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Carsten Linnemann dürften vor dem gestrigen Tag weitestgehend nur Politik-Junkies gekannt haben – und heute hält halb Deutschland (Pi * Q * Daumen-Schätzung des Autors) den stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für einen AFD-Anbiederer und verkappten Rassisten.

Der Grund: Linnemann hat eine wichtige Regel des digitalen Medienzeitalters missachtet, die ich ab jetzt – mangels anderer Betitelung – „Linnemanns Regel“ nennen möchte . Sie lautet:

Gib niemals ein Interview, das hinter einer Paid Content-Wand oder Anmeldeschranke verschwindet.

Warum Linnemanns Regel so wichtig ist, zeigt der Fall… na ja, Linnemann.

Der CDU’ler hatte in einem Interview mit der „Rheinischen Post“ über etliche Themen gesprochen. Das meiste davon war wenig interessant und eher vorhersehbar. Selbst RP Online selbst setzte Linnemanns Aussage, dass die CDU eindeutig gegen eine CO2-Steuer ist, in die Überschrift.

Das fanden dann anscheind die Interviewführer auch langweilig und spitzten das Gespräch in einem Textartikel nochmal zu:

Jenes Zitat in der Überschrift ist übrigens so nicht gefallen, es ist eine Erfindung der Redaktion.

Ohne dieses Stück hätte Carsten Linnemann heute einen schönen Sommertag. Doch nun ist die Idee vom „Grundschulverbot“ in der Welt, das für Kinder mit nicht ausreichenden Sprachkenntnissen gelten soll. Von der „Rheinischen Post“ aus macht sie dank DPA die Runde durch die Medienlandschaft.

Hat Linnemann ein solches Verbot wirklich gefordert?

Nein.

Hier die entsprechenden Passagen:

„Wenn wir in jeder Sonntagsrede erzählen, wie wichtig die Sprache für die Integration ist, dann müssen bei uns alle Alarmglocken schrillen, wenn bei Sprachtests in Duisburg über 16 Prozent der künftigen Erstklässler gar kein Deutsch können, und bei Vergleichstests in Berlin nahezu jeder dritte Grundschüler beim Lesen und Zuhören nicht einmal den Mindeststandard erreicht. Die Probleme werden immer größer, wir erleben neue Parallelgesellschaften in vielen Bereichen des Landes…

Es reicht nicht nur, Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen durchzuführen, sondern es müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch (Hervorhebung durch Indiskretion Ehrensache) nichts zu suchen. Hier muss eine Vorschulpflicht greifen, notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden. Das kostet Geld, aber fehlende Integration und unzureichende Bildung sind am Ende viel teurer.

Frage: Sie meinen, dass zu viel Zuwanderung die Qualität der Schulen hemmt?

Linnemann: Diese Formulierung ist mir zu pauschal, zumal die Qualität der Schulen von vielen Faktoren abhängig ist. Aber wenn der Deutsche Philologenverband davor warnt, dass ein Migrationsanteil ab 30-40 Prozent häufig mit einer Absenkung des Leistungsniveaus einhergeht, dann sollten wir diese Zusammenhänge gerade in Zeiten verstärkter Zuwanderung aus anderen Kulturen nicht unter den Teppich kehren. Die oftmals so eilig hervorgeholte Rassismus-Keule nützt hier niemandem. Auch nicht den Kindern von Zuwanderern, die sich hier eine Zukunft aufbauen möchten.“

Das sind konservative Ansichten – aber keine rechtsextremen oder -radikalen. Tatsächlich ist es eher so, dass solche Regelungen ansatzweise schon existieren. So gibt es in mehreren Bundesländern Pflichttests vor der Einschulung, verbunden mit Fördermaßnahmen für Kinder mit mangelnden Sprachkenntnissen. Linnemann verschärft dieses Vorgehen verbal (wobei es so wirkt, als kenne er die existierenden Regeln nicht), überdreht sie aber nicht.

Doch das sind Details. Und für Details hat die Politik keinen Bock mehr: Da hat ein Gegner (was in der politischen Welt nur ein höflicheres Wort für „Feind“ zu sein scheint) eine offene Flanke geboten – also rein mit dem Messer, im Körper nochmal gedreht, dann Chili drauf gestreut, schreien soll das Schwein und alle sollen es hören. Gegen das politische Berlin im Jahr 2019 ist ein Splatter-Film kollektives Grupenkuscheln.

Und der Leser? Der findet jene Details nur mit einigem Aufwand oder monetärem Engagement.

