Der Junge vor mir ist vermutlich um die 18. Das graue T-Shirt sitzt stramm um einen bestens trainierten Oberkörper, mal wiegt er sich im Takt der Musik, dann hebt er den Arm und brüllt Zeilen wie „I was born in a crossfire hurricane..“ Neben ihm sein Vater, die Ähnlichkeit ist offensichtlich, der Tanzstil deutlich steifer. Daneben Papas Kollegen, offensichtlich aus dem Bank-Sektor, denn sie lästern über das Team eines Mitbewerbers, dem sie begegnet sind. Steif waren die, eben typisch „Doitsche Bänk Ässett Mänatschmänt“ imitiert eine Mittzwanzigerin im bauchfreien Outfit den deutschen Akzent. Ihr Chef, sicher 40 Jahre älter, wird später entrückt um sich selbst tanzen, wenn die ersten Takte von „Gimme Shelter“ erklingen. Er war schon 1969 hier im Londoner Hyde Park, als die Rolling Stones das erste Mal auftraten.
Zu meinen persönlichen Schwächen gehört es, dass ich bereit bin, viel Geld für alternde Rockstars auszugeben. Eine weitere Schwäche ist es, dass ich gewisse Künstler unbedingt sehen will – und dazu gehören die Rolling Stones. Erst recht, wenn sie wie vergangenen Samstag 43 Jahre nach jenem Konzert, das viele für Englands Woodstock-Moment halten wieder im Herzen Londons auftreten.
Über die Band lässt sich gut lästern. „Leben die überhaupt noch?“ „Wer will die noch hören?“ „Eröffnen die nicht Möbelhäuser?“ Wer so redet, hat sich zum einen nicht mit den Stones beschäftigt, sie vor allem aber lange nicht mehr auf der Bühne gesehen. Neil McCormick der Musikkritiker des „Daily Telegraph“, urteilte über ihren Auftritt beim Festival in Glastonbury vor zwei Wochen: „It was one of the greatest rock and roll sets I’ve ever seen in my life and I think one of the greatest rock and roll sets Glastonbury has ever seen.“
Doch die Stones sind mehr als eine Gruppe älterer Herren, die immer noch ihr Handwerk verstehen. Das gilt auch für Bands wie die Eagles, die live ebenfalls fantastisch klingen. Nein, die Stones zeichnet aus, dass sie in Sachen Markenführung ein Vorbild für jeden sind, der im Marketing tätig ist. Und nur deshalb schaffen sie es auch im 50. Jahr ihres Bestehens 65.000 Zuschauer zu satten Preisen in den Hyde Park zu bekommen, nur deshalb begeistert sich ein 18-Jähriger genauso für ihre Musik wie sein Vater und dessen Chef.
Über allem steht bei den Stones der Erhalt des Markenkerns. Die grundsätzliche Show hat sich wenig verändert, das zeigten am Samstag auch die ersten Bilder auf der Leinwand: Sie erinnerten an jenes 69er-Konzert. Noch immer moved Mick Jagger wie nur Mick Jagger moven kann, weiterhin sind Ron Wood und Keith Richards für den Soundteppich verantwortlich, noch immer tragen sie schrille Kleidung. Allein: Jagger singt heute besser als früher.
An diesem Kern wird nicht mehr gerührt. Das letzte Studioalbum ist 8 Jahre alt. „A bigger bang“ war ein gutes Album mit guten Chart-Platzierungen. Doch das zersplitterte Musikgeschmack und die Veränderungen im Musikgeschäft machen es realistisch, dass die Stones nie mehr so sehr die Hitlisten Charts dominieren werden. Und so belassen sie es beim Abmischen alten Materials und nur einzelnen Neu-Zückerchen wie dem wirklich gelungenen, neuen Song „Doom and Gloom“.
Die traditionellen Werte also werden hoch gehalten, so wie auch Hermès mit einer tourenden Handwerker-Ausstellung „Festival des Metiers“ seine Wurzeln als Sattelmacher betont. Dem Kunden soll klar sein: Hier gibt es keine austauschbare Massenware, jede Tasche – oder jedes Konzert – ist etwas Besonderes.
Die Bedeutung ihrer eigenen Vermarktung war den Stones früher klar als anderen Bands. Nehmen wir nur die zur Ikone gewordene Zunge: Entworfen wurde es 1971 vom Kunststudenten John Pasche. Der sollte eigentlich nur 50 Pfund bekommen, doch den Stones gefiel das Logo so gut, dass er einen Bonus von 200 Pfund bekam. Diese Zunge ist bis heute der optische Angelpunkt der Band-Kommunikation. In immer neuen Versionen taucht sie auf, bei der aktuellen Tour bildet es das Mundwerk eine Gorillas. Kaum eine andere Band oder ein anderer Künstler hat eine derart konstante Design-Sprache.
