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Dieses Video zeigt, wie ein Vermummter im Januar 2018 in eine Metzgerei einbricht, die Kühltheke zerstört und sie mit Benzin übergießt. Hätte sich das Benzin entzündet, hätte Lebensgefahr für die zwei Menschen bestanden, die über dem Laden wohnten. Dies ereignete sich in Rathdrum, einem irischen Örtchen mit 1.500 Einwohnern.

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Das „Moki’s Goodies“ ist ein Frühstückscafé in Hamburg, das Kinder nicht erlaubt. Nachdem eine Influencerin dies öffentlich macht, bricht eine Beleidigungswelle über das Lokal herein. Die Besitzerin rechtfertigt sich erstaunlich gelassen und weist darauf hin, dass sie selbst Mutter sei.

Zitat aus dem inzwischen gelöschten Posting:
„Jetz mal ehrlich – es reicht. Liebe Supermuttis, ich finde es ist an der Zeit, die Verhältnismäßigkeit dessen, was Ihr hier seit einigen Tagen im Netz veranstaltet, ernsthaft in Frage zu stellen. Ich habe ein Restaurantkonzept, das Euch nicht gefällt und das ist einigen als Anlass genug für einen Shitstorm vom feinsten. Ohne dass auch nur eine einzige von Euch vorher das persönliche Gespräch gesucht hätte, verurteilt Ihr mit heiligem Eifer mein Unternehmen mit erstaunlicher verbaler Aufrüstung und Feindseligkeit. Überträgt man die Situation mal gedanklich von Muttis im Internet zu Schülern auf dem Pausenhof, dann wäre die Bezeichnung glasklar „Mobbing“. Ich wünsche Euren sicher ganz wundervollen Kindern sehr, dass sie so etwas nie erleben müssen. Ich bin erwachsen und habe ein breites Kreuz und eine hohe Frustrationstoleranz, ohne die könnte ich meinen Job gar nicht machen. Und ich möchte gerne mal ein paar Sachen klarstellen. Erstens: Überraschung Überraschung – auch ich bin Mutter. Kenne mich also durchaus im Thema aus. Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, habe eine großartige Tochter, ein sehr süßes Patenkind und Nichten und Neffen. Kinderfeindlichkeit zu unterstellen ist also schonmal Blödsinn. Zweitens: Das moki’s goodies ist kein spendenfinanziertes demokratisches Mutter-Kind-Projekt, sondern ein Restaurant für das ich mir ein Konzept überlegt und in das ich mein privates Geld investiert habe. Weil ich meine eigenen Entscheidungen treffen möchte ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen.“

Einige Tage später wird ihre Fassade beschmiert.

Don Dahlmann erlebte in seiner Nachbarschaft dies:

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Dies sind nur einige Geschichten, die in den vergangenen Monaten durch meine Timelines liefen. Ist so was normal?, fragte ich mich Anfang des Jahres und habe seitdem immer mal wieder einzelne Themen recherchiert.

Das Ergebnis hat mich erschreckt und zu einer These verleitet:

Ich glaube, wir stehen vor einer neuen Ära des Terrorismus.  Doch wird es neben dem extremistisch motivierten, politischen Terror auch einen Terrorismus aus der bildungsbürgerlichen Mitte der Gesellschaft sein, der nur am Rande mit Politik zu tun hat.

Es wird ein Terror sein, der aus dem eigenen Lebensstil erwächst und dem Unwillen, andere Lebensstile zu tolerieren. Und er wird sich richten gegen Fleischesser und Veganer, gegen SUV- und Radfahrer, gegen Fußballfans und Ganztages-Kitas.

Bisher generierten sich Terroristen aus zwei Feldern. Die einen sahen sich in einem Krieg und trugen diesen – maßgeblich auch aus Hilflosigkeit – in das Heimatland ihres Gegners, so wie es islamistische Terroristen tun. Die andere Variante bestand im Durchsetzen einer politischen Weltsicht, basierend auf einem dialektischen Fundament, das mal intellektueller (RAF) und mal platter (NSU) war.

Nun aber existiert in erstaunlich breiten Teilen der Bevölkerung ein diffuses Gefühl der Unsicherheit, eine wirtschaftliche Verlustangst, eine Sorge vor Veränderung. Vielleicht ergibt sich die aus genau jener eigentlich positiven Gesamtlage: Man kann sich mehr mit sich beschäftigen, wenn man nicht hungert oder friert.

Und gleichzeitig bekommen wir mehr mit von der Welt. Als Kind schaute ich staunend auf den „Weltspiegel“ oder die Reportagen von Peter von Zahn, der mit raspeliger Stimme und fast kindlich-naiven Texten die Welt erklärte. Wenn es damals um Rassismus in den USA ging oder Fluten in Bangladesch, war dies unendlich weit weg und tauchte nur für fünf Minuten in aus heutiger Sicht unerträglicher, optischer Unschärfe im Wohnzimmer auf.

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Heute bekommen wir alle Arten von Bilder in 4KHD, im Extremfall noch live – und sind damit näher dran. Könnte es also sein, dass obwohl es unserer Welt global (mit Ausnahme des Themas Klimawandel) besser geht als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, diese Nähe uns ein entgegengesetztes Gefühl vermittelt?

Wir sehen außerdem, wie andere Menschen reagieren, nicht nur unsere Eltern oder Ehepartner. Und wir können uns in Sekunden darüber schlau machen, was dieses auslöst oder jenes bewirken kann – die ganz Faulen fragen einfach mal „Alexa, lies mir den Wikipedia-Eintrag über Glyphosat vor“.

Und das bedeutet eben, dass wir alle mehr Wissen haben als unsere Eltern oder Großeltern – sowohl Fachwissen (besser Bereichswissen, also Wissen in gewissen Feldern) als auch Wissen darüber, was andere Menschen zu einem Thema denken. Und das betrifft nicht nur die Eliten: Das Wissensniveau in allen Schichten der Bevölkerung ist heute höher, als vor 40 Jahren.

Allerdings ziehen Menschen unterschiedliche Schlüsse aus diesem Wissen und natürlich kursieren auch Falschinformationen. Früher ignorierte man jene weg, die anderes dachten oder Unsinn verbreiteten. Es gehört zu den großen Mythen, dass an Stammtischen Menschen für extreme Meinungen gemaßregelt wurden – einen Scheiß wurden die. Der Stammtisch lachte über rassistische Witze und kniff der Kellnerin in den Hintern. Genauso sind die Anhänger von Verschwörungstheorien nicht erst gestern entstanden. Zu diesem Thema kann ich nur den wundervollen Film „Die Mondverschwörung“ empfehlen.

Nun erleben wir das, was der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen den „Filter-Clash“ nennt. In Vor-Netz-Zeiten bewegten wir uns in Filterblasen und verließen diese nur, wenn wir es unbedingt wollten – und das war selten.

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Das Social Web aber ist die größte Filterblasen-Zerplatzmaschine der Geschichte und so bekommen wir mit, dass der Schulfreund zum AFD-Anhänger geworden ist, Mütter ihre Kinder nicht impfen lassen oder ein gewisser Medienforscher Videos von Verschwörungstheoretikern teilt.

Pörksen nennt das die „unerträgliche Gleichzeitigkeit des Seins“ und die „macht gereizt, macht wütend“.

Gewisse Institutionen verstärken diese Gereiztheit. Medien jeder Couleur haben sich, willentlich oder unwillentlich, zu Gefährdern unseres gesellschaftlichen Klimas entwickelt. Jedes Medium will mit Gereiztheit und Wut Leser, Zuhörer, Zuschauer, Klicker, Abonnenten, Käufer gewinnen: Der „Spiegel“ bringt derart brachiale Titel, dass sie wie Selbst-Satire wirken, die „Zeit“ verschiebt das Overton-Fenster, ein Lokalblättchen wie die „Westfälischen Nachrichten“ generiert Aufmerksamkeit für einen mittelmäßig interessanten Prozess durch das Schaffen des Eindrucks, dass da ein unschuldiges Opfer vor Gericht steht:

Zusammengefasst geht die Geschichte nämlich so: Ein Klein-Dealer wurde in seiner Wohnung überfallen. Ob er selbst so dumm war, die Polizei zu rufen, oder ob es seine Nachbarn waren, erfährt der Leser schon nicht mehr.

Auch die AFD setzt mit ihren Social Media-Auftritten auf Reizungsverstärkung, genauso den politischen Rändern zuzuordnende Inhalteangebote oder Clickbait-Seiten.