Schließlich verfällt die Masse des deutschen Journalismus nach Jahren der Besserung einer 20 Jahre alten Unsitte: Medien verlinken nicht auf Medien, „mein Leser gehört mir“, hieß das früher und war die mediale Version der Sklaverei.

So könnte Spiegel Online in seinem Stück auf mindestens 5 Medienquellen verlinken – tut es aber kein einziges Mal:

N-TV vollbringt die technische Meisterleistung, einen Tweet zum Thema in den Artikel einzubauen – das mit dem Verlinken aber scheint eine nicht vorhandene Funktionalität zu sein. Die „Süddeutsche“ kommentiert hingegen mit donnernden Worten – verlinkt aber nur auf eigene Inhalte. Das tut auch die „Neue Westfälische“, fälscht aber ebenso wie die „Rheinische Post“ ein Zitat:

Doch selbst die wenigen Medien, die zur Originalstory verlinken, erweisen den Lesern einen Bärendienst. Denn was sieht, wer dem Link folgt?

Das Interview ist nur lesbar nach Anmeldung. Und erst unter jenem gelben Fenster taucht der Haken an der Sache auf (natürlich in kleinerer, dichter gesetzer Schrift und somit schlechter lesbar):

Die Datenkrake „Rheinische Post“ möchte gefüttert werden. Folge: Die allermeisten Interessenten werden sich dem verweigern und sind somit auf die unvollständige oder verfälschte Berichterstattung anderer Medien angewiesen.

Wir sehen: die neue Normalität der Medienwelt. Ein Interview wird hinter einer Bezahlwand versteckt, eine zugespitzte Meldung soll das Interesse fördern. Doch es ist die Zuspitzung, die sich verbreitet, nicht das Urstück.

„Journalismus muss Geld kosten“ ist die parolige Begründung aus Medienhäusern, oft verbunden mit dem Hinweis, dass es früher doch genauso war. Doch genau das stimmt eben nicht. Früher wäre solch ein Interview in einer Zeitung erschienen und DPA hätte sich alle Mühe gegeben, dieses eben nicht „zuzuspitzen“, sondern neutralstmöglich zu schildern. Anschließend hätte es einen sehr begrenzten Kreis von Menschen erreicht, denn ob der „Schwäbische Bote“ über das Interview der „Rheinischen Post“ mit einem relativ unbekannten CDU’ler berichtet hätte ist schon weniger wahrscheinlich. Heute fließt eine DPA-Meldung auch schon mal ungefiltert auf eine News-Seite, bestenfalls wird sie ein wenig aufgehübscht.

Früher also hätten wenige Menschen die neutrale Version einer Meldung bekommen – heute bekommen viele die Option eine überdrehte Version zu lesen. Und dieser Situation müssen alle an der Medienwelt Beteiligten sich stellen.

Denn es ist ja utopisch, dass ein Leser so viel Geld aufbringt, all jene Abos zu bezahlen, die jetzt schon existieren. Richard Gutjahr, Chefredakteur von emobly, hat in der vergangenen Woche diese Grafik erstellt:

Es ist vollkommen legitim, wenn die Medienkonzerne sich auf Abos als Bezahlmodell festlegen – schließlich leben wir in einer freien (sozialen) Marktwirtschaft. Meine Meinung dazu ist ja nicht neu: Paid Content wird nicht ausreichend Einnahmen erbringen, um die aktuelle Konstruktion von Verlagen auch nur annähernd erhalten zu können. Aber trotzdem: Versuchen darf das natürlich jeder.

Wer dies aber tut, sollte auch zu den gesellschaftlichen Folgen stehen: Jedes journalistische Stück hinter einer Bezahlschranke bedeutet, dass es  dem wichtigsten Ort der gesellschaftlichen Information und Debatte entzogen wird: dem Internet. Im Gegenzug wird dieser Ort den Extremisten, Trollen und Lügnern überlassen.

Wer zuvorderst etwas dagegen tun kann, sind Interviewpartner der Medien. Sie können fordern, dass ihr Interview nicht hinter solch einer Schranke veröffentlicht wird.

Es gibt noch eine andere Option, die Erweiterung der Linnemannschen Regel:

Wenn Du einem Medium mit Bezahlschranke ein Interview gibst, dann veröffentliche es zeitgleich selber auf Deinen Präsenzen.

Tatsächlich gibt es das ja immer mal wieder, dass eine Partei oder ein Politiker sein Gespräch auf der eigenen Homepage online stellt. Nur: Dafür muss er eine solche aktiv pflegen.

