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An jedem Tag verleiht das „Handelsblatt“ den Pinocchio des Tages. Menschen werden dort mit Aussagen konfrontiert, die Fakten sollen die Zitate widerlegen und Lügner bloß stellen. Das ist erstmal mutig, denn die Titulierung als lügendes Holzmännchen an Strippen gilt gemeinhin nicht als schmeichelnde Bemerkung. Peinlich wird es aber wenn die so mutige Redaktion sich zwischen Zahlen, Daten, Fakten verheddert, wie jüngst in Sachen Apple.

(Foto: Shutterstock)

Heute nun ist die Lage ein wenig anders. Der heutige Pinocchio des Tages dreht sich um die Medienlandschaft – und bei diesem sensiblen Thema werden Journalisten selbst ja gern zu schwindelnasigen Wesen. So auch beim „Handelsblatt“. Da selbiges seinen Pinocchio an Personen verleiht, unter dem Artikel jedoch kein Kürzel oder Autorenname zu finden ist, muss halt der Chef herhalten.

Der Pinocchio des Tages also geht an: Gabor Steingart.

Als heutigen Lügner wollen seine Leute nämlich Chris Anderson enttarnen, den Chefredakteur von „Wired“ und Autor des Buchs „Free„. Er soll am 20.7.2009 gesagt oder geschrieben haben (wo oder wie genau, verschweigt das „Handelsblatt“):

„Den Massenmedien bleiben eigentlich nur die großen Themen (…) Politik, Kriege, Katastrophen, Skandale. Dafür kann man im Netz kein Geld verlangen.“

Und dann haut die Steingartsche Mannschaft mal richtig mit der Keule drauf:

„Die Aussage von Anderson war als Prognose getarnte Propaganda. Die Kunden zahlen im Internet weiter für ihre Bücher und Musik…“

Was Anderson gar nicht bestreitet.

„…– und auch für die Inhalte von Zeitungen und Magazinen. News-Corp-Chef Rupert Murdoch, der das frühzeitig erkannte, macht gute Geschäftemit seiner seit Juli kostenpflichtigen Online- Ausgabe der britischen „Times“, wie er jetzt mitteilte. Und auch sein Wall Street Journal ist in den USA ein Erfolgsmodell für bezahlte Inhalte. Die zum Pearson-Verlag gehörende britische Wirtschaftszeitung „Financial Times“ kassiert schon seit Jahren im Internet und gilt als Branchenvorbild.“

Ganz nebenbei bemerkt garniert die Online-Ausgabe diesen Text mit einem Bild, das meiner Meinung nach nicht Chris Anderson zeigt – aber vielleicht irre ich mich ja:

Einst galt das „Handelsblatt“ als Hort der Zahlenfrickler. Dort saßen Menschen, die genau hinschauten. Das scheint jetzt nicht mehr der Fall zu sein. Denn allen Ernstes die „Times“ als Vorbild für Pay-Erfolge heranzuziehen darf man als, nun ja, Minderheitmeinung ansehen. Tatsächlich löste die Veröffentlichung der Zahlen seit Beginn der Bezahlzeit unter angelsächsischen Medienjournalisten zwei Reaktionen aus. Die einen wüteten gegen die wachsweiche Intransparenz der Veröffentlichung. So bloggt Emily Bell (Ex-Guardian-Online-Chefin, jetzt Professorin in den USA):

„These 105,000 incidents of some digital payment activity are subdivided into anything from a pound paid for Caitlin Moran’s interview with Keith Richards (I know that is one transaction they have banked, for sure), to a Times fetishist who has iPad, Kindle, paper and web subscriptions .“

Und George Brock, Leiter des Journalismus-Programms der City University London, sagte der „Financial Times“:

„Any business journalist on either title confronted with this sort of chicanery from another company in the online market would gleefully rip into the executives releasing numbers in such opaque form.“

So bleibt dann nur eine gewisse Spekulation – die zweite Reaktion der Berichterstatter. Deren Ergebnis ist aber fast komplett einheitlich:  Für ein finales Urteil ist es zu früh – aber es sieht nicht gut aus. Der „Guardian“ setzt potenziellen Jahresumsätzen von 5,5 Millionen Pfund einen Werbeverlust von 10 bis 20 Millionen entgegen. Paid Content glaubt, dass nur ein halbes Prozent der bisherigen Leserschaft zahlt.  Adam Tinworth wirft ein, dass jene Summe von 105.000 zahlenden Menschen eher Transaktionen entsprechen dürfte – er selbst sei zwei davon.

Aber mit solchen Details oder sanften Abwägungen mag sich das „Handelsblatt“ nicht mehr abgeben. Für die Düsseldorfer macht die „Times“ mit ihrem Online-Abos „gute Geschäfte“. „Gut“, zugegeben, ist ja subjektiv. Vielleicht schreibt da ein Redakteur seinen Traum vom einfacheren Leben auf. Vom Glauben, sein Arbeitgeber könne doch Inhalte nicht verschenken. Weshalb er sich auch nicht Kleinigkeiten wie den Aufgaben des Journalismus befassen will. Und der Frage, ob die gigantisch fallende Leserzahl beim Errichten einer Paywall nicht auch bedeutet, dass sich der dazugehörige journalistische Inhalt aus dem gesellschaftlichen Diskurs verabschiedet – und somit irrelevant wird.