Sascha Lobo nennt die aktuelle Situation in seinem sehr lesenswerten, neuen Buch „Realitätsschock„: Wir müssen erkennen, dass Dinge, die wir als gewiss angenommen haben, falsch sind.

Ich halte diesen Begriff für immens wichtig und richtig. Er erklärt das Gefühl, dass wir nicht mehr miteinander leben, sondern uns „jagen“, miteinander „kämpfen“, alles im „Chaos“ versinkt. Und dagegen ringen die Menschen, sie wollen sich wehren und das erhalten, was ihnen als gute Version unserer Gesellschaft erscheint. Gelassenheit ist in diesem gefühlten Klima aber nicht möglich.

Es beginnt mit Worten. So wie bei der IAA, wo sich Autofreunde und Umweltschützer mit Hohn überschütteten:

Haben Sie die Geste des Herrn gesehen, der mit dem Rücken zur Kamera steht? Er hob die Fäuste. Es ist eine ganz normale, menschliche Geste. Sie drückt Verzweiflung aus, weil die Gegenseite ihn verspottet. Das letzte Mittel ist die Androhung körperlicher Gewalt.

Im großartigen Song „Benzin und Kartoffelchips“ singen Kettcar:

„Mama sagte: Achte auf deine Gedanken
Denn sie, sie werden deine Worte
Und mit ein paar Worten fing das Ganze an…

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Aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten.

Die allermeisten Menschen  werden durch das eigene Gewissen gebremst, zu einer Tat zu schreiten, die außerhalb des gesellschaftlichen Konsens liegt – zum Beispiel ein Café mit Farbe zu beschmieren oder eine Fleischerei zu zertrümmern. Doch es geht ja nicht um die allermeisten Menschen. Es geht um wenige, die aber aus einer Vielzahl von Lebensstilen kommen.

Ich finde Veganer doof, weil sie mir gefühlt das Fleischessen verbieten wollen? Dann gehe ich sie halt aggressiv an:

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Ich bin Veganer und will nicht, dass Tiere getötet werden? Dann werfe ich halt eine Flasche in einen Fleischgrill:

Der gesellschaftliche Konsens eine Grundrespekts vor anderen bröckelt, die Bereitschaft, für etwas zu streiten, steigt. Die bloße Existenz eines anderen Lebensstils wird von manchen als Provokation empfunden, die ein Heben der Faust legitimiert. Es geht nicht mehr um ein Leben miteinander oder gegeneinander, es geht um die Beseitigung der Existenz anderer Lebensmodelle.

Das Social Web als wichtigster Debattenort der Gesellschaft spielt dabei eine besondere Rolle. Einerseits ist es für Menschen heute so leicht wie nie zuvor via Social Web Menschen von ihrer Sache zu überzeugen, oder andere zu finden, die schon überzeugt sind. Und auch wenn das Social Web eher Filterblasen zerplatzen lässt, statt sie zu bilden, so finden dort entdecken Menschen dort eben auch, dass es andere Menschen gibt, die ihre Weltsicht teilen – und sie können sich mit diesen Personen zusammenschließen.

Und dann gibt es die andere Seite.

„Bist Du nicht für mich, bist Du gegen mich“, das klingt wie aus einem Mafia-Film. Tatsächlich aber ist es die Haltung selbst intelligent erscheinender Personen bei bestimmten Themen. Lobo schreibt in „Realitätsschock“ von ansteckender „Gruppenemotionalität“: „Die ständige Konfrontation mit Informationen in sozialen Medien haben den… Effekt: Man wird dazu gedrängt, sich eine Meinung zu bilden.“ 

Ich möchte weiter gehen: Man wird sogar gedrängt, für eine Seite Stellung zu beziehen – Schwarz oder Weiß. Das erlebte jüngst die Talkshow-Moderatorin Ellen DeGeneres, die politisch absolut liberal ist. Doch unterhielt sie sich mit George W. Bush und erntete dafür einen Antipathie-Sturm.

In ihrer Sendung sagte sie dann: „I’m friends with George Bush. In fact, I’m friends with a lot of people who don’t share the same beliefs that I have…. Just because I don’t agree with someone on everything doesn’t mean that I’m not going to be friends with them.“


Nett sollen wir nach DeGeneres‘ Wunsch sein, doch ich fürchte, das ist recht naiv. Selbst intelligente Menschen rufen zu Aggression auf. Beispiel Fahrradfahrer: Einen Krieg sollten sie führen gegen die mordenden 2-Tonnen-Monster auf den Straßen, erklärte jüngst jemand auf Twitter, dessen Meinung ich sonst schätze. Ein Krieg? Was soll die Gegenseite tun, der dieser Krieg erklärt wird? Pro-Tip: Gandhi war ein ziemlicher Einzelfall in der Geschichte und hat eher selten auf Facebook reingeschaut.

Oder nehmen wir Umweltaktivisten. Von ihnen sind immer häufiger Sätze zu hören wie von Tina Velo vom Bündnis „Sand im Getriebe“: „Wir wollen eine radikale Verkehrswende von unten, mit deutlich weniger Autos. Dazu sind wir auch bereit, die Grenze des legalen Protests zu übertreten“ – eine Absage an die Demokratie, wie sie auch von RAF oder NSU hätte geschrieben werden können.

All dies heizt die Stimmung weiter an. Je hitziger es aber wird, desto stärker fühlen sich jene zum Handeln animiert, die leichter bereit sind, jenen gesellschaftlichen Konsenz zu vergessen.

Ich fürchte, wir stehen erst am Anfang. Wir werden Angriffe auf Wohnungsbesitzer erleben, die auf Airbnb vermieten, auf Uber-Fahrer, auf Taxifahrer, auf Radfahrer, auf SUV-Fahrer, auf Mütter mit Kinderwagen, auf vegane Cafés und Currywurst-Buden, auf Biobauern und Nichtbiobauern, auf Menschen, die im ICE-Ruheabteil telefonieren, auf Streikende und Nicht-Streikende. Es wird beginnen mit verbalen Attacken, dann geht es weiter mit Sachbeschädigung – und irgendwann mit körperlichen Angriffen.

Was dagegen hilft? Ich bin ratlos. „Be kind to one another“, wie sich das Ellen DeGeneres wünscht, wird nicht helfen.

Deshalb würde ich mich sehr über Vorschläge, Ideen, Gedanken in den Kommentaren freuen.

Danke dafür schon mal.

Nachtrag vom 8.1.20.: Wäre „Moral-Terrorismus“ als Vokabel passender?


Kommentare


Daarin 30. Oktober 2019 um 17:27

Leider habe ich auch keine Antwort.
Allerdings musste ich beim Lesen an eine Stelle aus "Der Kodex (Kein Versprechen)" ( https://www.youtube.com/watch?v=tpDg3zfKVmI ) von Mr. Hurley und die Pulveraffen denken. "Zeig jedem Menschen stets Respekt, den muss man nicht verdienen".

Vielleicht ist das der große Fehler das Menschen glauben zu wissen wer sich Respekt verdient hat. In einer Zeit in der es Usus ist Menschen die Verbrechen begangen haben die Menschenwürde abzusprechen, ein faires Verfahren oft nur für Angeklagte einer Seite gefordert wird und so weiter, da darf man sich halt auch nicht wundern wenn mal einer Nägel mit Köpfen macht.
Also wäre der einzige Ansatz den ich mir denken könnte, ein zugegeben sehr utopischer, dass man es schafft die Leute auf ein "positives" also ein wirklich "soziales" Netzwerk zu ziehen oder die aktuellen dazu umzubauen.
Zumindest sehe ich darin, in der Möglichkeit für solche Taten Zustimmung zu erhalten das größte Problem.

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hlg 8. Januar 2020 um 10:06

guter artikel. danke…

respekt!

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Retho 30. Oktober 2019 um 18:33

Hm… Also, ich gehe mit sehr vielem mit, aber das Beispiel mit Ellen DeGeneres und George Bush fällt für mich da ein bisschen raus. Ich verstehe die Frau da auch nicht ganz, denn immerhin reden wir nicht davon, dass die beiden bei dem Spiel für unterschiedliche Vereine gejubelt haben, es geht um eine Lebenseinstellung. Und die Lebenseinstellung von evangelikalen Konservativen wie George Bush ist nun mal, dass sie Menschen wie DeGeneres als eine Perversion der Natur ansehen und sie abgrundtief hassen. Warum er sich mit ihr sehen lässt, ist klar: Er will sein Image aufpolieren. Warum sie kein Problem mit seiner Lebenseinstellung hat, verstehe ich nicht. Und ja, "try to be nice" ist naiv in diesem Moment, aber nicht so, wie der Autor das vermutlich gemeint hat: Es ist naiv, wie DeGeneres mit der Situation umgeht, vor allem wenn man bedenkt wie Menschen wie G. W. Bush mit Homosexuellen umgehen, die nicht Ellen DeGeneres sind.

