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Jede größere und kleinere Veranstaltung ist auch eine Art sich metamorphierendes Wesen. Es wird verändert durch wechselnde Besucher, wechselnde Redner, Künstler oder Sportler und genauso durch seine persönliche Entwicklung. Das macht solch eine Veranstaltung immer wieder ein Stück neu und frisch. Manchmal aber ist auch ein größerer Bruch nötig, etwas komplett anderes. Manchmal geschieht dieser, weil Veranstalter wechseln, manchmal aus wirtschaftlichen Gründen, dann wieder aus dem Gefühl heraus, dass sich etwas ändern muss.

Ohne Schmerzen ist solch ein Bruch für regelmäßige Besucher nicht möglich. Insofern wird es höchst spannend sein, die nächste Re-Publica zu besuchen, die vom angestammten Ort in Mitte in den alten Bahnhof Station zieht – ein Ort, der mich persönlich bisher überhaupt nicht ansprach.

Auch meine Lieblingskonferenz Picnic hat einen Bruch vollzogen. Einen der sehr weh tut, nicht nur geistig, sondern körperlich. Von der wunderwunderschönen Westergasfabriek ist die Denkveränderungskonferenz umgezongen ins… Nichts. Wortwörtlich. Denn dort, wo das Picnic-Gelände in diesen Tagen steht, befindet sich sonst eine weite Fläche Beton. Sicher, das Viertel, die NDSM Wharf gilt als hip und kreativ, MTV ist hier und wohl auch einige Startups. Doch die Konferenz selbst hat sich ihren Ort erbaut. Er besteht aus Containern – ganz angesagtes Thema, wie jüngst im NRW-Forum und auf vielen Theater- und Opernbühnen zu besichtige -, und Zelten.

Das passt zum übergreifenden Schwerpunktthema „Smart Cities“ – die Picnic erschafft sich ihre eigene Stadt.

Aber.

Amsterdam liegt am Wasser und auch recht nah am Meer. Und es ist Mitte September.

Grau schieben sich die Wolken über die Stadt, gelegentlich schauert es. Vor allem aber: Es windet. Und zwar derbe. Zwar stehen Container rund um das Hauptzelt, doch aus Sicherheitsgründen mit etwas Abstand. In diese Lücke fällt der Wind und rüttelt und zerrt am Zelt. Mal heult, mal blubbert es, es klingt als riebe sich etwas Titanisches einen Juckreiz mit Hilfe des Zeltdachs fort. Die Geräuschkulisse lenkt nicht unerheblich von den Rednern ab, die Leinwand wölbt sich unter der Zugluft.

„Das ist wie ein Porno für Wale“ kommentierte Ben Hammersley, Autor und Editor-at-large der britischen Wired, trocken.

Noch dazu ist vieles kleiner in diesem Jahr. Nicht nur der Hauptraum ist geschrumpft, sondern auch die Zahl der Teilnehmer. Treffen sie sich alle im Picnic-Club zum Mittagessen, liegt die Vermutung nahe, dass wirtschaftliche Gründe den Umzug bewirkt haben. Saßen wir im vergangenen Jahr im imposanten Gasometer, so sind diesmal nicht genügend Sitzplätze für alle vorhanden im Bar-Zelt. Laut ist es noch dazu.

Ja, das sind eben die Wehen eines Leistungsbruchs. Ob sie am Ende den Abschied von der Picnic bedeuten, ist offen. Denn die Inhalte stimmten weitestgehend auch in diesem Jahr. Nicht jeder Redner ist top – aber es sind eben auch diesmal viele Menschen auf dem Podium, von deren Projekten ich zuvor noch nie gehört habe.

Matthias Hollwich vom Architektenbüro HWKN, zum Beispiel. Sein Haus beschäftigt sich mit den Folgen einer alternden Gesellschaft für den Hausbau und Nachbarschaften. Leider ist Hollwich – wie bemerkenswert viele Architekten – kein guter Redner. Mehrere Projekte warf er ein, zum Beispiel Boom in Palm Springs, wurde aber leider zu wenig konkret. Es war mehr eine Rechercheanregung. Ein schönes Schwirrwort hatte er aber parat: „Stealth Care“ an Stelle von Health Care – künftig müssten Altenheime gerade aussehen und funktionieren wie das Gegenteil von Altenheimen heute.

Oder Emer Beamer, die Mit-Gründerin von Butterfly Works – einem Design Studio, das versucht, die Welt zu verändern. Sie schilderte die Geschichte von GetH2O, einem Spiel, das versucht den Bewohnern von Slums die Folgen ihres Verhaltens vor Augen zu führen. Zunächst als Brettspiel entwarf Butterfly Works das Grundkonzept eines Armenviertels, dem das Wasser ausgeht. In einem Biotop aus Kriminalität, Bestechung und Armut muss der Spieler sich entscheiden, ob er böse sein will oder gut. Das Brettspiel wurde zunächst in der westlichen Welt verkauft, die Gewinne daraus finanzierten die Verteilung des Spiels in Kenia. In einem nächsten Schritt wurde ein Handy-Spiel entwickelt. Dieses kann allein gespielt werden oder in der Gruppe, die sich analog vor Ort trifft. Und die Handys? Werden gespendet: Es handelt sich um abgelegte Geräte aus der westlichen Welt. Die Reaktionen, sagt Beamer, seien sehr positiv: Viele Jugendliche bedankten sich dafür, dass ihr Leben Teil eines Spiels ist – und sie gleichzeitig realisieren können, was ihr Verhalten bewirkt.

Doch es gab auch Vorträge, die mich im Nachinein rätseln lassen: Sorgen die neuen technischen Möglichkeiten vielleicht dafür, dass wir uns nur Augenpulver gönnen und nicht mehr Nachdenken? Mehrere Redner präsentierten spektakuläre Daten-Grafiken. So zauberte der unterhaltsame Carlo Ratti, Chef des Senseable Labs am MIT, wundervolle Auswertungen von Mobilfunkinformationen aus Singapur an die Wand. Wann sich was aus welchen Gründen verändert – faszinierend.

Nur: Die meisten Redner zogen kaum Schlüsse aus den Datenbergen. Dass die Mobilfunkaktivität in Rom nach oben geht, wenn Italien Weltmeister wird – überrascht das jemand? Es scheint, die technischen Möglichkeiten der Visualisierung erschlagen die Analyse. Möglicherweise ist dies nur ein Zwischenschritt und in ein, zwei Jahren wird alles gut. Doch derzeit ist es bemerkenswert, wie oft die sich verwandelnden Datenberge in Präsentationen auftauchen – und wie wenig Substanz diese Vorträge haben.

Wohltuend war da als Kontrapunkt der Mexikaner Ricardo Àlvarez, Innovationschef des Projektes ProMexico. Er soll – wann hat es das seit dem Ende des Kommunismus gegeben? – eine Stadt erschaffen. Vor 2 Jahren wurde er gefragt und plant nun. 60% der Mexikaner sind unter 30 – da rollt ein Wohnungsproblem heran. Deshalb soll er nun den „Prototype future urban development for Latin America“ erschaffen -ein lebendes, urbanes Labor. Die Standortsuche ist vor dem Ende, vielleicht schon 2012 geht es los.

Ergebnisse gibt es noch keine. Aber das ist typisch Picnic. Wer nicht bis morgen denkt, sondern bis übermorgen, fordert von seinen Zuhörern mehr als nur Mitschreiben – Nachdenken ist gefordert. Und das ist ganz schön schwer, wenn der Wind einem da Gefühl gibt, jede Sekunde könnte das Dach wegfliegen.

Fotos: Maurice Mikkers/Picnic.


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