Es gehört zu den Unsitten des Onlinejournalismus, zu allem einen Liveticker machen zu wollen. Bei Sportereignissen – kein Thema. Doch bei viel zu vielen Ereignissen werden Ticker geschrieben, die vor allem beschreiben wie wenig bis gar nichts passiert. Dass jedoch wenig bis gar nichts passiert, ist häufig genug vorhersehbar, ohne dass für die Erkenntnis viel Gehirnschmalz nötig wäre.
Solch ein Fall ist der heutige Bahnstreik. Reisende interessiert vor allem eines: Fährt mein Zug. Das erfahren sie auf der Seite der Bahn oder der lokalen Verkehrsbetriebe. Welchen Mehrwert könnte ein Liveticker also noch liefern? Der gelangweilte Leser erfährt von Touristen, die um Rat fragen, sieht langweilige Fotos von Ständern, die das Streikinfoplakätchen der Bahn hochhalten, gefolgt von anektdotischen Beobachtungen von Redakteuren auf dem Weg zur Arbeit: Mal ist eine Bahn voll, mal ist eine leer. Mehrwert für den Leser: Null.
Auch scheint es, dass Onlineredakteure selbst genervt sind ob der Tickerei. Zum Beispiel die von Tagesspiegel.de. Sie eröffneten ihre Tickerrei mit:
„6.00 Uhr – Der Ring steht: Zunächst die wichtigste Nachricht: Die S-Bahn hat die wichtige Ringbahn eingestellt. Dabei sollte sie eigentlich eine Ersatzstrecke für den wegen Bauarbeiten gesperrte Nord-Süd-Verbindung zwischen Gesundbrunnen und Yorckstraße sein. Zudem fallen die Fahrten der Linien S 45, S 47, S 75, S 8 und S 85 aus… Auf den anderen Strecken versucht die S-Bahn, alle 20 Minuten zu fahren. Aber bei den bisherigen Streiks hat dies auch nicht immer geklappt.“
Der Ring steht – nicht immer hat bisher alles geklappt: Geht es noch spannender? Lesen wir weiter:
„6.05 Uhr – Die U2 wird voll: Gerade noch hat Udo Lindenberg hier live den Sonderzug nach Pankow besungen, heute wird nicht mal seine Gitarre in den Waggon passen. Die U2, die normalerweise die gesamte Stadt durchkreuzt, ist sowieso gerade voll wegen des gesperrten Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn und auch noch wegen Bauarbeiten zwischen Gleisdreieck und Wittenbergplatz unterbrochen. An diesem Mittwochmorgen nun erlebt sie einen rappalerappelrappelrappelvollen Berufsverkehr – denn auch die BVG fährt längst am Limit. Da fällt gar nicht mehr auf, dass zwischen Potsdamer Platz und Gleisdreieck die Züge nur alle zehn Minuten fahren.“
Ja, solch packenden Texte kann nur schreiben, wer knallhart am Geschehen ist. Wer seine Reporter rausschickt in die untergründige Kälte einer in Beton gegossenen Wirklichkeit.
Oder natürlich der, der Wahrsager beschäftigt.
Denn: Jene Texte waren bereits gestern um 23.20 online, wie mir ein Leser per Screenshot und E-Mail mit jenem Zeitstempel nachwies. Auch Online-Chef Markus Hesselmann bestätigte mir dies gerade via Twitter und entschuldigte sich.
Hören wir also endlich auf, Liveticker zu lesen: Sie sind der an den Haaren herbeigezogene Versuch, Aktualität und Nähe zu Themen zu simulieren, sie sind eine atemlose Journalismus-Simulation.
Kommentare
Jörg Kantel 22. April 2015 um 16:35
Der Tagesspiegel kann es sogar noch besser: Er wußte in seinem Live-Ticker gestern um 20:44 Uhr schon, was heute im Bahnstreik passiert. http://blog.schockwellenreiter.de/g2015/bilder201504/201504bild08.html
Lesenswerte Links – Kalenderwoche 18 in 2015 > Vermischtes > Lesenswerte Links 2015 1. Mai 2015 um 7:00
[…] Die nervigen Live-Ticker haben Thomas beschäftigt: Die Wahrsager vom “Tagesspiegel”. […]