Vielleicht aber gehört Steingart ja auch zu jenen Menschen in der Medienszene, die nicht wollen, dass das „Stammgeschäft kaputt geschrieben wird“. Die auf keinen Fall den wahren Zustand der Medienkrise geschildert haben möchten im naiven Glauben, der Leser könne so nichts davon mitbekommen. Darauf deutet die Videobotschaft beim Vermarkter IQ Media hin. Dieser Menschenschlag hätte wohl auf der „Titanic“ die Kapelle dirigiert und ernsthaft geglaubt, der Eisberg könne vor musikalischer Rührung schmelzen. Ganz nebenbei: In einem halben Jahr unter Steingart ist die hart verkaufte Auflage des „Handelsblatts“ (also nur Abo und Einzelverkauf) um 5,3 Prozent gesunken. Es war sicher ein „gutes Geschäft“.

Der Pinocchio des Tages, also, geht mangels Autorenkennzeichnung an Gabor Steingart. Und er hat eine ganz, ganz lange Nase.

(Disclosure: Ich habe von 1995 bis 2009 für das „Handelsblatt“ gearbeitet.)


Kommentare


Ulrich Voß 4. November 2010 um 13:02

Dass die Medien die völlig intransparenten Times Zahlen unreflektiert nachplappern werden, war zu erwarten. Man will halt daran glauben. Das ist zum großen Teil Pfeifen im dunklen Wald.

Ich habe mir gestern mal die Alexa-Zahlen angeschaut, nur um mal zu überprüfen, wie dramatisch der Einbruch bei der Times war. Und er war dramatisch. Jetzt weiss natürlich niemand, wie hoch der reale TKP ist, den die Times vorher hatte und auf wie viel Werbeeinnahmen die Times jetzt verzichtet (der TKP auf dem Papier ist ja oft nicht viel wert und alle Werbeflächen verkauft ja auch niemand). Und wie hoch die Einnahmen bei den Online-Abos sind, weiss auch niemand. Es scheint aber kaum vorstellbar, dass die Times wirklich (bis heute) mit der Entscheidung Geld verdient hat. Das mag sich noch ändern, wenn die Times auf 200.000 oder 300.000 Abonnenten kommt und diese auch wirklich Geld bezahlen. Um zum jetzigen Zeitpunkt die Paywall in den Himmel zu loben, ist es aber definitiv viel zu früh. Gescheitert ist sie aber ebenfalls noch nicht (und IMHO wird das Scheitern hinter Paywalls sowieso schleichend verlaufen. Weil die Angebote hinter Paywalls irrelevant werden. Der Verlust an Community, incoming links und Pagerank wirkt ja nicht von heute auf morgen …)

http://www.ulrichvoss.com/peywall-bei-der-times-erfolgreich-timesonline

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Ralf Fenge 4. November 2010 um 13:12

Hallo Herr Knüwer,
inhaltlich kann ich ihren Eintrag folgen, aber mir fehlt ein – eigentlich doch selbstverständlicher – Disclaimer. Waren Sie nicht einmal beim Handelsblatt und sind dort in mehr oder weniger Einvernehmen gegangen? So etwas sollte hier evt. doch erwähnt werden, um den Hintergrund ihres Blogtextes besser einordnen zu können. Oder sehe ich das zu eng?
Herzliche Grüße
Ralf Fenge

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Thomas Knüwer 4. November 2010 um 13:25

@Ralf Fenge: Ich habs ergänzt. Gegangen bin ich, weil ich gekündigt habe. Es war der einzige Moment in all den Jahren, in dem ich Chefredakteur Bernd Ziesemer für gefühlt 30 Sekunden sprachlos erlebt habe 😉

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Ralf Fenge 4. November 2010 um 13:30

@Hausherrn: Das erster finde ich großartig… und letzteres sehr spannend…! Danke für beides!
Herzlichst
Ralf Fenge

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Christian Jakubetz 4. November 2010 um 21:28

Schon richtig, was da steht. Ich finde allerdings, dass sich das HB den Pinocchio heute mit der SZ teilen müsste, die aus den Murdoch-Zahlen ableitete, dass der Qualitätsjournalismus angesichts dieser herausragenden Zahlungsbereitschaft der Menschen im Netz echte Perspektiven habe. Keine Ahnung, wie man bei einem Reichweitenverlust von 90 Prozent auf eine solche Idee kommt.

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Lesetipps für den 5. November | Netzpiloten.de – das Beste aus Blogs, Videos, Musik und Web 2.0 5. November 2010 um 9:14

[…] Pinocchio des Tages: Gabor Steingart: Thomas Knüwer schreibt über das Gespenst, dass früher mal das Handelsblatt war und […]

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Autosuggestions beim 9. November 2010 um 18:53

[…] Einstieg handelt von Chris Andersons lesenswertem Buch “Free“. Das “Handelsblatt” hatte mit Anderson ja vergangene Woche mit falscher Argumentation sch…-war aber nicht in der Lage für die Homepage ein Foto von ihm zu finden. Die Autoren behaupten nun, […]

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Handelsblatt First: Ipad-Push-App ohne Push 17. Januar 2011 um 11:21

[…] Push-Einstellungen des Ipad auf. Nope, pusht nicht. Eigentlich hätte das schon wieder den Pinocchio des Tages für Chefredakteur Gabor Steingart verdient – aber das würde ja langsam […]

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