Skip to main content

Wir schreiben das Jahr 2018 in einer alternativen Realität (ich schreib das mal vorsichtshalber dazu). 

Die Werbe- und Medienwelt ist im Wandel, die Agenturlandschaft wird disruptiert. Seit langer, langer Zeit informierten sich die Menschen mit digitalen Medien, zum Beispiel den Homepages der großen Redaktionen wie „Süddeutsche Internet“ oder der „New York Webtimes“. Am Abend vergnügten sie sich mit Netflix, Youtube oder natürlich den allgegenwärtigen Videospielen. Im Auto sind Podcasts der Standard, im E-Reader-Markt tobt ein wütender Kampf um die Vorherrschaft.

Die Werbewirtschaft lief auf vollen Touren – bis die Disruption kam. Mitte der Nuller Jahre entstanden Technologien, die zunächst belächelt, ja, verächtlich gemacht wurden. Die Frankfurter Allgemeinen Nachrichten, kurz FAN, begannen als erste, gekürzte Artikel täglich auf Papier zu drucken – eine Idee, die in den USA bei der Washington Mail entstanden war. Die Idee begeisterte viele Menschen, konnten sie sich doch jetzt in Zügen und Bussen von den anderen Mitreisenden abschirmen. Böse Stimmen behaupteten, vor allem junge Väter täten dies auch gern beim Frühstück, um dem Kommunikationswillen des Nachwuchses zu entkommen.

Der Polarisierung der Gesellschaft wollten zeitgleich Regierungen mit eigenen, kostenlosen Medien entgegen wirken. Sie errichteten ein Funknetz, das sogenannte „Fernseh- und Radiosender“ übertrug, die nun für jedermann empfangbar waren, so er die nötigen Endgeräte erwarb. Doch die waren so billig im Vergleich mit auch nur mittelpreisigen Smartphones, dass sich „lineares“ Gucken und Hören (wie es die Propheten der neuen Technologie nannten), rasant verbreitete.

Warum war dies nun ein Problem für Onlineagenturen und Marketingentscheider?

Um das zu erklären, begleiten wir ein Team der großen Onlineagentur im Herzen der Stadt hinaus an den Speckgürtel der Metropole zum Hauptquartier des Konsumgüterriesen Rocker & Hempel. Gerade betritt Account Director Daniel begleitet von Media Strategist Kevin das Büro von CMO Britta Scheinborn.

Daniel: „Britta, wir haben eine fantastische Mediastrategie für den Produktlaunch eures neuen Waschmittels entwickelt. Wir setzen voll auf die neuen Medien: Fernsehclips, Radiosnippets Zeitungsbanner – das volle Programm. Passt sehr gut zu eurer Millennial-Zielgruppe…“

Britta: „Ich brems Dich da gleich mal. Dieses ganze neue Zeug – das ist nur eine Zeiterscheinung. Und wir sollten auch nicht Dinge unterstützen, die unsere Gesellschaft untergraben.“

Daniel: „Aber glaubst Du wirklich an die Thesen von diesem Hirnforscher Stumpfer?“

Britta: „Ich sehe es doch bei unserem Sohn! Letztes Jahr hat er bei League of Legends noch internationale Teams organisiert und bei den Hausaufgaben nebenher Podcast gehört. Jetzt schottet er sich von der Außenwelt ab mit diesen, wie heißen die noch, diesen.. BÜCHERN! Und morgens will er eine Zeitung haben in der uralte Nachrichten abgedruckt werden und er nicht mal kommentieren kann. Das verdummt doch alles! Kein Wunder, dass die Rechten überall abräumen!“

Daniel: „Aber es ist nun mal die Medienwelt der Zukunft, nein, der Gegenwart. Da müssen wir auch mal pragmatisch reagieren, wenn wir beim Launch durchstarten wollen.“

Britta: „OK, sagt mein Product Manager auch immer wieder. Ist halt eine andere Generation, müssen wir vielleicht mit leben. Also zeig mal, was ihr habt.“

Eine halbe Stunde später endet die Powerpoint-unterstützte Präsentationn der Agentur. Britta schweigt.

