Welche Form von fiktionalem Unterhaltungsfernsehen wäre in diesen so turbulenten Zeiten angemessen? Es müsste ein Format sein, das:
… die Debatten unserer Zeit thematisiert.
… dabei zwar Haltung bezieht, aber nicht zur Polarisierung beiträgt.
… schnell auf sich immer schneller bildende Trends eingeht.
… eine Brücke zu schlagen versucht zwischen auseinander driftenden Generationen und Subkulturen.
… die technischen Möglichkeiten des Fernsehens ausreizt, sie gar erweitert und scheinbar unmögliches möglich macht.
… crossmedial erzählt.
… nicht an eine Sendezeit gebunden ist.
… via Social Media eine Community aufbaut.
Klingt gut?
Der Witz ist: Das gibt es schon in der ARD.
Der schlimmere Witz: Die ARD hat heute angekündigt, dieses Format einzustellen – aus Kostengründen.
Es heißt: „Die Lindenstraße“.
Seit 34 Jahren gibt es sie, doch 2020 wird sie nun beendet.
Diese Entscheidung ist eine Schande für die ARD. Diese behauptet ja gern von sich ein Hort der Qualität zu sein. Doch wo ist sie das noch? In Talkshows, in denen sich die immer gleichen Gesichter zu später Stunden Platitüden ins Gesicht brüllen? Bei Dennis Scheck, der Thilo Sarrazins Buch „selten falsch“ findet? In Serien wie „Rote Rosen“, „Sturm der Liebe“ oder „Alles Klara“. Oder Serie wie „In aller Freundschaft – die junge Ärzte“ und „In aller Freunschaft – die Krankenschwestern“, bei denen Sexismus schon in den Titel betoniert ist? Aber hey, gerade der WDR ist ja höchst kompetent in Sachen praktischem Sexismus. Nicht mal im „Tatort“ will man ja noch Qualität – die Zahl der „experimentellen“ Ausgaben wird ja gesenkt.
Hier sieht man Denis Scheck, wie er in der ARD sagt, Thilo Sarrazins Thesen zum Islam seien „selten falsch“, nur oft ein wenig „alarmistisch“. Dann liest er daraus vor. pic.twitter.com/x4hOqhNqB4
— Sophie Passmann (@SophiePassmann) October 8, 2018
Schauen wir uns doch mal an, was die „Lindenstraße“ derzeit bewegt:
- Transgender-Identität
- Start eines Craft Beer-Startups
- Tablettensucht
- Rechtnationalität
- Prepper
- Stalker
- Umgang mit dem Tod
Das sind nur ein paar der aktuellen Themen. In welcher anderen Serie gibt es beispielsweise eine Figur wie Roland Landmann, der einerseits ein charmanter, hart arbeitender Koch ist – andererseits ein islamophober und aufbrausender Prepper, der die einst alternative Iffie in ihren rechten Tendenzen bestärkt? Rechtsdenkende, bei denen man gespalten ist, sie doch irgendwie erklärlich und sympathisch zu finden – solche Ambivalenzen sind anderenorts kaum zu finden im Reich der ARD.
Im Social Web setzt die „Lindenstraße“ einen Maßstab für die Kommunikation mit Fans – und das seit Jahren. Dazu die Sonderformate wie eine komplette Livesendung oder die Live-Produktion des Soundtracks – wo gibt es das sonst? Die „Lindenstraße“ betrieb bereits Crossmedia-Storytelling, als der Begriff in Deutschland noch gar nicht bekannt war – mit Blogs von Figuren, die in der Serie gerade im Urlaub weilten, oder auch mit Youtube-Videos, die von Figuren als Teil der Handlung produziert wurden, aber nur online zu sehen waren.
34 Jahre ohne jede Unterstützung durch die ARD
Wieviel Unterstützung erhält solch eine Serie im Laufe ihrer drei Jahrzehnte von der ARD?
Exakt: keine.
OK, das stimmt nicht ganz. Irgendwann, war es die 1.000 Folge oder das 20-Jährige Jubiläum, wurde tatsächlich einmal (!) ein Trailer vor anderen Sendungen geschaltet und gab es eine einzige Print-Anzeige.
Während Seifenopern, die sogar Langhaardackel intellektuell unterfordern, mit Werbeplätzen zugehauen wurden und Talkshowmoderatoren sich dank eigener Produktionfirmen zu Millionären produzieren, spart die ARD an einem hochinnovativen, gesellschaftlich relevanten Format, das sie in 34 Jahren genau einmal unterstützt hat.
Das zeigt, was die ARD will: Sie möchte ihre alternde Zielgruppe in aller Ruhe in den Tod begleiten. Qualitätsansprüche, Innovationen, gedankliche Inspiration – all das darf man dort nicht mehr erwarten.
Zu retten wäre die Senderkette wohl nur noch, wenn Figuren abtreten würden, wie Programmdirektor Volker Herres oder merkbefreite Intendantinen wie Karola Wille und Patricia Schlesinger, die sich bei der voll besetzten Media Convention von ihren willfährigen Dienstboten Plätze in der ersten Reihe – natürlich mit Professorinnentitel – reservieren lassen.
Im Sinne der Zuschauer wäre ein Kündigung all dieser Würden-, aber nicht Amtsträger wohl die einzige Hoffnung. Sie können ja geschlossen zu RTLII wechseln – intellektuell sind sie dort ja schon.
Nachtrag: Und – zack – da ist schon die Online-Petition „Die Lindenstraße darf nicht sterben“.
Kommentare
Benjamin Wagener 16. November 2018 um 13:57
So toll die Lindenstraße in den angesprochenen Themenfeldern vielleicht sein kann, so hat sie doch aber das Problem, dass sie von den Leuten die damit konfrontiert werden müssen nicht bzw. kaum frequentiert wird. Da muss irgendwas Neues her und die Leute von den Formaten bei den Privaten weg zieht.
Thomas 18. November 2018 um 8:04
Mich würde ja mal interessieren, was in Thilo Sarrazins Buch falsch ist. Gibt’s da ne Seite zu?
Thomas Knüwer 19. November 2018 um 9:04
@Thomas: Wenn Sie das ernst meinen – folgen Sie einfach diesem Link und suchen Sie sich was aus. Gern geschehen.
Hans Wilhelm Geissendoerfer 24. November 2018 um 19:27
Dank!!!! Großen Dank für diese prima Stellungnahme!