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In den kleinen Dingen, den unbewussten, manifestiert sich das größere Gedankenkonstrukt dahinter – diese These habe ich hier bereits mehrfach vertreten.

Gestern gab es wieder mal so ein eigentlich kleines Ding, das ein Licht auf die Probleme des verlagsgetriebenen Journalismus wirft. Die „Augsburger Allgemeine“ reichte auf Twitter das Bild eines deutlich übergewichtigen Einlaufkindes bei der Fußball-WM weiter mit den Worten „Falls jemand einen Ball vermisst“. Kein lapidar hingeschmissener Kommentar, denn das Bild musste erst vom Fernseher abfotografiert

Dieses Sich-Lustig-Machen über eine übergewichtige Person wäre schon fragwürdig, handelte es sich um einen Erwachsenen. Aber ein Kind? In Zeiten, da in Deutschland so viel über Cybermobbing geschrieben wird? Vielleicht könnte man von einer Redaktion auch erwarten, dass sie den Fall von „Star Wars Kid“ kennt, einem Teenager, der sich selbst als Laserschwertkämpfer filmte und dafür im Web verulkt wurde, was eine psychatrische Behandlung nötig machte. Wer im Rahmen einer Redaktion solch einen Tweet schreibt, sollte seine moralische Grundhaltung hinterfragen.

Sofort gab es reichlich Gegenwind für diesen Tweet, was die Redaktion zunächst abtat mit einem verschmitzten Hinweis, dieser Tweet werde wohl als provokant wahrgenommen. Erst geraume Zeit später (ich glaube es war eine Stunde, kann das aber nicht belegen) folgte eine Entschuldigung, bis zur Löschung des dahinter liegenden Twitpics brauchte es weitere Zeit.

Mit solch einer Entschuldigung ist die Sache gegessen. Eigentlich. Gelöscht war das Bild bei Twitpic aber immer noch nicht, wie man den Kommentaren unter dem Post auch entnehmen kann. Nun meinte die „Augsburger Allgemeine“ auch noch mit einem Blogpost nachlegen zu müssen. Und der demonstriert, dass man in Augsburg weiterhin nicht recht zu verstehen scheint, was passiert ist und warum es so viel Ärger gibt. Lang und breit wird geschildert, was für heftige Reaktionen es gab. 2366 Zeichen werden darauf verwendet. Erst dann kommt das Eingeständnis:

„Tatsache ist: Man macht keine Witze über Menschen, die sich nicht wehren können. Insofern hätte das Posting niemals erfolgen dürfen. Es war ein Fehler, ja. Der Kollege erkannte das sehr schnell selbst. Er entschuldigte sich dafür. Mehrfach.“

Statt nun aber Einsicht walten zu lassen, macht die „Augsburger Allgemeine“ in aus der PR bestens bekannter Manier die Aufgeregten zu den Bösen:

„Doch selbst aufrichtige Entschuldigungen nützen nichts, wenn die Empörungswelle im Internet erst einmal rollt. Das ist bekannt. Und daher auch in diesem Fall nicht ungewöhnlich. Das ist uns durchaus bewusst.

Der Shitstorm wird noch einige Stunden, vielleicht sogar Tage weitergehen. Dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.

Wir haben unsere Lektion gelernt. Wir werden Postings in den sozialen Netzwerken noch kritischer als bisher prüfen vor dem Abschicken. Den verunglückten Beitrag haben wir gelöscht. Diejenigen, die ihn geteilt und retweetet haben, vermutlich nicht. Das liegt nicht mehr in unserer Hand. Leider.“

Tja, so ganz stimmt das natürlich nicht. Denn als die „AA“ ihr Twitpic löschte, war dieses in Kombination mit dem Kommentar nur noch bei jenen Social-Web-Nutzern erreichbar, die einen Screenshot gemacht hatten.

