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Eine der schlimmsten Fehlwahrnehmungen über das Internet besagt, dass es eine Trennung zwischen „realem“ und „digitalem“ Leben gebe und dass, wer viel Zeit im Netz verbringt, keine sozialen Kontakte pflege.

Das Gegenteil ist wahr: Digitale Kommunikationsmittel sind ein Instrument, um uns mit anderen Menschen zusammenzubringen. Mehr noch: Wann immer sich die Gelegenheit ergibt, gemeinsam nicht nur etwas zu betrachten (Twitter-Tatort), sondern gemeinsam etwas zu tun, springen wir darauf an – siehe Pokémon, Barcamps oder Netzwerkspiele.

Aus diesem Grund glaube ich, dass wir mit HQ etwas sehen, was die Entertainment-Branche verändern könnte.

Was ist HQ?

HQ ist die neue Gründung von Rus Yusupov und Colin Kroll, zwei Drittel des Start-Teams von Vine, dem eingegangenen Kurzvideodienst. Auch diesmal geht es kurz – und ausschließlich mobil – zu. Jeden Tag um 15 und 21 Uhr New Yorker Zeit lädt die App zu einer Art Gruppen-Wer-wird-Millionär. OK, ohne die Million. Wer sich anmeldet, tritt in einem Multiple-Choice-Quiz gegen alle anderen an. Jeder Teilnehmer, der alle 12 Fragen richtig beantwortet, erhält einen Teil des Jackpots. Da dieser aber manchmal aus 500$ und manchmal aus 2.500$ besteht, sollte man keinen Reichtum erwarten (mehr zu HQ gibt es auch bei Techcrunch).

Das an sich wäre schon interessant. Eine besondere Note aber bekommt es durch einen Moderator: Scott Rogowsky ist zwar sehr… sagen wir: amerikanisch, doch die gesamte Anmutung verändert sich durch seine bildschirmfüllende Präsenz. HQ wirkt nicht wie eine anonyme Software, sondern wie ein Bingo-Saal für Millennials.

Hier sehen wir eine Art Netzwerkspiel im Bereich Casual Gaming. Wann immer ich in den vergangenen drei Wochen an einer Spielrunde teilgenommen haben, lag die Mitspielerzahl höher. Vorgestern waren es über 40.000 Menschen, die in die erste Runde gingen, zehn mal mehr also noch vor drei Wochen.

Warum ist HQ interessant?

Was würde passieren, wenn die nur wenige Minuten dauernde Show nicht nur zweimal am Tag laufen würde, sondern ständig? Ich glaube, der Suchtfaktor wäre bemerkenswert. Auch andere Casual Games setzen ja auf eine Art Miteinander, beispielsweise durch Highscore-Listen, die nur aus den eigenen Facebook-Freunden generiert werden. Doch durch den menschlichen Moderator entsteht ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl.

Was dagegen nicht funktioniert ist der Chat. Den gibt es und er läuft. Aber das ist sein Problem: Er läuft in aberwitziger und nicht mitlesbarer Geschwindigkeit. Doch was, wenn er nur beschränkt wäre auf eigene Kontakte? Oder wenn er ersetzt würde durch die Möglichkeit, sich als Freundestruppe wie bei einem Gruppen-Videoanruf einzuklinken?

Aus meiner Sicht sehen wir eine mögliche, neue Zukunft für einen Teil unseres Unterhaltungs-Zeitbudgets.

HQ selbst hat dabei gute Chancen auf Profitabilität. Denn durch das aktive Mitmachen gilt dem Bildschirm mehr Aufmerksamkeit als bei TV-Werbung, würde ein Sponsor einen Spot zwischen zwei Fragen schalten. Denkbar wäre auch, diesen Sponsor zum Teil einer Frage zu machen. Oder aber eine Marke wird Sponsor der Fragerunde und ermöglicht so einen besonders hohen Jackpot.

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Als alten Sack erinnert mich die Grundkonstellation an eine der großen, vergebenen Chancen der deutschen Digitalwirtschaft: das Onlineauktionshaus Ricardo.

Die Hamburger boten einerseits Ebay-ähnliche Auktionen, andererseits aber unterhaltsam moderierte Versteigerungen. Die fanden durchaus ihre Zuschauer und Käufer (und ich behaupte, das würde auch heute noch funktionieren). In den Wirren der New Economy scheiterte Ricardo aber meiner Erinnerung nach an den Kosten für die Lagerhaltung (die heute mutmaßlich günstiger wären).

Die Gründer von Ricardo machten alles richtig, brachten das Unternehmen im richtigen Moment an die Börse und stiegen im richtigen Moment aus. Ricardo wurde vom britischen Online-Auktionator QXL gekauft und von da an ging es rasant bergab. Heute existiert immerhin noch Ricardo.ch.

Oft frage ich mich, ob nicht Otto damals Ricardo hätte kaufen sollen. Einerseits hätte der Konzern versuchen können, eine Konkurrenz zu Ebay aufzubauen (das Beispiel Schweiz zeigt, dass dies möglich war), andererseits hätte er mit Live-Auktionen ein neues Geschäftsmodell erschlossen, bei dem er vielleicht Ware losgeworden wäre, die sich weniger gut verkauft. Wenn die Idee jener moderierten Auktionen erhalten geblieben wäre, vielleicht wäre dann ja die Idee für HQ in Deutschland entstanden?

OK, das ist wilde Kaffeesatzleserei. Belassen wir es bei dem, was sichtbar ist: HQ ist neu und begeistert eine wachsende und große Zahl von Menschen. Angesichts der englischen Sprache könnte es dann schon bald ein deutsches Gegenstück (hallo, Pro7Sat1) geben, wetten?


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