In der Serie “Netzwert Reloaded” verfolge ich jede Woche, was das Team von Handelsblatt Netzwert vor exakt 10 Jahren über das digitale Geschäft schrieb. Alle Netzwert-Reloaded Folgen finden Sie hier.
Im Jahr 2008 erschien ein wunderbarer und (wie ich finde) in Deutschland zu wenig beachteter Roman. Er heißt „Then we came to the end“ („Wir waren unsterblich„). Darin erzählt Joshua Ferris den Niedergang eines Startups inklusive Abbaurunden, Galgenhumor der Mitarbeiter, dem Nicht-mehr-Ernst-nehmen der Situation weil man es sonst nicht ertragen könnte.
Als ich dieses Buch las, erinnerte mich sehr vieles an die letzten Wochen von Netzwert. Wir kannten den Termin der letzten Ausgabe, es war der 1. Juli 2002. Nicht mal einen ordentlichen Abgang ließ der Verlag zu, drei magere Seiten machten die Abschiedsausgabe – trotz zweier bezahlter Anzeigen. Und das war ja ohnehin, was bitter machte: Netzwert hatte keinen einzigen seiner 13 Monate operativ Verlust eingefahren. Und wir hatten einen Plan entworfen, damit dies auch so bleibt. Doch die Verlagsgruppe Handelsblatt mochte sich nicht mehr um diese Themen kümmern.
Dabei ging es weniger um das Zittern um den eigenen Job: Nur ein Team-Mitglied verließ das Unternehmen, noch heute arbeiten vier von sieben Netzwert-Redakteurin in der Kasernenstraße. Nein, es war vor allem eine Frage der Ehre und dem Wissen: Dieses Internet wird nicht mehr abgeschaltet – und es war schon 2002 die wichtigste strategische Herausforderung für Medienunternehmen. Nur wollten die das nicht glauben.
Entsprechend enthielt die letzte Ausgabe ein paar deutliche Seitenhiebe. Wir schnappten uns ein Interview mit dem Sony-CEO aus dem „Wall Street Journal“ (damals Kooperationspartner des „Handelsblatt“), das auch gern vom Unternehmensressort übernommen worden wäre. Und Burkhard Ewert führte ein Exklusiv-Interview mit Innenminister Otto Schily in dem er ankündigte mehr Linux und weniger Windows in die Verwaltungen drücken zu wollen.
Und dann war da noch die Titelgeschichte: „Weckruf aus der Provinz“ lautete sie und drehte sich um Zeitungsverlage. Sie begann mit einem Projekt von zehn Verlagen, dass zu den größten Geldverbrennungsmaschinen der Tageszeitungsbranche geworden war. Versum war die von Anfang an verfehlte Idee, eine zentrale Kleinanzeigenplattform im Web aufzustellen. Als technischer Dienstleister war dies vielleicht noch eine gute Idee. Doch die Zahl derjenigen, die sich in Hamburg für Kleinanzeigen aus Offenbach interessierten war nicht sonderlich hoch. Auf jeden Fall war sie weitaus zu klein, um die aufgeblähte Maschinerei Versum zu refinanzieren.
In jenem Sommer stiegen sieben der zehn Gesellschafter aus. Nach Aussage von Herbert Flecken, dem Vize-Geschäftsführer bei Madsack, verbrannte Versum monatlich eine Million Euro „und hat immer noch kein Erlöskonzept“. Es war ein absurdes Spektakel in dem sich die Partner eifrig bekriegten. Am Ende sollten die Unternehmen eine satte, zweistellige Millionensumme in Versum gesteckt haben – 2002 wurde das Projekt aufgelöst.
Die Hannoveraner Verlagsgruppe Madsack aber war damals noch ein Beispiel dafür, dass Verlage in Sachen Digitalität interessante Dinge bewegen können. Und dass dieses Haus in der letzten Netzwert-Ausgabe gelobt wurde war natürlich ein Wink mit dem Flutlichtmast an das „Handelsblatt“. So konnte damals bei Madsack als erstem Verlage Anzeigen online gebucht werden ohne, dass sie nochmal ein Mitarbeiter bearbeiten musste. Die Rechtsabteilung warf den obligatorischen Blick auf das Motiv – dann landete sie im Redaktions- und SAP-System. Dies galt für Großkunden wie für private Kleinanzeigen. Die Idee, dass nur Abonnenten auf die Anzeigen im Web reagieren konnten, war aber von Anfang als als gehobener Unsinn auszumachen.
Gleichzeitig wurde das Archiv geöffnet: Alle Ausgaben der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ seit 1948 sollten abrufbar sein. Das Ziel: So sollten Nicht-Leser zu Online-Abos animiert werden weil sie die Qualität der Redaktion erkennen sollten. Was in weiten Teilen gut klang sollte zu einer Irrfahrt der Niedersachsen durch Digitalien werden. Mal hü, mal hott – und nun wieder einmal Paid Content – nicht, weil es Erfolg versprechend ist, sondern aus Prinzip.