Wie so viele Luxusmodemarken aber haben auch die Stones begriffen, dass die Inszenierung des Markenkerns mit der Zeit gehen muss. Geschäfte von Marken wie Gucci oder Paul Smith haben ihre eigene Designsprache und dienen nicht nur dem Verkauf von Ware sondern dem Transport eines Images mit allem, was die Technik für den stationären Einzelhandel ermöglicht.
Für die Stones gehört zu dieser Markeninszenierung natürlich das Konzertwesen. Live setzen sie an Technik ein, was auf dem Markt ist. 1990 sah ich auf Schalke mein erstes Konzert der Band. Und damals schon hatten sie die beste Lichtanlage, die ich bis dahin gesehen hatte, ihre aufblasbaren Puppen waren die größten und der Sound über die Jahre immer exzellent (für Konzerte, die in Stadien stattfinden).
Einen Maßstab für die Musikbranche setzen die Stones auch im Internet seit Jahren. Sie waren vorne mit dabei, als die Idee aufkam, Konzertvorverkäufe zunächst für klar definierte Fans zu öffnen. So existierte zwischenzeitlich ein Fanclub gegen Jahresgebühr, über den dieses Vorkaufsrecht erworben werden konnte. Mutmaßlich aber begannen die Mitgliederzahlen zu bröckeln, wenn eine Tournee abgeschlossen war. Immer schon war die Seite aber ein wuchtiger Onlineshop mit immer neuen Produkten. Ständig gibt es Wiederauflagen alter T-Shirts, exklusive CD-Sammlungen und ähnliche Devotionalien, für die Abwicklung sorgt der Künstler-Dienstleister Bravado.
Designerisch ist die Seite auf der Höhe der Zeit, natürlich mit Responsive Design, das auf einem Tablet schlicht und doch eindrucksvoll daher kommt. Zum Vergleich einfach mal der Stones-Auftritt und jener der Toten Hosen:
Die Homepage ist aber nur der digitale Ruhepunkt, dessen Abbild eine optisch ansprechende Mobile App ist, selbstverständlich in iOS und Android.
Für Bewegung und ständigen Kontakt mit der Marke Rolling Stones sorgt Social Media – praktiziert mit viel Augenmaß. Auf Twitter liefert die Band exklusive Bilder, ein paar News und retweetet ausgewählte Fan-Tweets.
The view from the stage #StonesHydePark pic.twitter.com/FR5d8z4qPc
— The Rolling Stones (@RollingStones) July 7, 2013
Ein Prunkstück der Präsentation ist Youtube. Über die Jahrzehnte hat sich die Truppe eine Menge Bewegtbildrechte an eigenen Auftritten gesichert und verwandelt sie nun in Song-Häppchen. Das Kalkül ist klar: So bleibt die Musik erreichbar für eine junge Generation, doch niemand wird sich ein Live-Konzert nicht herunterladen oder als DVD kaufen, weil er einzelne Songs auf Youtube sehen kann. 259 Videos zählt der Kanal aktuell, 260.000 Nutzer haben ihn abonniert und die Videos wurden insgesamt über 60 Millionen mal angesehen. Versehen sind sie mit einem Wasserzeichen um Raubkopien ausmachen zu können. Und: Die Verlinkungen in den laufenden Videos sind extrem klug gesetzt – da versteht eine Online-Redaktion ihren Job.
Die Facebook-Page der Band ist das Social Sammelbeckens. Hier wird weniger gepostet als auf Twitter, manches aber deckungsgleich. Fotos und Videos spielen eine wichtige Rolle. Doch die Seite ist, vergleichbar mit Starbucks, ein Ventil der Fans: Hier schreiben sie ihre Liebe heraus, erinnern sich an Konzerte oder Momente mit der Musik.