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Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 9:28

@Retho: Wie gut kennen Sie Bush? Haben Sie ihn schon getroffen? Oder unterliegen Sie dem Glauben, dass Bush zu jenen Ultrakonservativen gehört, weil es gut ins Denken passt? Bush ist ohne Frage tief religiös – doch ist er so viel ich weiß, nie durch Ausfälle wie "Perversion" aufgefallen. Vielmehr galt er als Präsident, der andere Religionen akzeptierte. Mehr dazu auch hier.

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Retho 31. Oktober 2019 um 20:52

Naja, Sie schreiben hier von "Lebensstil-Terrorismus". Bush ist einer, der die Macht hatte, andere mit genau diesem Terrorismus zu überziehen: er hat ganz kräftig Anti-LGBT-Gesetze vorangetrieben, als er noch Präsident war, die gleichgeschlechtliche Ehe abgelehnt und die Unterzeichnung der UN-Resolution gegen Homophobie verweigert (Zitat: "Ellen is the world’s most famous lesbian. George W. Bush is a straight, white man who conscientiously fronted his administration’s agenda to diminish and prevent rights and benefits being afforded to LGBT Americans." aus diesem Artikel: https://www.nbcnews.com/think/opinion/ellen-degeneres-george-w-bush-s-cowboys-pal-around-reveals-ncna1064181).
Ja, ich kenne Bush nicht persönlich. Ich weiß aber, was er getan hat. Und er hat offenbar keinen Grund gesehen, öffentlich irgendwas zurückzunehmen. Stattdessen lässt er sich mit Ellen DeGeneres sehen, um als "normal" zu erscheinen (zumindest für einen gewissen Teil der Amerikaner). Und warum das problematisch ist, wird in diesem Video ganz gut dargelegt: https://chezfrashokereti.blogspot.com/2019/10/you-cant-rehabilitate-george-w-bush.html

Wir kommen dabei schon wieder bei der Frage nach dem "Toleranz-Paradoxon" an: Muss ich jemanden tolerieren, der mich nicht toleriert? DeGeneres sagt "Be kind" – und der Kommentator aus dem Artikel, den ich oben verlinkt habe, bemerkt dazu: "“Be kind” is the mashed potatoes of words on a plate of respectability politics. For those of us within the LGBT community, as well as for people in minority communities, the request to “be kind” is a demand for silence. It is a demand for tolerance of hate and discrimination. It is a demand for complicity. It is bending oneself into the mold of likability defined by a man-centered, straight-centered culture."

Und letzte Bemerkung: Wie ich sagte, ich gehe in den meisten Dingen in dem Artikel d’accord, nur für den "Lebensstil-Terrorismus" ist ausgerechnet G.W. Bush ein verdammt schlechtes Beispiel.

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Thomas Knüwer 4. November 2019 um 9:16

@Retho: Auch hier finde Ihre Wortwahl problematisch. Bush lässt "sich mit ihr sehen"? Nein, eben nicht. Er geht zum Spiel, wahrscheinlich zu jedem Cowboys-Heimspiel, sie auch. Sie wissen nicht, dass sie einander begegnen und sitzen zufällig nebeneinander. Und nun? Weggehen? Anschreien? Konfrontieren?

Ihr Vorschlag scheint zu sein, den Kontakt zu meiden. So aber wird man nie einen Dialog erzeugen, der in einer demokratischen Veränderung von Situationen mündet.

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Claudia 6. November 2019 um 13:49

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Herr Knüwer auf das durchaus spannende Argument des "Toleranz-Paradoxon" eingehen würden. Auch das ist etwas über das ich schon länger nachgedacht habe.
Ich gehe mit ihrem Artikel d’accord. Hier geht es mir um die argumentative Auseinandersetzung um vielleicht auch für mich selbst bessere Argumente zu finden .
Toleranz und Respekt sind für mich sehr wichtig. Aber wo sind die Grenzen? Wenn sich mehrere Gruppen im Ruhewaggon unterhalten und eben die Situation und die Wünsche der anderen nicht respektieren, ist die mehrfache höfliche Aufforderung das zu unterlassen auf welcher Stufe des Terrorismus? In wie weit ist es legitim einfach meine persönlichen Bedürfnisse immer an vorderste Stelle zu setzen und dann Toleranz und Respekt von anderen zu erwarten? Ist es denn nicht auch Toleranz und Respekt eben empathischer und achtsamer mit meiner Umgebung zu interagieren, anstatt einfach Toleranz für meine persönlichen Bedürfnisse zu fordern?
Klassisches Wort "Tierleid". Ist in Zeiten der Gewinnmaximierung nun zu tolerieren, dass Menschen einfach so oft wie möglich billiges Fleisch essen wollen? Haben wir eine Verantwortung Lebewesen gegenüber, die in der Diskussion nicht beitragen können?

Geht es Ihnen um den Diskurs? Denn oftmals empfinden Menschen schon das vermehrte Fragen ob es z.B. Fleisch aus artgerechter Haltung ist, als Anfeindung – weil es ja ihr Weltbild erschüttert.

thorstenv 23. November 2019 um 21:25

Ich kenne seine Politik. Im Irak waren keine Massenvernichtungswaffen. Das ist ein Fakt, keine Meinung. Daher ist das Gegenteiliges zu verbreiten und damit seine Politik zu rechtfertigen nicht zu tolerieren. Mehr hier https://www.dailykos.com/stories/2019/10/11/1891711/-Cartoon-Ellen-rehabilitates-the-Bush-administration

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Tom 30. Oktober 2019 um 18:44

Tja so ist die Welt heute.
Seit 1991 äussere ich mich online nur unter Pseudonym. Seit 2006 habe ich zwei Pässe, einen mit und einen ohne akademische Grade, seit 2012 Wohnungen in 3 verschiedenen Hauptstädten in und ausserhalb Europas und Visa für die Einreise. Ich spende seit 2012 (zu spät im Zweifel) an niemanden mehr, und in meiner Firma führen seit 2013/14 sämtlich Frauen alle kritischen Personalgespräche. Politische Meinungen äussere ich seit 2016 nicht mehr, gar nicht, nirgends. Und so weiter.

Vor einigen Jahren haben mich einige Freunde für ziemlich skurril gehalten, heute nicht mehr.

Und ja, ich halte linksprogressive Gutmenschen für genauso gefährlich wie rechte Spinner.

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Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 9:30

@Tom: Eines finde ich bemerkenswert an ihrem Kommentar. Sie schreiben in "ihrer" Firma (ich gehe also davon aus, dass Sie so wie ich Selbständiger sind) führten nur Frauen "kritische" Personalgespräche. Nun mag es sein, dass Ihre Firma sehr groß ist. In einem kleinen oder mittleren Team fände ich es aber schwierig, wenn der Chef sich aus solchen Gesprächen raushielte. Wie lösen Sie dieses Thema?

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Tim 30. Oktober 2019 um 19:34

Ein super Beitrag, ich sehe es genauso, lieben Dank dafür!
Menschen wollen Freiheit und gleichzeitig brauchen Sie Regeln damit ein Zusammenleben möglich wird. Der Rechtsstaat für ist für Demokratien aus diesem Grund die wichtigtse Konstante um ein freiheitliches Leben zu garantieren. Und damit ist auch schon das Problem der Digitalisierung offensichtlich. Die Rechtsstaatlichkeit wurde nicht digitalisiert. Die Demokratie schafft sich gerade ab, ohne es zu merken. Das www ist quasi rechtsfreier Raum. Was Offline gilt, gilt Online nicht und Konsequenzen sind kaum zu befürchten. Und dann heisst es immer, "ja wie soll man das denn auch machen, das kann man ja gar nicht umsetzen". Das stimmt natürlich. Nur, dann muss es halt verboten werden. Wenn ein Plattform oder was auch immer nicht rechtskonform zu betreiben ist, dann muss der Betreiber schließen. Wenn ein Fleischerei immer wieder faules Fleisch auf den Markt bringt, dann kommt das Ordnungsamt und der Laden wird geschlossen. Wenn auf Facebook immer wieder Hasskommentare erscheinen, dann passiert gar nichts. So geht’s halt nicht, so wird die Demokratie langsam aber sicher abgeschafft – weltweit und genau das erleben wir gerade. Die Chinesen sind da schlauer und lassen nur zu, was ihre Autorität und Rechtsformen nicht untergräbt.