Jene letzt Titelgeschichte endete so:
„Damit wären die Niedersachsen einer der erste Verlage, der mit dem Internet Geld spart, statt es zu verbrennen. Direkter und bodenständig-niedersächsich formuliert es Madsack-Geschäftsführer Flecken: ,Bisher haben die Verlage das Internet verschlafen.‘ Vielleicht küsst sein Haus ja die Branche wach.“
Und das war – natürlich – ein deutlicher Kommentar zur Netzwert-Einstellung. Doch irgendwie musste das Aus für Netzwert ja auch den Lesern erklärt werden. Dafür log ich mir in der Kolumne „E-Mail aus Düsseldorf“ einen zurecht:
„Liebe Leserinnen und Leser,
wie hat sich ihr Leben in den vergangenen zwei Jahren verändert? Buchen Sie Ihren Urlaub jetzt auch im Internet? Verschicken Sie über Ihre E-Mail-Konto im Büro Witze über das Ausscheiden der französischen Kicker bei der WM? Ist ihre Handyrechnung mittlerweile höher als die für den Festnetzanschluss?
Digitale Technologien haben den Alltag erobert, egal ob im Privat- oder Geschäftsleben. Gab es vor zwei Jahren noch eine klare Trennung zwischen digitaler und traditioneller Wirtschaft sind heute die Grenzen aufgelöst: Kaum ein Unternehmen kann es sich leisten, auf die Flut der neuen Techniken zu verzichten.
Netzwert hat seit dem 28. August 2000 diese Entwicklung verfolgt. Wir versuchten optimistisch aber kritisch zu sein, profilierungssüchtige Startups auszufiltern und stattdessen zu zeigen, wie alle Arten von Unternehmen quer durch alle Branchen die Digitalisierung der Welt für sich nutzen können – egal, ob es ein Tankstellensunternehmen in Duisburg ist oder die amerikanische Armee, eine Rechtsanwaltskanzlei in Berlin oder die Hafenverwaltung von Le Havre.
Die Reaktionen unserer Leser haben gezeigt, dass unser Versuch ankam, dies alles ohne aufgeblasenes Fachkauderwelsch und mit einer Prise Humor zu schildern. Über das Online-Forum Gegenrede schalten Sie sich in die Diskussion über die gesellschaftlichen Veränderungen ein, die durch neue Technologien angestoßen wurden.
Also weltweit erstes Medium berichtete Netzwert von den Plänen der US-Regierung, ein virtuelles Schutzschild zu errichten. Nach einem von uns initiiertem Streitgespräch mit Internetgründern scheint CDU-Chefin Angela Merkel ihre Meinung zu Aktienoptionsbesteuerung drastisch geändert zu haben, wie ihr wenige Wochen später erschienener Grundsatzartikel zeigte.
Auch vom Ringen um den IT-Großauftrag der Bundeswehr und dem Kampf um das vorherrschende Betriebssystem im Bundestag wussten Netzwert-Leser schon lange, bevor andere Medien die Brisanz dieser Themen erkannten. Ebenso von der Kampagne deutscher Apotheker gegen den Onlinehändler Doc Morris und von der Chance, bei Microsoft Rabatte für Softwarelizenzen auszuhandeln. E-Business ist Teil des Alltagsgeschäfts geworden, immer schwerer lassen sich E-Themen heraustrennen.
„Online umarmt offline“, lautete die Überschrift der allerersten Seite 1 von Netzwert. Für Netzwert selbst gilt heute das Gegenteil: Künftig werden wir Teil der traditionellen Wirtschaft, sie halten gerade die letzte Ausgabe in Händen.
Ab dem kommenden Montag finden sie E-Business Themen auf einer zusätzlichen Seite innerhalb des Ressorts Unternehmen & Märkte im Handelsblatt. Auch das Freitagsextra Karriere wird sich verstärkt der Digitalisierung der Wirtschaft widmen.
Das Team von Netzwert bedankt sich bei Ihnen, liebe Leser, für Ihre Treue, für Ihre Kritik und Lob. Und so sehr auch Wehmut mitschwingt, scheiden wir mit der Gewissheit das eingetreten ist, woran wie immer geglaubt haben: E-Business ist kein Thema der Zukunft mehr, sondern ein Thema der Gegenwart. Wir sind angekommen.“
And then we came to the end.
Kommentare
Olaf Storbeck 2. August 2012 um 0:29
Those were the days my friend. Die Zahl der in der Kasernenstraße arbeitenden Ex-Netzwert’ler reduziert sich demnächst übrigens auf drei.
Volker Pfau 5. August 2012 um 14:40
Sehr geehrter Herr Knüwer,
eine kurze Anmerkung zu den beiden Abschnitten („Weckruf auf der Provinz“), die sich mit Anfang und Ende von versum beschäftigen. Ihre Aussage, Versum sei „von Anfang an (eine) verfehlte Idee“, kann ich so nicht teilen; eher das Gegenteil ist der Fall: es war eine sehr gute Idee, die kläglich in der Umsetzung scheiterte.
