Da ist es wieder, das Picnic-Feeling. Dieser Moment, da jemand auf der Bühne steht, dessen Vortrag man im Kopf quittiert mit einem innerlich heftig hallenden:
„WIEIRREISTDASDENN?“
Am zweiten Tag des Innovationsfestivals in Amsterdam lieferte Joost Bakker solch einen Moment. „Eco-Artist“ ist er – und Restaurantbetreiber wie –erbauer. Oder besser: Er baut temporäre Häuser, die Essen erzeugen und in denen dieses verzehrt werden kann.
Aus recyclebarem Material erschafft er Gebäudekomplexe in und auf denen Obst und Gemüse wachsen. Und außerdem befindet sich darin je ein Restaurant, das ausschließlich die Produkte des Hauses verarbeitet. „Unsere Regel ist: Alles muss am Morgen noch am Leben gewesen sein“, sagt Bakker. Am pflanzlichen Leben, muss hinzugefügt werden, denn Fleisch gibt es nicht. Ach ja, die Möbel werden aus gebrauchten Surfbrettern gebaut.
Die Abfälle der Landwirtschaft, oder besser: Hauswirtschaft, dienen als Energiequelle – das CO2-neutrale Restaurant ist da. Fast. Denn es bleiben die menschlichen Abfälle aus der Toilette. Die sollen in einem Greenhouse, das bald in London stehen soll, ebenfalls genutzt werden – als Dünger für die Beete.
Der Umzug der Picnic in die NDSM-Werft hat solche Momente ein klein wenig seltener gemacht. Das liegt nicht daran, dass die Vorträge grundsätzlich schlechter geworden wären. Nein, die Picnic kommt ihrem Anspruch ein Innovations-Festival zu sein, einfach ein wenig näher. Die Besucher verteilen sich viel weiter als zuvor, es scheint, die kleinen Workshops gewinnen an Bedeutung, vier oder fünf laufen fast immer parallel – und das setzt die Veranstaltung ab von vielen anderen.
Ein sehr interessanter Workshop eröffnete für mich den zweiten Picnic-Tag. Er drehte sich um Slacktivism, also die Möglichkeit sich ohne viel Aufwand digital für ein Anliegen zu begeistern und es zu unterstützen – im kleinsten Fall mit einem schlichten Klick. Das kann durchaus problematisch sein, sagte David Langley, Forscher am niederländischen TNO-Institut. „Jeder Klick auf das Greenpeace-Video, das sich gegen Nestlé richtete unterstützte das Greenpeace-Anliegen – auch wenn der Betrachter des Videos vielleicht anderer Meinung war.“
Doch jede digitale Kampagne verändert die Markenwahrnehmung, ermittelte TNO. Bei einer tiefenpsychologischen Studie mit 200 Verbrauchern stellte sich heraus, dass eine fiktive Kampagne, die sich gegen eine Molkerei richtete, das Ansehen des Unternehmens schädigte – egal, wie es reagierte. Am stärksten litt das Image, wenn die Molkerei nicht reagierte. Knapp dahinter war der Versuch, den Angreifer selbst zu attackieren. Letztlich also blieb keine andere Wahl, als auf die Forderungen einzugehen. Allerdings kann es hilfreich sein, diese Ansprüche vorher inhaltlich zu diskutieren.
Auf dem schaukelnden Boot der Picnic ging es dann um die Zukunft des Fernsehens. Insbesondere Howard Goldkrand von der SoundLab Cultural Academy und der wie immer brillante Ben Hammersley, Editor at Large der britischen Wired, sorgten für den Schwung.
Goldkrand hat mit seinem Team ein Alternat-Reality-Spiel für die Serie „Dexter“ umgesetzt und stieß schnell auf das Problem der globalen Fan-Erwärmung: Obwohl die jeweils aktuelle Staffeln in Europa noch gar nicht lief, wollten Fans dort trotzdem mitmachen. Also arrangierte Goldkrand die Spielmechanik entsprechend.