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Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 9:38

@Tim: Ich möchte Ihnen glühend widersprechen. Das Internet ist KEIN rechtsfreier Raum. Jedes Gesetz gilt auch dort. Oft genug glaubt man, man könne es nicht durchsetzen und unterlässt deshalb die Anzeige. Doch wenn Anzeige erstattet wird, sind die Erfolgsaussichten nicht so schlecht. Was natürlich oft passiert ist, dass ein rechtskräftiges Urteil (Beispiel: der Fall Kühnast) einem nicht gefällt. Doch dies hat dann nichts mit einem rechtsfreien Raum zu tun – sondern exakt dem Gegenteil.

Vieles, was diesem "rechtsfreien Raum" zugeordnet wird, ist ebenso rechtlich völlig konform. So können zum Beispiel Staaten im Rahmen der EU einen Standortwettbewerb über Steuern führen. Wenn wir also möchten, dass beispielsweise in Irland ansässige Internetunternehmen mehr Steuern zahlen, könnte die Politik sofort dafür sorgen. Allerdings: Dann würde Irland schnell wieder zum "armen Mann von Europa" mutieren, der mit Subventionen über Wasser gehalten werden muss.

Das Beispiel zeigt die Komplexität des Themas. Deshalb halte ich auch Ihren Fleisch-Vergleich für nicht zielführend. Denn bei einem Stück Fleisch ist relativ klar, wann es verdorben ist. Bei einem Kommentar ist das anders. Viele der Kommentare, die wir überzeugte Demokraten abstoßend finden, sind nämlich rechtlich total OK. Was wir IMHO benötigen ist eine auf das digitale Zeitalter angepasste Gesetzgebung, entworfen von kompetenten Entscheidern – aber bitte nicht das zwanghafte Anpassen alter Gesetze aus analogen Tagen.

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Didi 31. Oktober 2019 um 2:52

Ich frage mich immer wieder wie es zu so
einer Verrrohumg der Gesellschaft kommen
konnte. Meiner Meinung nach sind nicht alleine die Medien schuld, man hat verlernt
auf einem bestimmten Niveau zu reden bzw.
zu Diskutieren. Ein großer Teil der Menschen
sind nur noch mit sich selbst beschäftigt.
Dabei können Diskussionen zur eigenen
Meinungsbildung beitragen. Kurzum mehr
miteinander reden!!!

Antworten

Thomas 31. Oktober 2019 um 7:33

Naja, Lösungen gibt es dafür. Man muss es halt angehen.

Die Algorithmen der sozialen Plattformen (ganz besonders Facebook und YouTube) wirken als Brandbeschleuniger und permanente Selbstbestätigungsmaschine. Wer mal nach bestimmen politischen Schlagworten oder Begriffen gesucht hat, wird auf YouTube nach wenigen aufgerufen Videos immer tiefer in eine permanente Bestätigung hineingezogen. Das ist ein sehr großes Problem, da die argumentative Gegenposition so immer unverständlicher wird und sich die Fronten immer weiter verhärten bzw. auseinander entwickeln. Diese Mechanismus braucht Regulierung.

Ganz aktuell geht Twitter in die richtige Richtung und untersagt politische Werbung. Aus sozialer Sicht toll. Aber aus wirtschaftlicher Sicht wird Twitter sicher erstmal abgestraft werden. Von Facebook oder YouTube (Google) ist so ein Schritt wahrscheinlich nicht zu erwarten.

Ich glaube, Aktionen wie "Deutschland spricht" von der ZEIT gehen in die richtige Richtung: Direkter, persönlicher Meinungsaustausch. Da funktionieren die Regeln und Verhaltensweisen noch, die im Internet durch die digitale Distanz nicht mehr funktionieren. Dazu müssen wir schlauer werden und die Mechanismen des Internets verstehen bzw. kommunizieren.

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Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 9:48

@Thomas: Ihre Erklärung klingt logisch – aber. Zahlreiche Studien aus der Soziologie und Psychologie machen die Situation komplexer. Sie gehen davon aus, dass eine präsentierte Gegenposition einen Menschen nachdenken lässt und ein Umdenken eine Option ist. Zahlreiche Untersuchungen zeigen aber einen gegenteiligen Effekt. Gerade bei jenen, die polarisierenden Positionen gegenüber offen sind oder sie schon besetzen, reagieren andersherum. Eine andere Meinung ist für sie die Bestätigung ihrer eigenen Haltung.
Sprich: Wenn ich Trump-Anhänger bin, kann die Werbung der Demokraten noch so gut sein – sie wird mich im Trumpfansein bestärken.

Auch das Aus politischer Werbung bei Twitter ist komplexer, als es scheint. Dorsey hat nicht definiert, was für ihn politische Werbung ist.
Werbung von Parteien? Haken dran.
Ein Großteil der politischen Werbung in den USA ist jedoch "Issue Advertising" von Parteien unterstützenden Organisationen, die somit die Parteienfinanzierungsregeln dehnen. Um es mal auf die deutsche Version runterzubrechen. Die AFD dürfte auf Twitter künftig nicht mehr werben, genauso wenig wie Grüne oder SPD. Nun steht die AFD auch für das Verbot von Seenotrettung im Mittelmeer. Dürfte nun ein von AFD-Fans gegründeter Verein "Stop Wassertaxi" weiter werben? Und wenn nicht: Darf dann noch ein Verein zu Gunsten der Seenotrettung werben?

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Thomas 31. Oktober 2019 um 10:10

@Thomas Knüwer: Vielen Dank für Ihre Antwort. Und selbstverständlich ist die Situation deutlich komplexer, der Kommentarbereich unterhalb eines Blogposts ist nicht der richtige Ort, um das Thema in aller Komplexität zu diskutieren.

Ich glaube tatsächlich, dass ein Gespräch von Menschen sehr unterschiedlicher Einstellungen die jeweils andere Seite nachdenken lässt. Es geht nicht darum, den jeweils anderen "umzustimmen", sondern vielleicht ein Verständnis zu wecken oder einfach die eigene Position deutlich komplexer darstellen zu können, als es im Internet möglich ist. Also möglichst viel dafür zu tun, dass mich die "Gegenseite" besser versteht. Das wird natürlich nicht bei jedem funktionieren. Aber es geht mir um die kleinen Schritte in eine bessere Richtung.

Genauso siehts beim Verbot der politischen Werbung auf Twitter aus. Klar ist das nicht das Rundum-Sorglos-Paket. Aber es wird teilweise den richtigen Zweck erfüllen. Und der fiktionale Verein "Stop Wassertaxi" kann zwar noch Werbung veröffentlichen, aber ist sich dann vielleicht nicht mehr ganz so sicher, ob eine auf Twitterwerbung basierte Werbestrategie wirklich schlau ist, weil Twitter im nächsten Schritt eventuell politisch motivierte Vereine aus der Werbung schmeißt.

Viele kleine Schritte in die richtige Richtung. So eine Art regulierendes Prototyping. Das "große" Gesetzgebungspaket, um die sozialen Plattformen zu regulieren, das wird es nicht geben.

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Ferdinand Saalbach 31. Oktober 2019 um 12:12

Sehr guter Artikel!
Die Lösung ist denkbar einfach: Wir müssen für mehr Respekt und Demut werben.
Das blöde dabei ist: das lässt sich nicht so einfach in einen Slogan packen und brüllen. Und entsprechend finden sich die Menschen, die gerade mit horror auf die gesellschaftliche Entwicklung schauen, auch nicht so richtig in einer Gruppe zusammen. Das wäre aber dringend nötig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, dass man nicht der letzte vernünftige Mensch auf der Welt ist.

Ich habe das ganze mal an einem für mich greifbaren Beispiel aufgearbeitet: http://ddb.ferdinand-saalbach.de/was-radfahren-mit-demokratie-zu-tun-hat/

Was im übrigen ein sehr schöner Beitrag zu dem Thema ist, ist das social Experiment von heineken: https://youtu.be/dKggA9k8DKw

Mein Fazit: Eine einfache Lösung gibt es nicht. Wir müssen miteinander reden und für Toleranz werben. Und dabei deutlich machen, dass Toleranz nicht bedeutet, nur das zu tolerieren, was man selbst gut findet.