Linnemann tut dies nicht. Auf carsten-linnemann.de passiert nur selten etwas, seine Facebook-Page wird eklektisch-kryptisch bespielt. Weder hier noch dort findet sich in dem Moment, da der Betreiber in einer Erregungswelle steht, ein Hinweis auf das Thema.

Die Folge: Der Name Carsten Linnemann wird auf absehbare Zeit verbunden sein mit einem Grundschulverbot für geflüchtete Kinder.

Nachtrag vom 16.12.2021: Christian Drosten scheint auch ein Freund der Linnemann-Regel zu sein – auch wenn er sie kaum kennen dürfte. Den Riffreportern sagte er:

„Also man wird einfach vorsichtig in den Äußerungen und man überlegt sich genau, welche Formulierungen man verwenden kann und man antizipiert im Prinzip, während man den Satz spricht, schon, wie das verkürzt werden kann für eine Schlagzeile, die dramatisiert ist und die dann missverstanden wird von einigen Medien…

Und bei den Printmedien ist es auch so, ich gebe ja manchmal hier und da ein größeres Printmedien-Interview. Da vereinbare ich immer im Vorfeld, dass ich das Interview nur dann gebe, wenn der Artikel hinter der Bezahlschranke befreit wird, also wenn jeder das lesen kann.“

Hinweis: Aufgrund des Leistungsschutzrechtes verlinke ich seit 2012 nicht mehr auf Verlagsangebote. 


Kommentare


Frank 6. August 2019 um 21:12

Da gibt es inzwischen etwas von Froben Homburger, DPA-Nachrichtenchef
https://twitter.com/fhomburger/status/1158703713470636033

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J. Michael 7. August 2019 um 1:06

Alles schön und gut. Aber wie soll ein Verlag den Interviewer bezahlen, wenn sein Produkt im Internet verschenkt wird?

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Thomas Knüwer 7. August 2019 um 10:29

@J. Michael: Die Debatte über die Refinanzierung von Medienangeboten läuft hier seit Jahren. Kurze Zusammenfassung..

1. Rein über Werbefinanzierung waren die allermeisten Nachrichtenangebote profitabel – diese Position wurde verschenkt, weil man sich in Massenautosuggestion einredete, dass das ja nicht sein könnte.

2. Hinzu kommt ein gehobenes Maß an Unprofessionalität.

Ich arbeite gerade an einer neuen Version jener Denkanstöße aus dem Jahr 2013 – bitte aber noch ein wenig um Geduld.

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DL2MCD 7. August 2019 um 3:53

Als Autor wäre es dagegen sogar von Vorteil, nur für Angebote hinter einer Bezahlschranke zu schreiben. Trolle geben schließlich nicht extra Geld aus, um dort den Autor zu zerfleischen.

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Klaus 7. August 2019 um 9:02

Ahem, mit irgendwas muss die Presse doch auch Geld verdienen?

Ich würde eher sagen, dass die Damen und Herren aus der "Zuspitzabteilung" gerügt werden sollten. Leider ist es in den heutigen Zeiten normal, dass man nur mit der reißerischsten Überschrift geklickt wird …

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Thomas Knüwer 7. August 2019 um 10:30

Die Debatte über die Refinanzierung von Medienangeboten läuft hier seit Jahren. Kurze Zusammenfassung..

1. Rein über Werbefinanzierung waren die allermeisten Nachrichtenangebote profitabel – diese Position wurde verschenkt, weil man sich in Massenautosuggestion einredete, dass das ja nicht sein könnte.

2. Hinzu kommt ein gehobenes Maß an Unprofessionalität.

Ich arbeite gerade an einer neuen Version jener Denkanstöße aus dem Jahr 2013 – bitte aber noch ein wenig um Geduld.

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Jochen Baumberge 9. August 2019 um 21:54

Wenn eine Neuauflage von "Wie Verlage im Internet Geld verdienen" geplant ist, dann sollten diesmal auch Podcasts und deren Crowd-Finanzierung über Patreon Steady ein Thema sein. In Deutschland haben einige ehemalige Print-Spielejournalisten mit dieser Finanzierungsmethode sehr erfolgreiche Podcast-Projekte aufgebaut – und damit ihren alten Verlagen gezeigt, wie man im Internet gutes Geld verdient.

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DL2MCD 10. August 2019 um 23:11

Die Marktführer sind sicher rentabel. Wobei gerade die dann mit Paid Content kommen. Was ok wäre, wenn dafür die Werbung weniger penentrant würde. Muß ja nichts ein, daß jeder Artikel mit einer Unmenge bunter Bilder "Auch interessant" ausläuft.