Für Hammersley ist dies ein Vorbote des Umbruchs im Rechtebereich: „Die Sender realisieren, dass ihre größten Fans während der Ausstrahlung online sind.“ Dies stelle schon in den USA ein Problem da: Das dramatische Ende einer Folge tweeten die Zuschauer in New York schon heraus, wenn es in San Francisco noch Stunden bis zur Ausstrahlung sind. „Dies ist eine größere Gefahr für das Geschäftsmodell von TV-Produzenten als Raubkopierer.“
Eine Lösung hat er dafür auch nicht parat. Letztlich müsste jede neu ausgestrahlte Sendung eben weltweit im Web im gleichen Moment zu bekommen sein.
Doch ist Hammersley kein Freund des Fernsehens: „Ein Gerät mit nur einer Einsatzmöglichkeit, das an meine Wand genagelt ist? Das ist pervers.“ Bitte beachten Sie die britische Ironie in dieser Aussage.
Die Finanzierung des Fernsehens, so wie wir es kennen, wird aber nicht nur durch globale Fankulturen untergraben. Wenig Chancen sahen die meisten auch für die Idee des TV-Werbespots. Er beruhe, wie Print-Werbung, auf Lügen, griff Hammersley an: „So lange niemand das System hinterfragt und alle daran glauben, gibt es kein Problem. Wenn jemand das tut, kollabiert das System.“ Durch das Netz werde transparent, wie sehr sich Zuschauer tatsächlich für ein Programm interessieren.
Oft sei dieser Wert erschreckend niedrig, pflichtete ihm Seth Shapiro von Amsterdam Media bei. Time Warner betreibe auf Hawaii mit seinem zeitlich wie räumlich isolierten Zuschauermarkt eine intensivere Einschaltquotenforschung als im Rest der USA. Die Ergebnisse würden nicht veröffentlicht, denn „sie sind schockierend“.
Ähnlich klare Worte in eine andere Richtung wählte Viktor van de Chijs vom Architekturbüro OMA (zu dem auch Rem Koolhaas gehört). Er nahm die Thesen Richard Floridas auseinander – oder besser deren Folgen. Der Glaube, die kreative Klasse könne jede Stadt zum Guten verändern habe absurde Blüten getrieben. Städte, die nicht mal ansatzweise kreativ seien, hätten sich dies trotzdem auf die Fahnen geschrieben (spontan dachte ich an das Ruhrgebiet, das auch ernsthaft glaubt, es sei ein toller Standort, der junge Kreative aus der ganzen Welt locken könnte).
Und selbst Orte, die tatsächlich eine gehörige Menge Kreative angezogen hätten, würden nicht zwangsläufig erblühen. Portland, in einem Kreativitätsindex weltweit an Platz 16 rangierend, sei so ein Fall. Die Stadt kämpfe mit erheblichen finanziellen Problemen. Im Gegenzug sei die kreativste Gegend der USA eine ohne tolle Büros, schöne Innenstädte und kulturelle Infrastruktur: das Silicon Valley.
Interessant auch: „In Europa tragen kreative Unternehmen weniger zu R&D und Sales bei als in den USA. Das liegt möglicherweise daran, dass Technologie und Kreativität in Europa stärker getrennt sind.“
Statt allein auf die Ansiedlung Kreativer zu zielen forderte van de Chijs diese in die Lösung der Probleme von Kommunen einzubinden. So entstand bei OMA die Idee eines komplett neuen Energienetzes für Europa.
Und dann waren da noch einzelne Ideen und Sätze der Picnic11:
Sneakers, aus denen nach Ablatschung Pflanzen wachsen.
Das Londoner Stadtspiel Chromaroma.
„Weniger als 1% der Millenial-Generation würde ein Call Center anrufen.“ – Amanda Mooney, Edelman Shanghai
Das BMW Guggenheim Lab als neue Möglichkeit, Bürger über die Entwicklung ihrer Stadt ins Gespräch zu bringen (soll demnächst in Berlin Station machen).
„Vor 20 Jahren haben sich 80% der Menschen den Job oder die Firma ausgesucht, heute suchen sich 64% erst die Stadt aus.“ – Charles Landry, Comedia
Asthmapolis – eine App, die in Echtzeit die Luft aus Inhalatoren analysiert, um Athmatiker vor schlechter Luft zu warnen
Tja, und Lawrence Lessig, natürlich. Doch den zu zitieren, das wäre die Zerstörung eines Vortragskunstzwerks.