Daniel: „Was sagst Du?“

Britta antwortet mit hörbar unterdrücktem Ärger: „Wo sind eure KPI? Wie soll denn der Erfolg dieser angeblich so tollen Medien gemessen werden?“

Daniel: „Also, da ist doch alles da: Hier sind die Auflagen der Zeitungen, da die Einschaltquoten…“

Britta: „Willst Du mich verarschen? Wieviele Leute sehen denn unsere Zeitungsbanner? Und wer?“

Daniel: „Hier sind doch die Auflagenzahlen! Und die Demographie der Leser!“

Britta: „Das interessiert doch nicht. Es geht mir um unsere Anzeige – WER sieht die? WIEVIELE sehen die?“

Daniel: „Also, wir arbeiten da mit einem Marktforscher zusammenarbeiten, der könnte dann repräsentative Umfragen…“

Britta: „ICH SOLL FÜR ETWAS EXTRA ZAHLEN, DAS ICH IM WEB UMSONST BEKOMME? Wenn ihr die Mafo zahlt, OK. Ansonsten: Indiskutabel.“

*****

Wie ehrlich sind Print-Reichweiten?

Dieses Gedankenspiel ist einem lesenwerten Buch entlehnt: „Everything bad is good for you“ von Medientheoretiker und Journalist Steven Johnson widerlegte 2005 beliebte Digitalphobien wie „Videospiele verdummen Teenager“. Das Buch schließt mit der hier adaptierten Fantasie, wie Bücher heute aufgenommen würden, wenn es sie noch nicht gäbe (vielen Dank auch an Sascha Lobo, der mich durch Erwähnung in seinem hörenwerten Debattencast-Podcast an das Buch erinnerte).

Jene Szene aus dem Leben der großen Mediaagentur im Herzen der Stadt spiegelt leider wider, was derzeit aus einigen Ecken hochpoppt. Es gibt von mir geschätzte und intelligente Menschen, die in extrem polarisierndem Stil das Digitale verdammen ohne dabei Rücksicht auf Argumente zu nehmen. Jürgen Scharrer von „Horizont“ ist so einer, Media-Doyen Thomas Koch (den ich menschlich unendlich schätze), und seit heute auch mein ehemaliger Chefredakteur Bernd Ziesemer (für den dies ebenfalls gilt), der inzwischen für „Capital“ kolumniert.

Er macht eine „Twitter-Manie“ in der deutschen Industrie aus – obwohl es nur sehr wenige twitternde Entscheider gibt. Und er behauptet:

„Bisher fehlt in vielen deutschen Konzernen noch die strikte Erfolgskontrolle für die ganze schöne Soziale-Medien-Strategie.“

Es ist mir ein Rätsel, wie er auf dieses schmale Brett kommt. Als jemand, der „deutsche Konzerne“ berät, kann ich aber definitiv vom Gegenteil berichten. Reporting, KPI, Erfolgsmessung – all dies wird in extenso be, manchmal gar übertrieben.

Vor allem aber verhält er sich wie Daniel oben, wenn er behauptet:

„Twitter kann man zum Beispiel gut beobachten, dass viele Unternehmensnachrichten kein größeres Publikum finden als früher, sondern eher ein kleineres.“

Zunächst einmal kann er nur schlecht wissen, wie viele Menschen ein spezifischer Account via Social Web erreicht – denn die Reichweite weist kein Dienst öffentlich aus. Um an diese Zahl zu kommen, müsste man der Accountinhaber sein. Wenn nun ein Joe Kaeser als CEO von Siemens 16.000 Follower hat – ist das viel oder wenig? Antwort: Es ist egal. Denn es geht um die tatsächliche Reichweite. Die beträgt vielleicht 2.000. Auch hier: viel oder wenig?

Wenig, verglichen mit den 130.000 verkauften Exemplaren einer „Capital“. Nur sind davon nur 48.000 hart als Einzelverkauf und Abo an die Menschen gegangen. Über ein Drittel der verkauften Exemplare geht als Bordexemplare raus – werden die gelesen? Selbst die hart verkaufte Auflage darf hinterfragt werden. Ich, zum Beispiel, bin seit kurzem „Capital“-Abonnent. Denn ich bin Mitglied im Alumni-Verein der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Münster. Diese erhält (ohne Mitgliedsbeitragserhöhung) seit langen Jahren das „Manager Magazin“ im Abo und nun ganz frisch (und ebenfalls ohne Mehrbeitrag) die „Capital“. Ich bin Abonnent ohne zu zahlen und für die erste Ausgabe blieb auch keine Zeit.