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Jörg Schieb 31. Oktober 2019 um 8:40

Sehr wahr und richtig und klug beobachtet. Ich denke in der Tat, das Netz trägt zu dieser Verrohung ganz erheblich bei. Ja, wie Du sagst: Es trägt viele Informationen zu uns, die uns womöglich ärgern, neidisch machen, aufregen, aufwühlen etc. Hätten wir ohne Netz gar nicht mitbekommen. Aber im Schatten der Anonymität lassen halt viele die Hosen runter, verlieren jeden Respekt und Anstand. Und das führt dazu, dass man eben nicht mehr denken oder sagen darf, was man möchte – die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Nicht durch das Gesetz, sondern durch die Realität. Auf der anderen Seite wird Meinungsfreiheit überstrapaziert, weil viele denken, darunter fielen auch Hetze und Beleidigungen.

Ein Hinweis zu Kettcar: Der Ansatz "Gedanken -> Worte -> Taten" ist nicht ihnen eingefallen, sondern ist schon etwas länger 😉 im Talmud nachzulesen…
https://wiki.zum.de/wiki/Talmud

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Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 9:52

@Jörg: Hm. Was wir ja zunächst mal beobachten, ist dass immer mehr Menschen mit Klarnamen "die Hosen runterlassen". Auch Deine Behauptung, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt halte ich für grundlegend falsch.

Wir sind es allerdings gewöhnt, auf merkwürdige Meinungen keinen Widerspruch zu ernten. Ich komme ja vom Dorf und das, was meine Elterngeneration in der Kneipe geäußert hat, hätte massiven Widerspruch verdient gehabt. "Lass den mal reden", war die Haltung – man wollte ja keinen Streit riskieren.

Heute gibt es Widerspruch. Das ist keine Beschränkung der Meinungsfreiheit – sondern das exakte Gegenteil.

Antworten

Christian Heller 31. Oktober 2019 um 9:08

Viele der genannten Konflikte drehen sich aber eben _nicht_ um bloße Lifestyle-Fragen. Wenn der Lebens-"Stil" von A die Lebensbedingungen von B direkt angreift (z.B. durch Zerstörung der ökologischen Grundlagen, durch Gefährdung im Straßenverkehr), dann ist das bereits vorher ein Krieg ums Überleben, und eine Gewalt-Tat von B gegen A nicht plötzliche Brutalisierung, sondern Antwort auf eben solche. Es ist ein Unterschied, ob jemand für seine Haarfarbe angegangen wird, oder dafür, das Leben Anderer zu gefährden oder zu verkürzen.

Antworten

Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 9:57

@Christian Heller: Ich gebe Ihnen teilweise Recht. Mit dem Begriff habe ich lange gerungen und deshalb erschien dieser Artikel auch nicht früher – fertig war er schon seit ungefähr Juni. Der Begriff "Lifestyle-Terrorismus" ist dabei bewusst rausgefallen, weil "Lifestyle" aufgrund der gleichnamigen Postillen zu sehr mit Mode und Chichi verbunden ist. Lebensstil bewegt sich zumindest nach meinem Gefühl ein, zwei Etagen höher.

Deshalb: Ich freue mich über alternative Bezeichnungen.

Wo ich Ihnen allerdings reingrätschen möchte, ist diese Do-or-die-Haltung. Wir können über das Thema Umwelt gern reden. Aber Straßenverkehr? Genau da fängt ja diese gefühlte Irrsinns-Bedrohung an. Das Verhältnis von Straßenteilnehmern muss neu ausgehandelt werden. Aber Fahrradfahrer sind von Arschlöchern durchsetzt wie Autofahrer. Wenn Fahrradfahrer also aggressiv werden gegenüber Autofahrern, darf ich als Fußgänger dann einer Radfahrerin auf dem Fußgängerweg ebenso aggressiv begegnen?

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Christian Heller 31. Oktober 2019 um 14:22

"Darf ich", naja, das hängt freilich vom ethischen Framework ab. Ich würde ja in die Abwägung einfließen lassen, wie sehr der jeweilige Verkehrsteilnehmer Andere gefährdet und ihnen schadet, und daran die Legitimität der Gegen-Gewalt bemessen.

Da ist sicherlich der Einzelfall eines bestimmten Fahrradfahrers konstruierbar, der sich schädlicher gegenüber Fußgängern verhält als ein bestimmter Autofahrer. Aber dafür muss er sich schon ganz schön anstrengen, um in Menschenschädigungskraft an die Geschwindigkeiten und Gewichte und Schadstoffausstöße der gängigen Automobile heranzukommen. Die Statistiken über Verkehrstote usw. brauche ich hier sicher nicht raussuchen, ich behaupte mal ganz frech: Es gibt deutlich weniger tote Fußgänger durch Fahrrad- als durch Autofahrer, und die CO2-Bilanz sieht auch deutlich besser aus.

Man kann denke ich nicht sinnvoll über solche Vergleiche, die Legitimität von Gewalt usw. reden, ohne Machtverhältnisse, Relationen von Schäden und Gefährlichkeiten in die Berechnung einfließen zu lassen. Und da schneiden einige "Lebens-Stile" halt deutlich schlechter ab als andere. Ein zivilisierter, schonender Umgang miteinander setzt Gegenseitigkeit voraus – und da müssten viele derzeit angegriffene "Lebens-Stile" aufgrund ihrer Schädlichkeit erstmal in massive Vorleistung der Rücksichtnahme gehen, auch wenn ihre Asozialität infolge von Normalisierung sich oft gut zu verstecken weiß.

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Wolfgang Lünenbürger 1. November 2019 um 9:04

In dem Zusammenhang wäre sicher auch die Definition von Gewalt bei Marcuse beispielsweise bedenkenswert (die ich allerdings nicht teile). Im Vergleich mit der Aggression der 70er und 80er ist viel, was die eine oder andere als Aggression und/oder Gewalt erlebt, echt pillepalle…

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nk 31. Oktober 2019 um 15:13

Ich würde ja "Empörungs-Terrorismus" nominieren, der diese scheint stets ein Begleitaspekt zu sein.

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Thomas Knüwer 31. Oktober 2019 um 16:22

Danke für den Vorschlag!

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John Terry 3. November 2019 um 13:28

Lieber Herr Knüwer,
es gibt Lebensstile, die nur die beteiligten Menschen betrifft – z. B. die Form von Partnerschaften und Lebensgemeinschaften. Es gibt andere Lebenstile, deren Auswirkungen das Gemeinwesen betreffen – z.B. den umweltschädlichen Ressourcenverbrauch bei Energieverbrauch, Essgewohnheiten und individueller Mobilität. Ersteres fordert weitgehende Toleranz, die ihre Grenze nur findet im Strafrecht, z. B. bei Gewaltverhältnissen. Im zweiten Fall ist die Politik gefordert neue rechtliche Geländer einzuziehen, die die individuelle Beliebigkeit von Lebensstilen im Interesse des notwendigen Klimaschutzes für das Gemeinwesen einschränken muss. Basis dafür müssten die mittlerweile unstrittigen Daten der Klimawissenschaften sein. Wenn die Politik nicht rechtzeitig reagiert, werden in absehbarer Zeit die Klimaänderungsfolgen solche Veränderungen in einem chaotischen Prozess erzwingen, was ziemliche Sprengkraft für die gesellschaftlichen Verhältnisse haben dürfte. Das Problem ist, dass die Politik sich mit ihrem Klimapaketchen als unfähig erwiesen hat und sich auch nicht traut die notwendigen Veränderungen offensiv zu kommunizieren. Dies Politikversagen produziert eine neue außerparlamentarische Opposition. Wie die sich entwickeln wird, hängt wesentlich davon ab, ob Politik die Vernunft wieder entdeckt und ihre Aufgabe, das Interesse des Gemeinwesens zu vertreten, wieder verantwortlich wahrnimmt.

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Thomas Knüwer 4. November 2019 um 9:35

@John Terry: Sie haben Recht – und auch wieder nicht. Die Unterscheidung in die Auswirkungen von Lebensstilen ist korrekt, aber bei weitem nicht so trennscharf, wie Sie es sich wünschen. Es ist leider einer der Makel der Klimadebatte, dass man glaubt, einfache Lösungen parat zu haben und Klimabilanzen für genauso einsatzfähig hält wie Fußballergebnisse.

Beispiel: Sie möchten weniger Flüge, um das Klima zu schützen? Dann stürzen Sie vom Tourismus abhängige Länder wie Thailand oder Kenia weiter in die Armut. Möchten Sie das? Die Folge ist, dass in diesen Ländern Umweltschutz eine noch geringere Rolle spielen wird. Unser Müll – ganz auf Null werden wir halt nicht kommen – wird dann dorthin verschifft werden, wir werden umweltbelastende Produktionsmethoden dort wachsen sehen. Hinzu kommt, dass Armut den Migrationsdruck erhöhen wird und diktatorischen Regimen hilft. Das könnte man dann ein Stück weit mit massiver Entwicklungshilfe abstellen – doch dafür fehlt dann in der westlichen Welt das Geld. Denn einerseits fällt mit der Reiseindustrie ein Wirtschaftsfaktor weg, andererseits muss ja die Wirtschaft ökologisch umgebaut werden. Wie könnte die Lösung aussehen? Vielleicht eben verpflichtende Klimaschutzzertifikate für Flugreisende.