Diese Unaufrichtigkeit beobachten auch andere. Unter einem Facebook-Post von Andreas Kemper (Chefredakteur Digitale Medien bei der „Main Post“) schrieb zum Beispiel Stefanie Söhnchen:

„Ich finde den Ton des Posts überhaupt nicht beeindruckend. Eine Entschuldigung, durch die sich die gesamte Zeit ein „Jetzt regt euch mal nicht so auf“ zieht hat einen miesen Beigeschmack und zeugt – meiner Meinung nach – von dem Missverständnis mit dem viele Printjournalisten immer noch Online-Medien, ihrem Wert und ihrer Funktionsweise gegenüber stehen. Genau diese Einstellung hängt auch mit dem „wenn das einer zuhause gesagt hätte, hätte es keinen aufgeregt“ zusammen – es ist unglaublich, dass das hier als Argument, warum es nicht Shitstorm-wert war angeführt wird. Den Post hätten sie sich gern sparen dürfen – denn ehrlich gemeint kommt er mir nicht.“

Am Bemerkenswertesten aber der ehrliche Einblick von Ralf Freitag (Bereichsleiter Medien und Kommunikation der „Lippischen Landeszeitung“):

„Der Vorfall deckt ein riesiges Problem unserer Branche auf. Das abendliche und morgendliche Posten in den sozialen Netzen überlassen die meisten Redaktionen zumeist jungen und freien Mitarbeitern. Und auch tagsüber wird in vielen Redaktionen nicht ein Post von anderen Kollegen, geschweige denn Lokal- oder Ressortchefs gegengelesen. Der Grund ist banal: unsere Produktionsstruktur ist bei allen Integrationsbemühungen auf Print ausgelegt. Online bleibt ein Zusatz, der mal mehr, mal weniger mit Personal unterfüttert ist. Dass es mir der Augsburger Allgemeinen noch eine Redaktion „erwischte“, die Online vergleichsweise gut aufgestellt ist, macht das Fragezeichen hinter das, was wir täglich mit geschlossenen Augen zulassen, nur noch fragwürdiger.“

Genau dieses Hinterfragen des eigenen Tuns findet derzeit zu selten in deutschen Redaktionen statt. Stattdessen wird jeder, der ein journalistisches Erzeugnis kritisiert als Print-Tot-Redner ohne Hirn dargestellt. Man darf zweifeln, ob dies die richtige Herangehensweise in einer Zeit ist, da die Auflagen der Printobjekte im freien Fall sind, die Bilanzen Richtung rot schwenken und Redaktionen zwischen Personalabbau Tarifflucht pendeln.

Übrigens: Vor zwei Wochen schrieb die „Augsburger Allgemeine“ einen Bericht über die massive Kritik an ZDF-Kommentator Bela Rethy im Social Web. Unter anderem war dort zu lesen:

„Beim Spiel der Brasilianer gegen Kroatien schienen sich jedenfalls viele, sehr viele Nutzer darauf verständigt zu haben, jetzt mal das Spiel Spiel sein zu lassen und lieber auf jede Betonung des Reporters zu achten und bei Missfallen einen Tweet ins Smartphone zu tippen.

Davor wurde die schwarzgerahmte, dick bebügelte Brille abgesetzt, ein letzter Schluck aus der Bionade (Ingwer-Orange) genommen und die von den aus England importierten Vinegar-Chips angefetteten Finger an der Kunstleder-Couch abgeschmiert. Und dann möge die virtuelle Steinigung erfolgen…

Gehaltvolles? Fehlanzeige. Hat erstmal einer angefangen, einen Stein zu werfen, folgen ihm unweigerlich andere.

Das sagt mehr über die Zuschauer als über den Kommentator aus. Denn was ist das bitte für eine Art, ein Fußballspiel zu rezipieren?..

Denn wie soll das nun eigentlich gehen? Spiel schauen. Kommentator zuhören. Gehörtes verarbeiten. Kritik formulieren. Reflektieren. Ins Handy schauen. Kritik niederschreiben. Anderen Kritiken lesen. Spiel schauen. Das ganze von vorne. Und dann aber am besten noch glauben, anschließend eine fundierte Analyse des Spiels abliefern zu können.

