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Heute ist der Tag, an dem Boris Johnson seine Vorschläge für den Umgang mit Irland, Nordirland und Brexit präsentiert. Und an dieser Nachricht kann man sehr schön sehen, wo der Unterschied liegt zwischen einem englischen Medium wie die „Guardian“ und dem „Spiegel“.

Die beiden sind ansatzweise durchaus vergleichbar. Sie sehen sich nicht als Boulevardmedien, stehen politisch eher links der Mitte und gehören zu den Top-Onlineangeboten ihres Landes.

Spiegel Online bringt eine kürze Nachrichtenstory, rückt aber eine „Analyse“ in den Fokus, die eine Mischung aus Kommentar und Reportage darstellt

Der Erpresser. Vergiftetes Angebot. Nötigung. Showdown. Im Text wird es nicht zurückhaltender: „chaotisches No-Deal-Szenario“, „Kamikaze-Kurs“, aufflammende Gewalt, Angebote, die man nicht ablehnen kann – der Text liest sich stellenweise wie eine Kriegsnovelle. Zwei weitere Medienquellen werden genannt, das zum „Spiegel“ gehörende „Manager Magazin“ wird verlinkt – der „Daily Telegraph“ nicht.

Der „Guardian“ dagegen berichtet ganz anders. Er sieht sogar die Nachrichtenlage deutlich positiver. Johnson habe seinen Friss-oder-stirb-Ansatz nicht mehr so explizit in der Rede erwähnt, dies werde in Brüssel als kleiner Hoffnungsfunke gewertet:

Im Nachrichtentext, der ohne Drogenkriegsvokabular auskommt, wird das Originaldokument eingebunden. Im Live-Ticker wird nicht nur auf andere Medien verlinkt, dem Leser wird eine Analyse von Channel 4 sogar explizit als lesenswert empfohlen.

Und die Tweets von Journalisten anderer Medienhäuser werden nicht zitiert: Sie werden eingebunden.

Das deutsche Medium donnernd und selbstbezogen, das britische Medium trotz aller Nähe zur Gegenseite nachrichtlich und und sich als Informant seiner Leser begreifend – diese Beobachtung ist für den heutigen Tag anekdotisch und doch meine ich dies dauerhaft beobachten zu können. Welcher Leser mag welche Variante bevorzugen?

Sicher ist: Der „Guardian“ ist nach Jahren des Darbens jüngst wieder in den schwarzen Zahlen gelandet – und das ganz ohne Paid Content.


Kommentare


Artur Heinrich 2. Oktober 2019 um 20:14

Gut gesehen. Als ehemaliger und langjähriger Print-Leser des Spiegel, zu Zeiten, als es noch kein Internet gab, muss ich (leider) feststellen, dass dieses Online-Magazin inzwischen zu einer zusehends zu einer marktschreierischen, auf Krawall gebürsteten Postille verkommt. Tja, Hauptsache Klicks.

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Tim 7. Oktober 2019 um 8:50

Nach meinem Eindruck ist deutscher (Online-)Journalismus generell viel stärker von Wunschdenken und der Meinung des Journalisten geprägt als englischer. Die Engländer? Gaga. Die US-Republikaner: schon jenseits von Gaga. Die Europäer: generell die Guten, außerdem Hüter der Demokratie und der Vernunft. Die US-Demokraten: ein bisschen wie die Europäer.

Entsprechend lässt man dann gern Fakten aus, die gegen die eigene Grundhaltung sprechen. Das Schöne: So kann man die Welt verzerren, ohne dass man sich den Vorwurf der Fake-News einhandelt.

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