Ein ständiger Höhepunkt war wieder einmal Moderator Pep Rosenfeld, Mit-Gründer des Comedy-Theaters Boom Chicago, das seit 1993 in Amsterdam existiert. Zeit, da mal vorbeizugehen. Erst recht, weil sich das Programm an diesem Abend den Titel trug „Forever 9/11“. Kann man einen ganzen Abend Witze über den 11. September und seine Folgen machen? Ja, kann man – es war großartig.
Noch dazu ist bemerkenswert, dass Boom Chicago nicht nur alle digitalen Möglichkeiten zur Kommunikation mit den Zuschauern nutzt, sondern Technologie ein normaler Teil des Programms ist. Inhaltlich taucht Social Media selbstverständlich auf, aber nicht als Ziel des Witzes, sondern als Alltagsmittel. Genauso aber nutzt das Trio das Web für die Show selbst.
Einer der Zuschauer wurde in einer Impro-Einlage zum Opfer einer Sicherheitskontrolle. Seinen Namen musste er angeben, seinen Beruf und seine Lieblingskneipe. Dann führte ihn Rosenfeld auf die Bühne zum Sicherheitsinterview. Und er konfrontierte ihn mit Details aus seinem Leben: Alter, Beschreibung seiner Firma, wie es rund um jene Kneipe aussieht. Der arme Kerl war sprachlos, konnte er doch nicht den Bildschirm über sich sehen: Da googelte, streetviewte und facebookte sich ein Helfer durch die frei verfügbaren Informationen.
Boom Chicago hat sogar ein Programm allein über Social Media im Angebot und ich überlege, ob nicht das allein einen Trip nach Amsterdam wert wäre. Wer immer in die Stadt kommt – Boom Chicago rockt! So wie in diesem Video:
Rosenfeld war es auch, der verriet, dass der Umzug der Picnic auf das neue Gelände finanzielle Gründe hatte. „Wir sind wie Picnic 2010 – nur ohne die Zuschüsse“, tweetete er.
Und es geht doch auch mit weniger Geld. Auch wenn die neue Örtlichkeit nicht so schön ist wie die Westergasfabriek – es waren wieder drei kopfspülende Tage, voll mit neuen Ideen und abgefahrenen Projekten. Und eine Fährfahrt zur Konferenz hat man ja auch nicht alle Tage.
Nur eines mag ich mir nicht vorstellen: Was, wenn es geregnet hätte? Dann wäre die Zeltstadt zum trüben Ort mutiert. Bleibt die Picnic wirklich an der Werft, betreibt sie Konferenz-Zocken. Denn bei schlechtem Wetter ist eine solche Veranstaltung dort eigentlich nicht auszurichten.
Aber egal, das Wetter war ja nicht schlecht. Also, bis zu dem Moment, als unsere Fähre Richtung Hauptbahnhof ablegte – da begannen Blitze zu zucken. Ein paar Stunden oder einen Tag früher und dieser Artikel hätte sich vermutlich ganz anders gelesen.
Kommentare
teekay 17. September 2011 um 12:16
Danke fuer die interessante Uebersicht!
Blogposting 09/18/2011 « Nur mein Standpunkt 18. September 2011 um 11:27
[…] Picnic, Tag 2 & 3: Blühende Sneakers und eine Abrechnung mit Richard Florida […]
Katharina 19. September 2011 um 1:57
Danke, werde nächstes Jahr da auch mal hin.
RSS-Reader-Roundup | 19. September 2011 | Bastian Dietz 19. September 2011 um 7:01
[…] Picnic, Tag 2 & 3: Blühende Sneakers und eine Abrechnung mit Richard Florida […]
Kundendienst per Social Media – die Traurigkeit des Erfolgs 26. Oktober 2011 um 14:28
[…] auf die Idee, ein Call Center anzurufen”, sagte Amanda Mooney von Edelman Shanghai auf der Konferenz Picnic. Dies ermittelte der PR-Konzern im Rahmen seines “Trust […]