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Vielleicht ist Stromaes „Alors en danse“ das fatalistischste Lied in der Geschichte des Pop. 2009 berappte der Belgier eine Gesellschaft, in der Krisen und Nöte mit beschönigenden Worten negiert aber nicht gelöst werden. Und was bleibt den normalen Menschen?

„Man tanzt.“

Wollte man eine Hymne für ein Konzert entwerfen, was natürlich Unfug wäre, denn ein Konzert besteht aus Liedern und braucht keine Hymne, wollte man das aber trotzdem tun, so wäre die Hymne  für den Auftakt von Lady Gagas „Chromatica Ball“-Tour genau das:

„Alors on danse“.

Zum Tanzen war das bunte Publikum ja auch ins Düsseldorfer Stadion, das für eine Spielothek zu werben gezwungen wird, gekommen – offensichtlich. LGBTQ-Szene, Drag Queens, lange Pailletten-Kleider trotz sommerlicher Temperaturen – die Lady hatte schließlich nicht zur Chromatica-Tour geladen, sondern zum Chromatica-Ball. All sie mischten sich mit Teenagern im Gaga-Sinnspruch-Shirt („BE FREE“, „BABBLE IT“) und Normalos in der unterdurchschnittlichen Ästhetik deutscher Straßenbildkleidung.

Lady Gaga ist vielleicht nicht der „der letzte Popstar“, wie die „Welt“ unter erstaunlicher Ignoranz gegenüber Harry Syles, Billie Eilish, Ed Sheeran und BTS behauptete. Doch besetzt sie gemeinsam mit Beyoncé (auch sie von der „Welt“ verschmäht) eine besondere Rolle als Mischung aus musikalischer Trendsetterin, Modeikone, politischer Taktgeberin und Empowerment-Heldin.

Deshalb war ihr Tourauftakt mehr als ein Konzert: Was Gaga tut, färbt ab – auf ihre Fans, auf die Popkultur, auf andere Künstler und, ja, auf die Gesellschaft.

So wurde auch nicht angezweifelt, dass Beyoncé im Stadion sein würde, vielleicht gar als Gaststar. Zumindest war der Privatjet ihres Gatten Jay Z am Vortag am Flughafen Düsseldorf getrackt worden (selbst aus der Verfolgung solcher Flugbewegungen ist ja ein Hobby geworden).

Gesichtet wurde das Glamour-Paar der Popkultur nicht. Und auf der Bühne wäre kein Platz gewesen. Denn ein Lady Gaga-Auftritt ist kein Konzert, es ist eine perfektest durchchoreographierte Show, die nicht mal Raum lässt für einen Hauch Spontanität – Gastauftritte scheinen ohne Proben unrealistisch.

Wäre Beyoncé vor Ort gewesen, oder sieht sie ein Video der Show, fühlt sie sich vielleicht wie eine wohlhabende Touristin bei der Besichtigung einer abgebrannten, südafrikanischen Township.

Denn Gaga wirkt wie das mental angeschlagene Alter Ego Beyoncés. Letztere steht für das Überwinden von Hindernissen, sie hat es geschafft, trotz ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe, Strasssteine sind für sie nur billige Kopien ihrer Brillanten. Die Ehe wäre fast gescheitert – nun strahlt sie heller als zuvor, gefeiert mit der EP „The Carters“ und einem ikonischen Video zu „Apeshit“, für das der Louvre seine Tore öffnete.

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Das „The Carters“-Album ist eine überbordende Feier des Erfolgs gegen alle Widerstände: „Motorcades when we came through, Presidential with the planes too“, was der Rest der Welt will, ist egal, „I said no to the Superbowl, You need me, I don’t need you“.

Nach einem Beyoncé-Konzert will man die Mauern einer überkommenen Welt einreißen, denn längst ist die neue da – „Who run the world? Girls!“ Queen Bae ist die funkelnde Verkörperung der Selbstermächtigung einer neuen, offeneren, liberaleren Generation.

Und Lady Gaga?

Verkörpert die Erkenntnis, dass man sich mit Düsterkeit und Schmerz abfinden kann, vor der äußeren Welt kapituliert, und sich trotzdem ganz OK fühlt.

Ein Vorspiel, vier Akte, ein Finale und eine Zugabe hat die Chromatica-Show, angekündigt werden die Abschnitte während der Umkleidepausen der Hauptdarstellerin auf der Videowand. Es ist die Reise der Lady Gaga von den Anfängen ihrer Karriere zum Jetzt. Und, das hatte sie in einem Instagram-Livestream zwei Stunden vor der Show erläutert, „es geht um die Phasen der Trauer, die ich in meinem Leben durchlaufen habe.“

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Mit „Bad Romance“ eröffnet sie die zwei Stunden und das Publikum singt jede Zeile so laut mit, dass es zur choralen Ergänzung des bemerkenswert guten Sounds mutiert. Doch fröhlich getanzt wird nur unten und auf den Rängen, nicht auf der Bühne. Deren Design ist dem Brutalismus entlehnt, jener betonigen Architektur, die versuchte, eine „Poesie aus den widersprüchlichen und mächtigen Kräften, die am Werk sind, hervorzubringen“ wie ihre Propagandisten Allison und Peter Smithson in „Architecture Culture 1943-1968“ schrieben.

Auf dieser grauen, kantigen Bühne ist Gaga gefangen in einer grauen, kantigen Stele, die Augen bedeckt mit einer Robocop-artigen Maske. Quälend langsam befreit sie sich, um dann in nicht weniger eckigen Posen zu „Just dance“ und „Poker Face“ zu wechseln. Das Publikum hüpft und singt und eskaliert, doch Gaga wirkt von all dem deplatziert – eine beeindruckende Darstellung der Entkopplung von Stars und Fans in der Welt der Popmusik.