Sie sehen vielleicht, wie komplex die Situation ist. Diese Komplexität bildet sich leider auf Seiten der Klimaschutzlobby exakt gar nicht ab. Das macht mich deshalb traurig, weil Umweltmanagement in den Jahren 1992 – 1995 einer meiner beiden Studienschwerpunkte war und vieles, was heute debattiert wird, damals schon Thema war. Leider wurde der Studiengang in Münster später mangels Interesse beerdigt.

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thorstenv 23. November 2019 um 21:53

"Sie möchten weniger Flüge, um das Klima zu schützen? Dann stürzen Sie vom Tourismus abhängige Länder wie Thailand oder Kenia weiter in die Armut."

Richtig. Thailand hat schon vor 1000 Jahren vom Tourismus gelebt und wird in 1000 Jahren immer noch davon leben müssen. Weil Volkswirtschaften eben unwandelbar sind.

"Unser Müll – ganz auf Null werden wir halt nicht kommen – wird dann dorthin verschifft werden, …"

Richtig! Weil … ach ne ich mag nicht mehr. Get yourself informed. Damnit.

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@ma_promat 31. Oktober 2019 um 16:00

Arthur Fleck: „Is it just me or is it getting crazier out there?“ Social Worker: „It is certainly tense. People are upset, …“

…und die kleinen Anschläge sind bereits im Alltag angelangt, nicht die abgefackelten SUV der Bonzen oder die privaten Autos von Linken Politikern, die den Staatsschutz auf den Plan rufen und zu denen SoKos der Polizei eingerichtet werden, sondern die Tags FCK SUV oder FCK PKW schnell mit einem Edding auf willkürlichen Autos angebracht. Gestern hat es einen gelben Audi A2 erwischt – ironischerweise einer Ikone der Benzinsparsamkeit und Genügsamkeit an zu beanspruchtem Raum.
In Berlin zogen letzte Nacht Unbekannte in Don Dahlmanns kuscheliger Nachbarschaft durch die Straßen und bespritzten SUVs mit Farbe. Kollateralschäden an Kleinwagen links und rechts inklusive.

Ein besonders eklatantes Beispiel im Post war für mich der Typ, der ein Glas in den Ochsengrill warf – nicht in der Anonymität des Internets, nicht im Schutze der Dunkelheit, nicht einmal nach der „aktivistischen Tat“ flüchtend, nope, in aller Gelassenheit spie er seine Einstellung für die Betroffenen und Umstehenden sichtbar als „Mikrogewalt“ entgegen. In anderen Geschmacksrichtungen hätte dies eine Kippa oder ein Kopftuch gewesen sein können, welche Menschen vom Kopf geschlagen werden, oder das multikulturell übergreifend hoch geschätzte Anspucken von Mensch oder Gegenstand.

Was mir weniger Sorge bereitet als die Mutation von XR zu einer RAF 4.0, ist der Effekt auf das gesellschaftliche Miteinander, wenn Menschen nicht mehr unbeschadet durch den Alltag kommen, ohne täglich mehrfach Opfer von Mikrogewalt unterschiedlicher „Aktivisten“ und Lifestyles zu werden.

Zwei Einschätzungen, die mir als Erklärungsansatz für diese Veränderungen plausibel erscheinen:

Zum einen führt die Atomisierung von Lifestyles (note: nicht Individualisierung) zu einer Erosion von gemeinsamen Erfahrungen, die als Basis für Solidarität fungieren. Solidarität ist dabei die entgegengesetzte Kraft, die eine Vielzahl atomisierter von aus einander driftender Lifestyles als gemeinsame Gesellschaft zusammen hält. Der Vorteil von „Big Tent“ Organisationen, wie Volksparteien, waren profane einigende Effekte wie „Ist zwar Preussen Münster Fan, aber Genosse, Klappmesser nicht ausfahren.“

Zum anderen – Sascha Lobo würde rot zum Rant anlaufen – ist es die Entwicklung individuell zu entscheiden, ob die eigene Moral oder allgemeine Regeln zu gelten haben. Auf Regeln wird gepocht, wenn sie der eigenen Position dienlich sind und Zeter und Modrio geschrieen, wenn sie durch Dritte nicht beachtet werden.

Der für mich erschreckende Gedanke ist, dass lediglich Homogenität oder zumindest eine nur beschränkte Bandbreite von Einstellungen beiden Entwicklungen entgegen wirken kann. Nur wenn Lifestyles eine Überlappung zueinander haben, lässt sich Solidarität aufbauen. Nur wenn grundlegende Regeln von allen akzeptiert werden, entfalten sie ihre Wirkung. Was nutzt eine rote Ampel, wenn sich keiner an sie hält?

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Bernd 31. Oktober 2019 um 16:47

Man muss dem Individuum wieder deutlich machen, wie unbedeutend man als Einzelperson ist. Unwichtig im besten Sinne des Wortes. Und seine Palaver ebenso. Weil jeder solche ablässt.

Der so entstandene Narzissmus und die Egozentrik der Betrachtungsweisen müssen zurückgedrängt werden. Im sozialen Friedensinteresse aller.

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Wolfgang Lünenbürger 1. November 2019 um 9:01

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob dein Text nicht selbst ein Beispiel für den Realitätsschock und den Filterqubble-Clash ist. Denn die meisten der Beispiele kommen mir aus den 80ern und 90ern bekannt vor. Und einer deiner Schlüsselsätze (Wer nicht für mich ist, ist gegen mich) stammt von Jesus von Nazareth und nicht von der Mafia. Kann es einfach sein, dass die Härte in der Auseinandersetzung, die Aktivistinnen (und Christinnen) schon immer erlebten, nun einfach sichtbarer ist und damit – und da stimme ich dir dann zu – von Menschen adaptiert wird, die vorher nicht in diesen Kämpfen waren? Ja, als jemand, dessen Biografie in Bewegungen und der Kirche verwurzelt ist, kommen mit manche Dinge, über die ich Empörung sehe und auf die mit aktivistischer Aktion reagiert wird, auch albern vor. Aber das Phänomen selbst kenne ich sehr gut. (Und nein, auch in den 80ern und 90ern haben "wir" schon die gemütlichen Stammtischrunden gestört; nur dass es mangels Skalierung nicht für alle so gut sichtbar war.)

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Thomas Knüwer 4. November 2019 um 9:25

@Wolfgang: Das mit den 80ern und 90ern warfen mehrere Menschen ein – und ich war ja nun in dieser Zeit auch am Leben und das bewusst. Deshalb auch möchte ich diese Meinung bestreiten. Es gab vor allem in Großstädten und vor allem aus der linken Szene Vandalismus und Aktionen wie das Besprühen von Pelzmantelträgerinnen. Aber: Heute ist die Varianz der Lebensstile, gegen die man sein will, erheblich breiter. Und: Wir wehren uns viel stärker gegen rechte Tendenzen wie Sexismus, Homophobie oder Rassismus. Das ist natürlich auch gut so. Nur erzeugt es mehr Reibung und mehr Aggressivität auf der Gegenseite.

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thorstenv 23. November 2019 um 21:39

"… schon die gemütlichen Stammtischrunden gestört …"

Es geht heute eben schneller. Wenn jemand am Stammtisch Blödsinn verbreitet, habe ich die wichtigsten Gegenargument und -fakten in 20 Minuten am Handy gegoogelt. Früher musste ich dazu nach Hause, meine Archiv durchstöbern, was aus der Bibliothek bestellen, was kopieren lassen etc.. Wenn Mensch sofort und brutal damit konfrontiert wird, dass man Blödsinn aufgesessen ist, ist die Abwehr aggressiver. Aufklärung wird als Bloßstellung empfunden.

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hinterwald 2. November 2019 um 5:48

> Wir müssen erkennen, dass Dinge, die wir als gewiss angenommen haben, falsch sind.

das ist entzückend nah an "alles was du weisst, ist falsch" (ra wilson, motto aus "cosmic trigger")

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Thomas Knüwer 4. November 2019 um 9:27

@Hinterwald: Da möchte ich Sie korrigieren, denn Sie verdrehen die Aussage. Es geht bei Lobos Definition nicht darum, dass ALLES anders ist – sondern nur gewisse Dinge.