Selbst, wenn wir diese 48.000 Leser annehmen: Wie viele von ihnen werden das Heft nur flott durchblättern und ein mögliches Kaeser-Interview gar nicht sehen. Wie viele, die es sehen, werden es zumindest anlesen? Wie viele von denen, die es anlesen, wird es interessieren? Definiert man dies durch, sind 2.000 erreichte Menschen mit einem Mal eine erstaunliche Größe. Man darf sich halt nicht der Jahrzehnte grassierenden Verblendung hingeben, dass eine Auflagenzahl – oder noch viel schlimmer eine Reichweitenmessung wie die Awa – Zahlen liefert, die sich auf einen spezifischen Artikel oder eine spezifische Werbung herunterbrechen lassen.

Doch selbst solche Zahlen erfordern ja Interpretation. Wie erfolgreich man digital werben kann, demonstriert die komplett neu gewachsene Branche der Dropshipper, die allein über Onlinewerbung verkaufen, oder Startups wie Caspar, die über Podcast-Werbung einen erheblichen Schub erhielten. Hier ist eine eindeutige Verkaufswirkung nachweisbar. Das ginge in Print über Coupon-Codes ebenfalls. Aber wo passiert das und gibt es handfeste Zahlen? Ich kenne keine, freue mich aber auf Hinweise.

Schleichwerbung bei Medienhäusern

Ziesemers Kolumne schreibt weiter:

„Besonders gefährlich für die Reputation von Unternehmen kann der bezahlte Einsatz von sogenannten Influencern werden. Aus der Mode- und Gadget-Welt schwappt diese Welle mittlerweile in immer mehr normale Unternehmen über. Die meisten jungen Damen und Herren, die sich mit teuren Handtaschen oder feschen Kleidern auf Youtube räkeln, betreiben nichts anderes als (eigentlich verbotene) Schleichwerbung, die sie sich fürstlich von den Herstellern bezahlen lassen. Das junge Publikum ist geneigt, daran nichts Verwerfliches zu finden. Jedenfalls so lange es um Mode oder ähnliche Produkte geht.“

Ja, früher. Als auch Kolumnisten von sorgfältig gegenlesenden Redaktionen um Recherche gebeten wurde – das waren noch Zeiten.

Kaum ein Influencer im Modebereich betreibt Schleichwerbung. Vielmehr neigen zu viele nach dem Vreni-Frost-Urteil (mehr dazu hier) zu einer zu häufigen Werbekennzeichnung. Natürlich räkelt sich auch niemand mit Handtaschen auf Youtube – das ist Instagram-Territorium. Und natürlich gibt es gerade auf Youtube fantastische, spannende Kreative, die großartige Dinge produzieren wie Fynn Kliemann, ein breites Spektrum abdecken wie Diana zur Löwen oder den Betrachter erschüttern wie die Datteltäter:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Und muss man denn in Sachen „Inhaltliche Entwicklung von Influencern“ schon wieder den sehenswerten re:publica-Vortrag von Sophie Passmann einbetten? Anscheinend:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Ein Problem mit Werbekennzeichnung haben dann doch eher Verlage. Sie sind es, die das Wort „Werbung“ konstant kleiner drucken oder abbilden als den Fließtext. Oder mit Farbeffekten auffälliger gestalten als die redaktionellen Inhalte, hier zwei Beispiele von RP Online:

Bei Focus Online hält man es dagegen gar nicht für nötig Werbung wie diese zu kennzeichnen:

Nach dem Motto „How low can you go“ imaginiert Ziesemer weiter:

„Ganz anders aber sieht es aus, wenn zum Beispiel Banken mit Influencern arbeiten oder Versicherungen. Das Risiko ist hoch, es sich mit den eigenen Kunden zu verderben, wenn die krummen Wege der Kommunikation bekannt werden. Nichts wäre dümmer für seriöse Unternehmen, als sich von den hohen Zugriffszahlen von Influencern bei Youtube blenden zu lassen.“

Wieso blenden? Bei Youtube kann man sich anzeigen lassen, wie viele Menschen bis zu welchem Moment einen Beitrag betrachtet haben. Somit lässt sich auch ausrechnen, wie viele der Zuschauer den Teil des Videos erreicht haben, in dem ein Markenname genannt wurde oder ein Logo auftaucht.