Der Versuch der Befreiung macht die Sache nicht fröhlicher. Wie Frankensteins Monster auf dem OP-Tisch, kurz bevor der Blitz einschlägt liegt Gaga da, während sie in „Alice“ aus dem neuen Album singt, dass dies nicht ihr Name sei, sie aber trotzdem nach dem Wunderland suche.

Doch lösen kann sie sich nicht, „The scars on my mind are on replay“, singt sie, „This is biological stasis, My mood’s shifting to manic places.“

Und die Fans? Tanzen.

„This is my dancefloor, I fought for“ lautet die vielleicht wichtigste Zeile des „Chromatica“-Albums, sie entstammt dem Song „Free Woman“, dessen Titel alles sagt. Und mit jenem Lied zieht Gaga dann gegen Mitte der Show durch die Menge zur kleinen Mittelbühne, ein Piano fährt hoch, aus dem hölzerne Flammen in japanischer Schnitzoptik emporsteigen.

Solche Kleinbühnen-Auftritte sollen das Tempo vor dem großen Finale rausnehmen und die wahre Qualität der Künstler*innen demonstrieren. Wer jene bei Lady Gaga noch immer unterschätzte, wird dies nicht mehr tun – wie fantastisch ihre Stimme ist, demonstriert sie mit „Shallow“. Immer wieder wird behauptet, sie arbeite mit Halbplayback, Beweise gibt es keine und noch nicht mal Indizien außerhalb des Unglaubens, dass jemand so gut trainiert ist, ekstatisch tanzen und derart voluminös singen zu können.

Fröhlicher, hoffnungsvoller aber wird es auch im Zentrum des Stadions nicht, selbst ihre wummige Selbstermächtigungs-Hymne „Born this way“ serviert sie in einer akustischen Version. Würde man den Ton abdrehen, der Chromatica-Ball wäre ein gehüpfter Totentanz inmitten eines Pariser Banlieus  vorgetragen in Kostümen, die gesalzen sind mit Reminiszenten an dystopische Popkultur: Lady Gaga als Frida Kahlo, Verweise auf die Sklavinnen von Jabba the Hut aus „Das Imperium schlägt zurück“, ein Kopfaufsatz erinnert mit seinen Punkten an Yayoi Kusama, ein überdimensionierter Handschuh an den missverstandenen Außenseiter Edward mit seinen Scherenhänden.

Im Gegensatz zu Rammstein ist dies aber keine ironische Dystopie, die dank überzogener Inszenierung Hoffnung macht, dass alles nicht so schlimm ist, wie es aussieht. Gaga aber meint das ernst, „Life is only art on life support“, sagt sie in einem Einspieler. Kein einziges Mal wird sie auf der Bühne lachen oder auch nur länger lächeln.

Wie sonst vielleicht nur Beyoncé ist Lady Gaga für ihre Fans, die sich selbst „Little Monsters“ nennen, auch ein ein moralischer und emotionaler Kompass. Beyoncé ist dies zuvorderst für jene, die aufgrund ihrer Hautfarbe und/oder ihres Geschlechts das Gefühl haben, weniger Chancen zu haben als andere. Gaga ist das Sprachrohr jener, die um ihre psychische Gesundheit fürchten, die mental leiden, weil sie nicht so sein dürfen, wie sie sein wollen – und das sind viele unter den jungen Millennials, der Generation Z und der Generation Alpha.

Solch ein Fantum hat auch immer religiöse und messianische Züge. Die Anhänger folgen ihrem Idol und interpretieren jede seiner Taten und Äußerungen um ein Verhalten daraus zu extrahieren, dass ihm oder ihr zum  Wohlgefallen ist. Während Beyoncé aber, ziehen wir Parallelen zum christlichen Glauben, der Jesus im Tempel ist, der mit den Händlern aufräumt, gibt Lady Gaga den Jesus am Kreuz, der als Stellvertreter für seine Anhänger und die ganze Menschheit leidet.

Das „Chromatica“-Album sei der Kampf um ihr Leben gewesen, sagte Gaga in jenem Insta-Livestream. Und an ihre Fans: „Ich glaube, dass es möglich ist, sich selbst an einem Punkt wiederzufinden.“ Demonstrativer Optimismus klingt anders. Who run the world? Depressionen.

Weshalb es interessant sein könnte, die Reaktionen der Fans auf diese düstere Show in den kommenden Konzerten zu beobachten. Prognose: Aus der bunten CSD-artigen Party könnte ein schwarz paillettierter Burg-Ball werden. Und langfristig? Kann eine angeschlagene Psyche heilen, wenn sie sich mit der Situation abfindet? Oder wäre es besser ihr Mut zuzusprechen?

Den letzten Part bestreitet sie dann wieder auf der großen Bühne, zerschmettert wie im zugehörigen Video liegt sie in einem Alien-artigen Kostüm auf dem Bühnenboden, die ersten Töne von „Rain on me“ holen sie auf die Beine. Im Refrain heißt es:

„Water like misery
It’s coming down on me
I’m ready, rain on me“
I’d rather be dry, but at least I’m alive“

Sie hat sich wiedergefunden, sie ist bereit. Doch das ändert nichts an der Welt drumherum: Die ist schlimm und düster, man kann nur auf sich achten und mit dem Rest irgendwie klarkommen.

Alors on danse.


Kommentare


Frank70 21. Juli 2022 um 23:05

"… und Normalos in der unterdurchschnittlichen Ästhetik deutscher Straßenbildkleidung." –> Schade, dass Sie hier eine solche Überheblichkeit einfädeln müssen. Passt so überhaupt nicht zu dem hohen journalistischen Niveau, für das Sie sich ja regelmäßig selbst als Vorreiter und Lanzenbrecher inszenieren.

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