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Stammtischphilosoph 3. November 2019 um 14:47

Schöner Artikel, vielen Dank dafür. Diese Beobachtung beunruhigt mich auch schon länger. Unklar bin ich mir über die Ursachen. Möglicherweise hängt dies weniger mit dem Netz als mit dem realen Leben zusammen; wobei das Netz durchaus ein Katalysator sein kann (aber nicht mehr). Beispiele:

Fahrradfahrer (ohne dass ich einer wäre) die viel über zugeparkte Radwege/Falschparker etc. posten und sich- (zu Recht) drüber aufregen, da von den zuständigen Stellen (Stadt/Ordnungsamt) wenig bis nichts passiert und beweisbares Fehlverhalten gedultet/nicht/unzureichend geahndet wird. Das führt zu Unmut / Gefühl der Hilfslosigkeit und Gegenreaktionen („Selbstjustiz“ in Form von Wegehlden-Apps o.ä.).

Eltern die sich über Schulen/Kitas aufregen: Wartelisten, Klassengrößen, Mobbing, Qualität, …

Dieselskandal, BER, Stuttgart 21, PKW-Maut, Lebensmittelskandale, Klimawandel, Lobbyismus, Wirtschaftsnähe von Politikern – für ein paar Bundesweit bekannte Themen, aber sowas gibt es auch auf regionaler Ebene. Gibt es fast täglich ordentlich recherchierte Artikel drüber.

Meine Beobachtung geht dahin, dass ein Großteil der Berichterstattung / dessen was geteilt wird über Negatives geht (es gibt ja auch irgendwo den Versuch einzelner Medien, die „positive Nachricht“ des Tages zu verkünden, was aber eher Tropfen auf heißem Stein entspricht). Und durchaus ist das Negative nichts „gefühltes“ im Sinne von „Fremde die mir die Arbeit stehlen“, sondern fußt auf nachweislichem Unrecht/Fehlverhalten/… bzw. lässt sich auf staatliches Fehlverhalten zusammenfassen.

Daraus kann dann das Gefühl „der Ehrliche ist der Dumme“ entstehen, bzw. Wut, dass „nichts passiert“, „die nichts machen“, „sich selber in die Taschen wirtschaften“, …

Theorie ist also: „was die können, kann ich auch“ mit dem Ergebnis der zunehmenden Verrohung / Reduzierung gegenseitiger Rücksichtsnahme. Bis hin zu: „wenn man sich nicht selber kümmert“ um dann die aus der eigenen Perspektive drängensten Probleme durch Aktivismus in irgend einer Form lösen zu wollen. Ursache für all dies ist aber aus meiner Wahrnehmung der fehlende Staat: würde sich bspw. ein Ordnungsamt qua Zuständigkeit konsequent um Falschparker kümmern, hätten die Fahrradaktivisten schon viel weniger zu tun. Selbiges, wenn an anderen Stellen weniger gespart und sich mehr um für die Gemeinschaft wichtige Aufgaben gekümmert würde. Insofern verwundert es leider auch nicht, dass insbesondere im Dunstkreis der A*D-Anhänger das Gejubele um „staatliches durchgreifen“ so populär ist.

Kurz: ich glaube, wenn hier der Staat für mehr Gerechtigkeit sorgen würde, wäre die Notwendigkeit/Bereitschaft zur Verrohung weniger gegeben und bestimmte Spektren hätten auch weniger Zulauf.

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Dieter Rappold 5. November 2019 um 23:17

Teile die These. Hat auch was mit dem Verschwinden der Religionen zu tun. Mein Körper ist nun meine Kirche. Statt Christ bin ich nun Veganer oder laktoseintolerant, mit Betonung auf intolerant. Und nachdem im postfaktischen Zeitalter Gefühle wichtiger sind als die kühle Ratio ist die Moral das Benzin unseres gesellschaftlichen Motors. Genauer die Hypermoral. Dazu passend und unterhaltsam: Hypermoral: Die neue Lust an der Empörung https://www.amazon.de/dp/3532628031/ref=cm_sw_r_sms_awd_xs_NrFWDbVQ94S8M

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Peter 6. November 2019 um 11:16

Danke für den einsichtigen Text, besser spät als nie (muss ich leider zynisch anmerken, sorry). In Leipzig sind die Linksextremen übrigens schon weiter mit ihren Methoden als Sie derzeit noch annehmen: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus202988174/Linksextreme-Kiez-Miliz-Kaputte-Scheiben-brennende-Autos-und-kaputte-Nasen.html
Zitat: "Eine Leipziger Gruppe, die sich „Kiezmiliz“ nennt, veröffentlichte auf der Plattform Indymedia, die oft von Linksextremisten genutzt wird, am 3. November eine Erklärung, die kaum anders denn als Aufruf zur Gewalt gegen solche Menschen gelesen werden kann: „Wir haben uns deswegen entschieden, die Verantwortlichen für den Bau eines problematischen Projekts im Leipziger Süden da zu treffen wo es ihr auch wirklich weh tut: in ihrem Gesicht.“ Es folgt der volle Name der Frau, die beruflich mit einem in der Szene verhassten Bauprojekt zu tun habe, samt Privatadresse. Wie jetzt bekannt wurde, wurde die Frau am Sonntagabend in ihrer Wohnung von vermummten Linksextremen verprügelt." https://www.bild.de/regional/leipzig/leipzig-news/gewalt-linke-chaoten-ueberfallen-und-verpruegeln-frau-34-65805320.bild.html

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Tim Golla 7. November 2019 um 9:13

Es gibt einen relativ unbekannten Poetry Slam von einem gewissen Lucas Thiem (zu sehen auf Youtube). Er spricht darin eigentlich über die Sinnlosigkeit und Tristesse von Poetry Slams. Eine aber sehr wertvolle Erkenntnis dieses Textes ist die Zeile "Schafft Meinung ab; vertragt euch lieber!" Dieser Satz geht leider etwas unter, ist für mich aber zu einer Quintessenz und zu einem Leitsatz geworden. Weiter geht es in seinem (übrigens sehr gut gereimten Text) "Ich stehe dazu, dass ich kaum noch Meinung habe, außer natürlich, keine Frage, ich habe die Macht zur Einflussnahme." Es führt mich dazu, darüber nachzudenken, warum es den Menschen so wichtig ist, ihre Meinung im Netz zu äußern. Man kann nur an der Oberfläche kratzen in diesem Kommentarfenster. Die -im Gegensatz zu realem, sozialen Leben- Lifestyle-Blasen, Digitale Communities, usw.. Und die Frage: Wer profitiert eigentlich davon, dass ich dazu animiert werde, meine Meinung zu äußern? Letztlich (und leider ist es zu einem allgemeinen Blabla-Wort verkommen) kann man nichts weiter tun, als an Achtsamkeit, Empathie und Respekt zu appellieren. Diejenigen, die schon seit Anbeginn der Zeit gesellschaftliche Ströme beobachten und auf Gefahren hinweisen wissen, dass ihre Worte nicht wirklich viel bewegen (Gute Referenz für alle HipHop-Fans ist der Song "Musik ist keine Lösung" von Alligatoah). Für die obige Gesellschaftsanalyse einen Gegenentwurf zu bilden gibt es keine einfache Antwort. Ansonsten wäre das Thema ja auch genauso bedeutungslos, wie diverse polemische Slogans aus allen Richtungen.
Sich gesellschaftlich einbringen kann man in seinem Umfeld, oder eben mit Initiativen, die für die Werte einstehen, ohne Jemanden auszuschließen, oder den Dialog zu verweigern.
Aber, bevor die Menschheit an Lebensstil-Terrorismus scheitert, ist der Planet eh nicht mehr bewohnbar.

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Thomas Knüwer 7. November 2019 um 14:16

@Tim Golla: Ich sehe das nicht so skeptisch wie Sie. Seit 2005 blogge ich und stelle meine Meinung zur Debatte (und diskutiere mit). Nichts hat mich in meinem Leben klüger gemacht. Desgleichen das Social Web: Ich habe immens viel durch die Diskussion mit Menschen gelernt, die andere Meinungen vertreten. Und nicht nur ich habe durch solche Debatten meine Ansichten korrigiert oder komplett verändert – sondern auch andere.
Wer sich auf Debatten im Meat-Life (viel zu selten verwendetes Wort) beschränkt, wird sich letztlich immer in einer Filterblase bewegen. Beispiel Initiativen: Sie stehen für eine bestimmte Haltung, engagieren sich für oder gegen ein Projekt. Doch sie leben vom Zusammenhalt und von einer relativ einheitlichen Weltsicht.