Ihr Argument, dass sich Leser/Nutzer in Hamburg nicht für Wohnungen in Offenbach interessieren, trifft auch auf die Plattformen immobilienscout24.de oder immowelt.de oder immonet.de zu. Trotzdem funktionieren diese Onlinemärkte sehr gut. Gleiches gilt für entsprechende Onlinemärkte zu den Themen Mobilität oder Jobs.
Der gute Ansatz von Versum war, die (damals noch) große Anzahl von Kleinanzeigen der Tageszeitungen in den Kernmärkten Auto, Immobilien und Jobs in einen großen Pool einzubringen; und dies auch aus Tageszeitungen, deren Verbreitungsgebiete sich überlappen. 1. Schritt also: Menge erzeugen. In einem parallelen Schritt sollten die KFZ-Händler, Immobilienmakler oder Unternehmen dazu bewegt werden, ihre sogenannten Bestandshalter (also die Anzeigen, die aus Kostengründen nicht in den Tageszeitungen veröffentlicht wurden), via Schnittstellen einfach und vor allem mediengerecht aufbereitet (viele Fotos, Grundrisse, ausführliche Beschreibung, Kontaktmöglichkeit …) zu überspielen.
Versum war ein fulminanter Versuch, den aufkommenden Wettbewerbern in diesem lukrativen Markt etwas entgegen zu setzen.
Die Gründe für das grandiose Scheitern sind vielfältig und würden hier den Rahmen sprengen.
Im Übrigen sind Rest von Versum noch heute aktiv; sie verstecken sich in der Markt.Gruppe (vormals ISA) oder auch vom Gedanken her in Kalaydo.
Spiritus rector von Versum war meines Wissens nach Dr. Baumgart, damals einer der Geschäftsführer der Rheinischen Post, Düsseldorf. Auf sein Betreiben waren zuvor 1995 rp-online.de (da war ich dabei) und 1996 die Online Marketing Services (OMS) gegründet. Beides Unternehmen, die heute erfolgreich im Digitalgeschäft operieren. Dr. Baumgart hat sehr früh und mit großer Weitsicht erkannt, was im Digitalgeschäft auf die Verlage zukommen wird. Die Gründung von Versum war eine sehr gute Idee; und heute würden die Tageszeitungsverlage gern die Zeit zurückdrehen und den Versuch noch einmal unternehmen, da bin ich ganz sicher.
Thomas Knüwer 9. August 2012 um 14:10
Sehr geehrter Herr Pfau,
die Interessensdifferenzen zwischen Hamburg und Offenbach stammen nicht von mir, sondern sind ein Zitat von Madsack.
Versum war kein fulminanter Versuch. Während die jungen Wettbewerber nämlich das Instrument Internet beherrschten taten die Verlage das eben nicht – und sie verbrannten Millionen.
Nicht der Durchbruch 9. August 2012 um 16:54
So der Burner sind viele Google-Aufkäufe und die vielen abgeschalteten Projekte aber nicht.
Gekauft wurden (von irgendwem, nicht nur google) z.b. AOL, ICQ, PayPal, Skype, MySpace usw. was nicht immer ein „die beherrschen ihr Geschäft“ repräsentiert. Der Lebenszyklus von Unternehmen (Innovative Gründer… BWLer+Juristen+Berater … Schliessung) ist bei Old- und New-Economy nicht wirklich unterschiedlich.
Die meisten Grundideen waren nicht falsch. Aber da man für IT-projekte oft wohl lieber viele BWLer und Juristen braucht, kostet es auch entsprechend viel und funktioniert bekanntermaßen gut…
Wenn ICQ sein Geschäft verstanden hätte, gäbe es kein Skype. Wenn Paypal sein Geschäft verstanden hätte, gäbe es kein Dwolla und kein Square.
Möglicherweise bringen erst Ipad und SmarTVs die entscheidene Masse an Hausfrauen und Rentner, so das sich Digitalangebote rentieren können. Woanders wird das Internet dem Volk nicht so sehr vorenthalten wie hier wo nur 7% (?) onliner Twitter machen und in Türkei 30% und England 20% .
Software kann auch funktionieren und preisgünstig organisiert werden. Wenn man Volljuristen, Abmahnungen, viele Berater und BWLer und Trivialpatente bezahlen muss, dann oft vielleicht eher nicht mehr.
Dementsprechend schnell refinanzieren sich Zillionen-Investitionen von Verlagen.
Schallplatten und VHS hielten sich auch noch Jahre nachdem der Nachfolger auf dem Tisch lag. Doch dann waren sie schnell weg vom Fenster. Sowas kann mit Print und SmarTVs oder $199-Nexus-Pads auch passieren. Die günstigen EReader bringen bisher leider nicht den Durchbruch.