Schaltet doch bitte einfach ein paar Gänge runter. Der Fußball steht im Mittelpunkt. Nicht eure Twitter-Onanie.“


Kommentare


Thomas Hillebrand 30. Juni 2014 um 11:10

Bei der ganzen Diskussion wird vergessen, dass über Menschen, die nicht „der Norm“ entsprechen oder eine Behinderung haben, schon immer gelästert wurde bzw wird. In früheren Zeiten wurden sie auch umgebracht. In einigen Ländern ist das heute noch so.
Ich verstehe die Aufregung nicht.

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Thomas Knüwer 30. Juni 2014 um 12:37

@Thomas Hillebrand: Sie meinen, weil früher Hexen verbrannt wurden, könnte man heute Frauen schlagen? Weil es nicht so schlimm ist? Unsere Gesellschaft ist zivilisierter geworden. Und gerade Journalisten sollten sich anders verhalten als ein lästernder Mob. Sehen Sie das anders?

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Wirtschaftswurm 30. Juni 2014 um 17:02

Nein, nein, die AA hat ganz recht. Ob und wie man sich entschuldigt, ist den Leuten, die sich aufregen wollen, eigentlich ziemlich egal. Und Qualitätsstandards für Tweets sind sowieso nicht durchsetzbar und wahrscheinlich gar nicht wünschenswert.

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Thomas Knüwer 1. Juli 2014 um 8:43

@Wirtschaftswurm: Unsere Erfahrung bei kpunktnull ist eine andere. Wer dauerhaft eine ehrliche Kommunikation pflegt gerät nur selten in einen Shitstorm. So musste einer unserer Kunden gerade eine große Rückrufaktion starten. Ergebnis: Keine Aufregung, fast zu 100% Zuspruch.

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Muyserin 30. Juni 2014 um 17:09

Ich hoffe, Herrn Hillebrands Kommentar war ironisch gemeint.

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Unwetterwarnung für Augsburg-Lechhausen | König von Haunstetten 30. Juni 2014 um 20:56

[…] Die Redaktion unserer Lokalzeitung hier in Augsburg-Lechhausen hat sich gestern (völlig zu Recht) einen Shitstorm eingefanen. Details gibt es hier. […]

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Stefanie Söhnchen 1. Juli 2014 um 8:10

@Wirtschaftswurm – Ich möchte Ihnen an dieser Stelle gern widersprechen. Ja, es ist inzwischen fast jeden Tag irgendeine Entschuldigung in unseren SoMe-Streams, aber es gibt auf jeden Fall solche und solche. Beispielsweise habe ich in den letzten Tagen die Entschuldigung von Schauspieler Garry Oldman bei Jimmy Kimmel gesehen, die unglaublich ernst gemeint wirkt und für viele positive Reaktionen gesorgt hat. (https://www.youtube.com/watch?v=ANpttfdbe9s) Aber es gibt eben auch solche, die wie „von Mama verordnet“ a la „jetzt gebt ihr euch die Hand und sagt Entschuldigung“ rüberkommen. Dass diese für nur mehr Empörung sorgen, finde ich nicht überraschend. Ich denke, es kommt darauf an, dass wir menschlich mit anderen und un s selbst umgehen. Dann gibt es auch ein schnelleres Vergeben-und-Vergessen im Internet.

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Die Links aus dem Social Media Newsletter von heute (1.7.2014) – socialmedianewsletter.de 1. Juli 2014 um 9:21

[…] Das übergewichtige Kind von Mexiko und die Augsburger Allgemeine https://www.indiskretionehrensache.de/2014/06/augsburger-allgemeine/Social Media Nutzung in Unternehmen: Wem gehören die […]

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Lesenswerte Links – Kalenderwoche 27 in 2014 > Vermischtes > Lesenswerte Links 2014 4. Juli 2014 um 7:01

[…] Am vergangenen Sonntag habe ich mich über die Augsburger Allgemeine aufgeregt. Thomas fasst den Skandal zusammen: Das übergewichtige Kind von Mexiko und die “Augsburger Allgemeine” […]

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