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Kunst braucht etwas länger. Selten reagiert ein Künstler – egal welcher Ausrichtung – innerhalb von Monaten oder gar Wochen auf eine Entwicklung. Die meisten Kreativen wenden Ereignisse, Beobachtungen oder Entwicklungen in ihren Köpfen, grübeln und basteln – oft genug über Jahre. So lobte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ in dieser Woche den Roman „Cash“ als ultimative Beschreibung New Yorks nach dem Anschlag vom 11. September 2001. Meist ist es dann die darstellende Kunst, die zuerst kommt. So verarbeiten derzeit die deutschen Theater die weltweite Finanzkrise auf der Bühne.

Die bildende Kunst ist noch langsamer. Erst in diesen Tagen fallen mir häufiger Künstler auf, die sich mit dem Internet und/oder dessen Ästhetik auseinandersetzen – das aber tun sie auf spannende und häufig interessant-verspielte Arten. Kann sein, dass sie schon viel länger aktiv sind, doch ich habe den Eindruck: Da tut sich gerade etwas.

Am Pfingstwochenende begegnete mir in Paris zum Beispiel dieses Mosaik an einer Wand an der Rive Gauche. Ein Space Invader. Eine Wand weiter noch einer. Ohne Erklärung. Die lieferte mir im Kommentar bei meinem Viertblog „Last night an Internet saved my life“ Markus Eckartz: Es handelt sich um ein Werk des Pariser Streetart-Künstlers Space Invader, der seit 2001 schon Innenstädte mit Videospiel-Motiven schmückt. Augmented Reality einmal umgekehrt, der außerirdische Angreifer erobert unsere Welt. Zumindest an der Seine sind Passanten im Alter zwischen 20 und 40 begeistert.

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Ganz neu ist eine Galerie, die sich ganz dieser Art von Kunst widmet. Die Pixel Gallery, ein Ableger der Pariser Dexter Gallery, ist derzeit noch in Paris zu finden, wird aber keinen festen Sitze haben, sondern durch die Welt vagabundieren. Mit sich trägt sich Künstler der „Generation Pixel“.

Zum Beispiel Reynald Drouhin, der bei allen Copyright-Fetischisten Panik auslösen dürfte. Für seine Monochrome-Bilder gibt er bei Google einfach eine Farbe ein. Und alle Bilder, die von der Google-Bildersuche ausgespuckt werden montiert er in Pixel-Größe zu einem verwirrenden Dschungel – aus dem sich bei näherer Betrachtung doch Tendenzen darüber ablesen lassen, wofür Farben in unserem Alltag stehen.

Oder Stéfane Perraud: Er verpixelt klassische Bilder so stark, dass ihr Motiv erst in weiter Entfernung sichtbar wird. Kommentar des freundlichen Pixel-Gallery-Mitarbeiters: „Sie sollten einen langen Flur besitzen. Einen sehr, sehr langen Flur.“ Zusätzlich versieht Perraud die jeweiligen Pixel mit der Zahl ihres Farbschemas.

Sehr schön auch die Skulpturen von Christophe Luxereau. Er verpixelt noch extremer die Fotos von Personen, so dass nur noch grobe Schemen und Farben bleiben. Die Lego-artigen Vorlegen setzt er dann in Skulpturen um – durchaus anscheinend auch auf Bestellung. Ja, ich überlege…

Dass die Videokunst bei all dem nicht zurückstehen will, ist klar. So erschuf der französische Grafik-Designer Patrick Jean den Traum der Generation C64:

Ganz ohne Internet und Pixel (und Paris) dagegen kommt Darija Medic aus. Sie druckte Aufkleber mit dem Facebook-Weltkarten-Logo und der Aufschrift: „H1N1 hilft Dir, Dich zu verbinden und mit den Menschen in Deinem Leben zu teilen“. Diese Sticker verteilten sie und Freunde dann quer durch Europa.

darija medic newspapers h1n1 klein(Foto: Darija Medic)

Am Rande des kleinen, sympathischen Viralcommunication.nl-Kongresses sprach ich mit Medic über ihr Projekt:

Die für mich spannendste Kunst kommt derzeit allerdings nicht aus Europa – sondern aus dem, was die Wirtschafter Emerging Markets nennen. Kurz vor Weihnachten war ich in Hongkong und was dort in Galerien zu sehen ist, übertrifft das meiste, was derzeit in Europa hängt an Power und Nähe zum Zeitgeist. Möglicher Grund: Dort sitzt die neue Käuferschaft, Sammler aus Indien, China und Russland treiben derzeit die Preise hoch. Kürzlich widmete das „Handelsblatt“ gar eine Titelgeschichte diesem Thema (leider ist sie entweder nicht online oder wegen der desaströsen Suchfunktion nicht auffindbar).

Auch in Hongkong spielt digitale Ästhetik eine Rolle. Am faszinierendsten waren für mich die Bilder von Li Shurui. Die Pekingerin sprüht Motive mit runden Pixeln, sozusagen. Tritt der Betrachter vom Bild weg, fügen sich die Farbflecken aber nicht nur zu einem angedeuteten Motiv zusammen. Nein, sie beginnen zu vibrieren, wie Moleküle bei der „Sendung mit der Maus“, wenn die Erwärmung von Wasser erklärt wird. Das Bild wird lebendig, Energie geladen. Und, ja, es kann einem auch ein wenig schlecht werden, Kopfschmerzen sind nicht ausgeschlossen.

Wesentlich erholsamer dagegen das, was im Dezember im Hong Kong Park zu sehen war. Junge Künstler hatten (so weit ich das verstanden habe) den Auftrag erhalten, die Internet-Süchtigen zu überreden, mehr Zeit im Grünen zu verbringen. Dazu schnappten sie sich bekannte Logos und Piktogramme aus dem Web und verwandelten sie in Mahnzeichen für ein schöneres Leben:

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Das hat etwas vom Wink mit dem Flutlichtmast und wirkt ein wenig oberlehrerhaft. Andererseits lässt der Wiedererkennungseffekt schmunzeln. Ach, übrigens: Natürlich gibt es im Hong Kong Park ein freies und kostenloses Wlan…

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Rund um den Globus bewegt das Netz und seine Auswirkungen also langsam die Kunst. Bemerkenswert ist für mich dabei, wie undüster die Projekte sind. Im Gegensatz zu den Journalisten im Feuilleton scheinen sich die Künstler in den neuen Möglichkeiten fröhlich zu tummeln und probieren mit großer Leichtigkeit aus, was möglich ist. Und da wird noch mehr kommen – das dürfte sicher sein.

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Nachtrag: Greta Taubert hat mich via Facebook noch auf den Streetart-Künstler Fatal aufmerksam gemacht. Er packt in seine Werke sogar QR-Codes…


Kommentare


Digitale Ästhetik « MEDIENBLICK BONN 27. Mai 2010 um 23:08

[…] auf Straßenlaternen. Die Kunst des Digitalen ist nur eine logische Konsequenz der Gegenwart. Unser Blick des Tages vom 28. Mai >> Einen Kommentar […]

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Lesetipps für den 28. Mai | Netzpiloten.de – das Beste aus Blogs, Videos, Musik und Web 2.0 28. Mai 2010 um 8:09

[…] Die digitale Ästhetik erobert die Kunst: Ein schöner, globaler Rundblick über Ästhetik aus der digitalen Sphäre […]

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