Diese Fans werden außerdem gepflegt – denn auch ich bin an mein Ticket für den Hyde Park via Facebook gekommen. Eine Stunde vor Beginn des offiziellen Vorverkaufs (den Erstzuschlag hatten zuvor Besitzer von Barclays-Kreditkarten) erschien auf Facebook ein Zugangscode, der den Anhängern eine Stunde vor der breiten Öffentlichkeit Zugriff auf die Karten gewährte:
Und all das gibt es weitestgehend nicht nur auf Band- sondern auch auf Künstler-Ebene. Zum Beispiel Mick Jagger auf Twitter oder Keith Richards auf Facebook. Diese Präsenzen werden sehr klug miteinander vernetzt, unter anderem durch Verweise des Band-Profils auf die Aktivitäten der Musiker. Und immer wieder kommt dezent der Hinweis auf Geldausgebe-Möglichkeiten: So verlinken Youtube und Facebook auf den Online-Store, Twitter auf iTunes.
Die Stones im Web erinnern an die digitale Modernisierung traditionsreicher Luxusmarken. Längst haben Burberry oder Prada den Mythos abgelegt, dass ihre Produkte im Web nichts zu suchen hätten. Sie gehören zu den Treibern des Bereichs E-Commerce und digitale Markenpflege. Ein noch recht frisches Beispiel ist die wunderschöne Kampagne Burberry Kiss.
Das Stones-Management (denn natürlich ist die Band selbst nicht aktiv) probiert alles aus. Zum Beispiel Pinterest, Whosay, Google+, Tumblr und auch Instagram. Bei letzterem gibt es in den Stunden vor einem Konzert viele Fans zu sehen, wobei bevorzugt junge Gesichter gewählt werden – sie sollen wohl auf das Band-Image abstrahlen:
Und kaum gab es Instagram-Videos wurde auch damit experimentiert. Hier ein Beispiel des Mick Jagger-Accounts:
Insgesamt entsteht so digital der authentische Eindruck einer Band, die ihre Fans teilhaben lässt ohne jemals den Thron zu verlassen, auf dem die Rolling Stones nun einmal zu stehen haben. Sie dürfen sich nicht zu klein machen, das würde nicht passen. In Sachen Fan-Kommunikation ist die Abstimmung, welcher von fünf vorgegebenen Songs auf einem Konzert gespielt wird, schon das maximal gewünschte. Die Stones dürfen nicht hinabsteigen zum normalen Volk, das würde nicht zur Marke passen. Bruce Springsteen oder Robbie Williams holen sich Fans auf die Bühne – die Stones Gastmusiker.
Diese zur Marke passende Unnahbarkeit wird durch Ironie gebrochen. Denn die Musiker selbst machen nicht jeden, aber manchen Unsinn mit. Zum Beispiel, als es um die Abstimmung des Wunsch-Songs für den Hyde-Park geht:
Was die Rolling Stones da betreiben ist eine Fallstudie für jede Marke mit Tradition, ein Musterbeispiel in Sachen Marketing im digitalen Zeitalter. Zu keinem Zeitpunkt geht es hier um sinkende Preise, nein, die für einzelne Leistungen aufgerufenen Preise steigen sogar. Nirgends kollidieren die Stones mit einer angeblichen Gratiskultur, nirgends haben sie Probleme mit mangelnder Zahlungsbereitschaft. Und so widerlegt das Ur-Gestein des Rock’n’Roll vieles, was derzeit über digitales Wirtschaften behauptet wird. Allerdings: Dafür braucht man eine Strategie und Wissen über die Zusammenhänge.
Selbstverständlich ist all das kein Thema, als sich die 65.000 aus dem Hyde Park drängeln. Die britischen Banker sind schwerstbetrunken, wie Engländer es gerne sind. Wenn ich es recht beobachtet habe, hat einer von ihnen seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht. Ob sich die beiden daran am nächsten Morgen erinnern werden, erscheint angesichts des Alkoholpegels zumindest fragwürdig. „Fucking great show“, brüllt einer aus dem Team heraus. Zwei Tage später wird der „Guardian“ fünf von fünf möglichen Sternen für das Konzert vergeben und kommentieren: „A beautiful You Can’t Always Get What You Want and the inevitable (I Can’t Get No) Satisfaction finish the show, and it’s hard to believe, as Keith Richards grins through his fag smoke, that they won’t be back doing it all again soon.“
Kommentare
Link: “Was das Marketing von den Rolling Stones lernen kann” | Inselblog 12. Juli 2013 um 7:49
[…] ganze Artikel ist auf Indiskretion Ehrensache zu […]
“Fucking great show”, indeed. | MotorBlöckchen 12. Juli 2013 um 10:57
[…] ” Zu meinen persönlichen Schwächen gehört es, dass ich bereit bin, viel Geld für alternde … […]
Thomas Knodt 16. Juli 2013 um 10:17
Zum neidisch machen: Stones in der Grugahalle 1973, in der Westfalenhalle 1976, ätsch!