliche, die in Kleidung, Habitus und dem, was aus dem Ghettoblaster kommt, zur Zielgruppe von Farid Bang gehören könnten, in Gruppen beim Bier trinken oder Sport treiben.

Wenn man glaubt, dass Influencer diese Personen zu einer anderen Verhaltensweise bringen können, dann ist Farid Bang als in Düsseldorf lebender Rapper mit Streetcred eine logische Wahl. Denn auf die Hosen, die Broiler oder die Antilopengang werden diese jungen Menschen so sicher hören wir auf Heino, Laschet oder Jochen Busse.

Und was ist nun dabei rausgekommen? Ehrlich gesagt ein Video, bei dem ich nicht weiß, warum es eine Wirkung haben soll:

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Aber: Ich bin nicht die Zielgruppe.

Dies sind die Reaktionen, die Youtube derzeit oben listet:

Tja.

Die Debatte zeigt für mich die Entkopplung vieler Entscheider und Eliten von einem gehörigen Teil der Gesellschaft. Man muss Farid Bang nicht mögen. Man darf ihn hart kritisieren. Aber man solle auch versuchen zu verstehen, warum so viele Menschen ihn hören.

Es ist bezeichnend, dass keiner der Kritiker eine ihm vergleichbare Alternative für solch einen Aufruf nennen können. Ich ahne: Den meisten fällt nicht mal der Name irgendeines anderen Rappers als Smudo oder Thomas D. ein. Und die Beschäftigung mit dem problematischen Teil des Hiphop fühlt sich dann irgendwie… schmutzig an.

Nur ist es dann eben auch nicht möglich, gesellschaftliche Entwicklungen zu antizipieren. Wir haben es ja in den vergangenen zwei Jahren gesehen. Für politische Vertreter der CDU und auch der FDP war es wahrscheinlicher, dass hunderttausende Jugendliche von Youtube manipuliert werden, als dass sie ernsthaft eine eigene Meinung zum Thema Urheberrecht haben. Es ist für diese Eliten wahrscheinlicher, dass die Jugend Schule schwänzen will, als dass sie sich ernsthaft um die Umwelt sorgt. Es ist wahrscheinlicher, dass ein Werbekonzern hinter Rezo steht, als dass er aus eigenen Antrieb CDU und Medien mit Fakten kritisiert.

Die suppenkasperische Verweigerungshaltung gegenüber der Beschäftigung mit unangenehmer anmutenden Entwicklungen der Gesellschaft scheint immer stärker zu werden. Fast wirkt es, als ob vor allem in der Politik viele glauben, ein Schiff würde nicht gegen eine Sandbank fahren, wenn der Kapitän nur kräftig genug die Augen schließt.

Nachtrag vom 24.7.20: Passend zu diesem Artikel erschien gestern die neue Sinus-Jugendstudie. Und manches, was die Tagesschau dazu berichtet, erscheint mir auch für diese Diskussion geeignet:
„So richtig betroffen sind die meisten 14- bis 17-Jährigen nicht. Sie sorgen sich zwar teils um Familienangehörige, sind genervt von Einschränkungen, aber: „Nur wenige Befragte erwarten, dass Corona der Wirtschaft oder der Gesellschaft langfristig massiv schaden wird“, so die Autoren.“

Und:
„Besonders beunruhigt die junge Generation offenbar, dass sie zwar realistisch auf politische und gesellschaftliche Probleme schauen, aber damit von Verantwortlichen nicht ernst genug genommen werden. „Die Jugend fühlt sich zu wenig gehört“, sowohl von der Politik als auch der älteren Generation insgesamt – eine der wichtigen Erkenntnisse.
Die Politik, so die Befragten, würde Maßnahmen gegen den Klimawandel auf die lange Bank schieben. „Viele Jugendliche haben das Gefühl von Macht- bzw. Einflusslosigkeit“, heißt es in der Auswertung der Interviews mit den 14- bis 17-Jährigen. „Die massenhafte Teilnahme an ‚Fridays-for-Future‘-Demonstrationen ist Ausdruck ihrer Ohnmacht und Empörung.““


Kommentare


Iris Pukschitz 24. Juli 2020 um 11:29

Sehr informativ und verständlich. Danke!

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CB 26. Juli 2020 um 10:58

Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich die alte Leier „Jugend von heute“ oder „heutzutage…“ bei fb schon in den Kommentaren lesen musste. Ich mache zu oft noch den Fehler die Kommentare zu Posts von Tagesschau, diversen Tageszeitungen und einzelnen ÖR-Sendungen zu überfliegen und bereue es je-des Mal. Es offenbaren sich nicht nur Abgründe in der Denke der lautesten Schreihälse sondern auch der Eindruck, die „Jungen Leute“ haben fb schon längst als langweilig, veraltet und Alte-Leute-sind-da-auch-alle abgehakt und sind zu Snapchat, Tik-Tok und Co. abgewandert.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, drängt sich der Vergleich mit einem Dorf in der ostdeutschen Provinz auf: Die Jungen und örtlich Mobilen sind längst weg, übrig bleiben verbitterte, griesgrämige Abgehängte, die die Schuld an der Situation irgendwem anhängen wollen (gewollt überspitzt)

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Tim 27. Juli 2020 um 12:43

Kultur ist aus Sicht der Eliten in Deutschland, was durch staatliche Gelder unterstützt wird. Man muss nur mal eine Stunde Deutschlandfunk hören, um zu begreifen, wie weit weg diese Leute von der Realität sind.

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Reinhard 27. Juli 2020 um 23:41

Dazu der Philosoph Karl Popper:

"Weniger bekannt ist das Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen."

de.wikipedia.org/wiki/Toleranz-Paradoxon

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Titus von Unhold 4. August 2020 um 20:27

Und weiter? Was soll uns das sgen? Auf Kultur lässt sich das schlecht anwenden, eher gar nicht. Kultur ist schließlich nicht Politik.

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