Aber das geht genausowenig, wie die ÖRR dafür, daß wir Rundfunkgebühren zahlen, uns Werbung ersparen würden. Selbst im Pay-TV gibt es ja noch Werbung…

"Die aus der Zuspitzabteilung" ist der richtige Ausdruck, auch wenn es selten eine extra Abteilung ist. Solche Sachen kommen selten vom normalen Redakteur, mehr "von oben". Der Redakteur wird allerdings in Haftung genommen, wenn es dann Ärger gibt. die Namen von Leitenden Redakteuren, Stelvs, Chefs, Textchefs (wo es noch welche gibt), CvD stehen ja nicht im Text, maximal ist noch der ViSdP oder Verleger dran, aber der schiebt es im Zweifelsfall auf den Redakteur, dessen Name/Kürzel im Text steht und der dann wiederum auf den freien Autor.

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Michael 7. August 2019 um 9:35

Vielleicht sollte man dabei aber auch erwähnen, dass die Zahl der "16% aller zukünftigen Erstklässler" so auch nicht stimmt und ein bisschen populistisch angehaucht zusammengedengelt ist.
16% *der Kinder, die aufgrund des Migrationshintergrunds zuhause hauptsächlich eine andere Sprache sprechen* können vor der Einschulung kein Deutsch. Nicht 16% *aller Kinder*. Ganz wichtiger, ganz großer Unterschied.
Hier der Bericht den Herr Linnemann zitierte, die Statistik findet sich auf Seite 10: https://www.duisburg.de/vv/medien/dez_vi/53/Kindergesundheit-in-Duisburg-2018.pdf

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Walter 7. August 2019 um 16:10

@Michael
Die Zahl ist nicht falsch, nur unvollständig qualifiziert. Aber wer würde schon unterstellen, dass 16% der Kinder OHNE Migrationshintergrund (also DEUTSCHE) nicht Deutsch können?

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K Riedmann 7. August 2019 um 20:44

Ich finde dieses Detail tatsächlich nicht ganz unwichtig. Ohne @Michaels Erläuterung wäre ich auch davon ausgegangen, dass gemeint ist "16 % aller Duisburger Erstklässler (egal welcher Hintergrund) können kein Deutsch." Die Bevölkerungszusammensetzung von Duisburg ist mir aus dem Kopf nicht präsent.

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Michael 8. August 2019 um 10:31

Die Zahl IST falsch. Er hat es im Interview als "16% aller Erstklässler" verkauft. Das IST falsch. Er geht von einer falschen Gesamtmenge aus.
Und es geht nicht darum, DEUTSCHEN Kindern fehlende Kenntnisse zu unterstellen. Das habe auch ich nicht getan.

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Thomas 12. August 2019 um 14:24

@ Walter:

Um nur mal zwei Beispiele mit rein erfundenen Zahlen anzuführen:

Beispiel 1: In einer Stadt stehen 300 Kinder vor der Einschulung. Davon sprechen 16% kein Deutsch, so sind das 48 Kinder.

Beispiel 2: In einer Stadt stehen 300 Kinder vor der Einschulung, davon 120 mit Migrationshintergrund. Davon sprechen 16% kein Deutsch, so sind das 19 (19,2) Kinder.

Bei Prozentangaben macht es grundsätzlich einen gewaltigen Unterschied, auf welche Zahl sich die Prozentangabe bezieht. Wollen wir Herrn Linnemann einmal einen Flüchtigkeitsfehler anstelle von Absicht unterstellen.

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Horst Schulte 7. August 2019 um 17:49

@michael: Das erklärt natürlich die Rassismusvorwürfe hinlänglich.

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Dieter Warstein 11. August 2019 um 11:47

Man sicher kritisieren, daß die Überschrift wie ein Zitat aussieht, das so nicht gefallen ist. (Ist mittlerweile übrigens von der RP korrigiert.) Inhaltlich hat er es aber genauso gesagt. "Ein Kind, das kaum deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen." Es kann also erst dann auf die Grundschule, wenn es "deutsch spricht und versteht" oder eben "Kind ohne Deutschkenntnis kann nicht in die Grundschule". Wo ist das Problem?

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Thomas 12. August 2019 um 14:18

Aussage 1: Kinder, die kein Deutsch sprechen, sollen nicht in die Grundschule!

Aussage 2: Kinder, die kein Deutsch sprechen, sollen _noch_ nicht in die Grundschule, sondern zuvor erst einmal Sprachförderung erhalten.

Zwischen beiden Aussagen liegt m.E. ein gewaltiger inhaltlicher Unterschied.

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