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S.Hubert 13. November 2019 um 17:49

Ich sehe nur eine Welt in der massiv manipuliert wird auf allen Ebenen.
Und zwar Emotional.

* Hate Speech und Morddrohungen (Online) soll Angst und Furcht auslösen.
* Cam Girls die mit den Titties wackeln spielen auf Liebe und Zuneigung, damit der Betrachter die Geldbörse öffnet.
* Ellen DeGeneres spielt auf Mitgefühl und Nächstenliebe, und sitzt neben dem größten Kriegsverbrecher der Neuzeit.
Jimmy Dore hat das ganze übrigens mal zusammengefasst… besser gehts nicht: https://www.youtube.com/watch?v=yGNebWt9_zI

Es geht immer und überall um Emotionale Trigger…und wenn man es schafft eine Emotionale Reaktion auszulösen, dann hat der Angreifer gewonnen.
Und diese Angriffe kommen nicht nur aus dem Negativen Spektrum (Hate Speech), sie kommen auch aus dem positiven Spektrum (Schmeicheleien z.b.).
Emotionen (positiv und negativ) schalten den rationalen und Logischen Verstand aus. Das ist ein Fakt.

Das ist das Spiel was aktuell Online von allen gespielt wird.
Und wenn man diesem Spuk ein Ende bereiten will… muss man den Menschen beibringen was "Emotionale Intelligenz" ist.

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con2art 14. November 2019 um 11:47

Ich finde es schön, dass Sie zugeben, keine Lösung zu haben, vielleicht schützt das dieses Mal meine These vor direkter Abwertung Ihrerseits:

Es handelt sich um die Diversität, wie sie von fast allen Seiten gefordert wird. Kämpfe sind da die logische Konsequenz, jedenfalls so lange Menschen noch Tiere sind.

Wie Sie selbst schreiben, ist die Welt eben nicht Schwarz und Weiß, sondern hat Grautöne. Und wenn jeder Einzelperson erzählt wird, dass sie nicht nur einmalig ist, sondern wert beachtet zu werden, führt das im Sinne der Evolution gesetzmäßig zu Konflikten. Die Welt ist nicht komplizierter, weil wir 4K Live aus Bangladesh empfangen, sondern weil jeder noch so kleinen Minderheit Raum gegeben wird. Egal ob es ein kleines Mädchen ist, das gar nicht weiss, was es da tut ("Schwerinordnungausweis") oder ein Lokalpolitiker, der zufällig das Internet hasst ("Netzgemeinde, ihr werdet den Kampf verlieren").

Und bevor mir Diskriminierung vorgeworfen wird: Es geht nicht darum, dass diese Menschen so handeln und ihre Spleens oder ihre Träume oder ihre Verrücktheiten ausleben. Ein Mann, der meint, er wäre eine Frau, soll doch bitte in Frauenkleidern rumlaufen und wer meint, er müsse Globuli schlucken, soll er das tun. Aber warum dürfen diese Minderheiten den Diskurs bestimmen? Da ist Gewalt zwangsläufig.

Sie – wie viele andere – sprechen zwar noch davon, dass man Dialoge führen sollte. Aber damit vertreten Sie die Meinung, dass man sich auf einen Konsens einigen und Kompromisse eingehen soll. Aber das ist nicht mehr gewünscht. Jede Minderheit sieht sich diskriminiert, wenn ihre Meinung nicht umgesetzt wird. Es geht sogar noch weiter – gerade die Tage bei Golem bezüglich Fähigkeiten der Geschlechter gelesen – wir sind inzwischen an dem Punkt, an dem Tatsachen und Fakten als Diskriminierung empfunden werden. Solle Irren gab es immer, siehe religiöse Gläubige. Aber diese Menschen werden heute ernst genommen.
"Der Penis ist nur ein soziales Konstrukt" – das steht so in Artikeln der Zeit oder bei Golem. Die Ansichten von Minderheiten werden als respektabel betrachtet.
Von jeder Minderheit. Die Mehrheit ist damit zerbrochen. Zerschlagen worden.

Wir haben keine Gesellschaft mehr, in der jeder frei seine Persönlichkeit entfalten kann.
Wir haben tausende bis Millionen Gruppen und Einzelperson, die gegeneinander kämpfen, weil sie keine Gemeinsamkeiten mehr sehen. Schon allein, weil dieser neuen Generation junger Erwachsener, von rechten wie linken Demagogen anerzogen wurde, dass sie absolut individuell sind und sich von anderen abzugrenzen haben. Diese Minderheiten werden dann auch noch von Medien oder Internet (Likes) hofiert.

Gesellschaft definiert sich durch Personen und Gruppen, die alle eigene Ziele verfolgen, aber durch gemeinsame Sprache und Werte miteinander verbunden sind. Das Konzept der Individualität und Diversität, wie es auch seit den 1990-Jahren von der Politik als Leitbild formuliert wird, hat die Gesellschaft auseinanderbrechen lassen.

Ich stimme zu, wir stehen erst am Anfang.
Der Terror hat ein neues Ziel: Das Durchsetzen der eigenen Individualität als Leitbild für alle anderen.

Ich sehe nur eine Möglichkeit das zu verhindern – zurück zur Gesellschaft. Besinnen auf die Gemeinsamkeiten. Sollen Behinderte doch ihren Ausweis wegwerfen, sollen Frauen doch glauben, dass sie Männer sind, sollen Rassisten doch meinen, dass Flüchtlinge an allem Schuld sind und Frauen, dass Männer der Penis abgeschnitten gehört. Aber diese individuellen Meinungen, diese Diversität darf den Diskurs nicht mehr bestimmen.

Es muss wieder der gesellschaftliche Gedanke im Vordergrund stehen. Jeder darf seine Meinung haben, so lange er andere nicht beeinträchtigt in seiner Entfaltung, darf er diese auch ausleben (Der Rassist/Die Feministin darf gerne in der eigenen Wohnung den Hass gegen Flüchtlinge/Männer ausleben, solange die Person nicht körperlich gegen diese Gruppen aktiv wird) , jeder darf auch seine Meinung sagen, man kann sie zur Kenntnis nehmen, aber so lange sie in der Minderheit ist, darf sie nicht mehr als beispielhaft für die Gesellschaft stehen.

Und das ist nicht nur eine Sache der Medien, sondern von jedem Einzelnen.

PS
Das ist meine These: Die propagierte Diversität hat zu narzisstischem Egoismus geführt und die Gesellschaft auseinanderbrechen lassen. Manche meiner Aussagen wirken wahrscheinlich politisch unkorrekt, das heisst, mancher fühlt sich emotional verletzt – aber das ist genau das, was ich meine. Auf solche Minderheiten ist keine Rücksicht zu nehmen. Schiebt euch eure Trigger Warnung sonstwohin und werdet erwachsen. Beleidigend, rassistisch oder abwertend war ich nämlich nicht.

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Rudra 9. Dezember 2019 um 11:13

Unsere Gesellschaft hat vor allem eins: ein Mangel an sozialer Kommunikation. Das führt vor allem dazu, dazu mit zunehmenden Mangel Respekt gegenüber dem anderen verlorengeht, scheinbar nicht mehr möglich ist. Alles andere, was dann nicht in die eigene "Filterblase" paßt, triggert und löst Abneigung aus.

Hinzukommt, das in den konsumierten Medien Inhalte gefiltert werden, was dazu führt, das die eigene Position einseitig verstärkt. Auch kommt dazu, das traditionelle Medien seit Jahrzehnten der technischen entwicklungen hinterherhinken und eigentlich nicht mehr der Meinungsbildung dienen, wie zum Beispiel im Rahmen der "Aufklärung".

Inzwischen sind wir -technisch gesehen- eigentlich nicht mehr abhängig von Verlagen, nur scheint sich unser Umgang mit den Medien nicht mit den technischen Möglichkeiten mitgekommen zu sein.

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Thomas Knüwer 9. Dezember 2019 um 12:16

@Rudra: Ich möchte Ihnen heftig widersprechen. Wir haben so viel Kommunikation mit so unterschiedlichen Menschen, wie nie zuvor. Das Problem ist ja eher das Platzen der eigenen Filterblase: Wir bekommen jetzt mit, was andere Menschen denken – wie auch im Artikel beschrieben. Dies betrifft auch die Filterung von Inhalten. Zahlreiche Studien zeigen, dass beispielsweise Menschen aus dem extremrechten Spektrum ja nicht abgeschottet sind von klassischem Journalismus (dies sieht man ja an den Kommentaren unter Nachrichtenartikeln).

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