Vor allem aber: Welche Bank denn? Ich zumindest kenne keine deutsche Bank, mit mit Influencer Marketing – und das beschreibt die Kolumne – arbeiten würde. Ich kenne zwei, die mit Influencer Relations auffällig werden und wurden – und das positiv. Zum einen die comdirect (Disclosure: ehemaliger kpunktnull-Kunde) mit dem Finanzblog Award und dem Finanzbarcamp. Zum anderen die GLS Bank (Disclosure: Hausbank von kpunktnull) durch eine seit Jahren laufenden Vernetzung mit der deutschen Blogosphäre. Ich freue mich aber über Beispiele, wo deutsche Banken Influencer Marketing betrieben haben sollen.

Aus dem Versicherungsbereich erinnere ich mich auch nur an die Zusammenarbeit der Techniker Krankenkasse und Lefloid, wo allerdings nun definitiv keine Handtaschen ins Bild gehalten wurden – die Kennzeichnung allerdings in einer trickreichen Volte in einer Art umgangen wurde, die heute, vier Jahre später, sicher anders gehandhabt würde (mehr dazu hier):

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Es gibt auch seit langer Zeit keine großartigen Beispiele mehr für „krumme Wege der Kommunikation“.

Obwohl… Das stimmt nicht, ich muss mich korrigieren.

Denn es sind dann ja doch wieder klassische Medien, die durch solche „krummen Wege“ auffallen. Was berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ im März noch tum Thema Schleichwerbung und der Beschäftigung mit dem Thema durch den Deutschen Presserat?

Ach, ja:

„“Das Thema ist ganz groß“, sagt Sonja Volkmann-Schluck, Referentin beim Deutschen Presserat. So groß, dass der Presserat inzwischen einen eigenen Ausschuss beschäftigt, der sich nur mit versteckter Werbung befasst. Am Mittwoch stellte er seinen Jahresbericht in Berlin vor. Darin steht, dass fast die Hälfte der 21 Rügen im vergangenen Jahr wegen Schleichwerbung ausgesprochen wurden. Eine Rüge ist die schärfste Strafe, die der Presserat gegen Medien verhängen kann.“

Es geht mir dabei nicht darum, Onlinemarketing und Digital zu verklären. Doch was wir derzeit sehen ist ja exakt das Gegenteil: Eine Lobby der Print-Anhänger (bei einer ähnlichen Liebe zum Digitalen würden sie vermutlich Print-Fanatiker, -Propheten oder -Jünger genannt) versucht derzeit unter Ausblendung von Fakten eine Debatte über den richtigen Marketingmix (zu dem eben auch klassische Medien gehören) zu verhindern.

Traurig macht mich, dass wir im Jahr 2018 noch auf diesem Niveau diskutieren müssen. Wie schön wäre es, wenn wir über richtige Media-Mixe sprechen könnten, über innovative Formate, über ernsthafte Vergleiche. Stattdessen werden von Digital Dinge gefordert, die Print, TV, Out of Home und Hörfunk noch nie liefern konnten. So ist eine vernünftige Debatte nicht möglich.

Der letzte Satz von Ziesemers Kolumne lautet übrigens:

„Im Zweifel liefert die gute alte Print-Anzeige mit eindeutigem Absender bessere Resultate – und das ohne Risiko für die Reputation.“

Oh, mein Telefon klingelt.

Es ist Britta, sie hat das hier schon gelesen. Ihr Kommentar:

„Vielleicht liegt ja Letzteres auch daran, dass so manche Printanzeige gar nicht bemerkt wird.“


Kommentare


Thorsten 21. November 2018 um 12:20

„Ich zumindest kenne keine deutsche Bank, mit mit Influencer Marketing – und das beschreibt die Kolumne – arbeiten würde.“

Gibt es durchaus: Joko & Klaas bei „Giro sucht Hero“ für die Sparkasse lief lange vor dem großen Hype. Und wenn man das unter klassischem Testimonial einsortiert, dann gab es von der Sparkasse Hessen-Thüringen 2016 und 2017 eine klassische Influencer-Aktion mit den Lochis: https://www.wuv.de/marketing/die_lochis_duellieren_sich_fuer_die_sparkasse

Antworten

Thomas Knüwer 21. November 2018 um 14:24

@Thorsten: Joko & Klaas würde ich als Testimonials werten, nicht als typische Influencer. Haben die beiden auf ihren eigenen Kanälen zur Kampagne was gemacht?

Die Lochi-Aktion kannte ich tatsächlich noch nicht – in beiden Fällen herzlichen Dank für den Hinweis.

Antworten

Du hast eine Frage oder eine Meinung zum Artikel? Teile sie mit uns!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*
*