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Der Branchendienst Meedia ist nicht dafür bekannt, Bemerkungen zwischen den Zeilen liegen zu lassen. Mehr noch: Er hat eher einen Ruf, solche Kleinigkeiten schon mal zu überdrehen.

Gestern nun ist Meedia etwas entgangen. Etwas, wie ich finde, sehr Erstaunliches: eine Strategiewende bei meinem ehemaligen Arbeitgeber Handelsblatt.

Bei dem ist nun auf der kaufmännischen Seite Zeit-Geschäftsführer Rainer Esser der starke Mann. Und den durfte Meedia interviewen. Leider fiel keine einzige Frage, die eine drohende Online-Konkurrenz durch das neue WSJ.de auch nur erwähnte. Auch dass Esser ungestraft behaupten durfte, das Online-Angebot des Handelsblatts beschränke sich auf Wirtschaftsnachrichten (wenn gleichzeitig am frühen Abend der RSS-Reader Sportschlagzeilen en masse liefert) ist eine lässliche Sünde.

Nein, den eigentlichen Knaller des Gesprächs lieferte Esser hier:

„Haben Sie den Schwund analysiert?
Es sind Firmenabos, die weggefallen sind. Eine Deutsche Bank hatte früher ein paar Hundert Abos und hat heute eben nur noch Hundert. Bei Privatkunden hat das Handelsblatt keine Auflage eingebüßt.


Die Firmenabos lassen sich nicht zurückholen.
Kaum. Deshalb werden wir mehr Privatkunden gewinnen.

Doch der einzelne wirtschaftsinteressierte Leser wendet sich zumindest als Käufer von gedruckten Produkten ab. Das belegen alle Auflagenstatistiken.
Das sehe ich nicht so. Wir haben mit Roland Tichy und Gabor Steingart zwei der profiliertesten deutschen Chefredakteure. Die Redaktionen und das Auslands-Korrespondentennetz sind sehr stark.  Die Auflage beider Titel wird in absehbarer Zeit wieder wachsen.“

Mit diesen Sätzen vollführt Esser eine 180-Grad-Wende zu dem, wofür das Handelsblatt eigentlich stehen wollte: die Zeitung für Entscheider. Die Manager wurden über die Jahre hinweg zur fetischgleichen Zielgruppe erhoben. Denn nach dem Platzen der Dotcom-Blase um 2001 war irgendwie klar, dass die Zahl der Privatanleger nicht so steigen würde. Also positionierte sich das Handelsblatt als das Medium, das die Führungskraft von Welt gelesen haben muss (wie sehr dieser Anspruch inhaltlich erreicht wurde, ist eine andere Frage).

Auch Gabor Steingart trat mit diesem Credo als Chefredakteur an. Noch bei der Präsentation der – komplett misslungenenIpad-App Handelsblatt First hieß es: „Die Handelsblatt-Redaktion bedient so das Informationsbedürfnis der mobilen Entscheider…“

Und nun – die Wende. Privatanleger sollen die Auflage hochbringen. Das ist ein nicht unerheblicher Einschnitt, der heute schon zu betrachten ist. Der tatsächlichen Titelseite ist ein Cover vorgeschaltet, das im unteren Bereich explizit auf Anlagethemen eingeht.

Doch kann das tatsächlich die Auflage steigern? Die aktuelle Börsenentwicklung wird die Zahl der Aktienkäufer in Deutschland nicht steigern. Das heißt nicht, dass überhaupt niemand mehr privat am Markt agiert – es gibt noch immer viele, die das tun und viele, die dabei Geld machen, statt es zu verlieren. Aber dies ist eine besondere Zielgruppe, zu besichtigen bei den seit einigen Jahren durch die Republik vagabundierenden Anlegermessen.

Meist sind es Herren in einem graumelierten Alter, sie bevorzugen Funktionskleidung und sind recht bodenständig. Aber: Sie haben Ahnung. Und zwar so was von. Diese hochkompetente Zielgruppe zu erreichen, wird sehr, sehr schwer werden. Und: Sie deckt sich eben überhaupt nicht mit der Vorstellung vom Luxusgüter kaufenden Entscheider. Einerseits dürften die ausgedehnten politischen Kommentare für Privatanleger wenig interessant sein. Auch sind Mittelstands-Themen, so die Mittelständler nicht an der Börse sind oder öffentliche Anleihen begeben, nicht interessant. Im Management sieht das häufig komplett umgekehrt aus.

Auch aus Anzeigensicht wird diese Wende problematisch. Wer auf die Entscheider in der Wirtschaft zielt, kann höhere Preise verlangen. Das Handelsblatt fordert in Print – und erst recht online – exorbitante Aufschläge, weil es eben behauptet, von Führungskräften gelesen zu werden. Man darf gespannt sein, ob sich das auswirken wird.

So hat Rainer Esser zwischen den Zeilen etwas verkündet, was einen nicht unerheblichen Wandel für die Zeitung bedeutet. Ob so die abstürzende Auflage verbessert wird, halte ich für fraglich. Spannend wird auch zu beobachten sein, was denn Chefredakteur Steingart davon hält. Er gilt als jemand, der sich lieber mit den Großen und Mächtigen der Welt trifft, als mit Kleinanlegern in grauen Messehallen. Und deshalb hat das Meedia-Interview von gestern auch den Zündstoff für den Machtkampf von morgen.


Kommentare


Lutz 19. August 2011 um 16:12

Wobei Privatkunden nicht zwangsläufig Privatanleger sein müssen.

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Andreas Kunze 20. August 2011 um 9:26

Wenn mit Privatkunden die Privatanleger gemeint sind, wird das ein Eiertanz: Um vom Privatanleger ernst genommen zu werden, müsste eine Zeitung den Anbietern von Finanzprodukten auf den Füßen stehen, also kritisch die Angebote beleuchten. Damit verscherzt es sich dann die Zeitung aber sehr schnell mit den Firmen, die noch Abos haben. Die lesen nicht so gerne, dass ihr Ramba-Zamba-Cash-Crash-Power-Zertifikat für den Anleger eine teure Wundertüte ist.

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Ver waltung 21. August 2011 um 10:54

Wer ein Firmen-Abo hat, ist ein Verwaltungs-Stromberg und höriger Handlanger in der aufgeblähten Hierarchie. Der tut was ihm gesagt wird und ist eben kein echter Entscheider. Wenn man einen Minister fragt, entscheidet er als einziger im Ministerium mit 20.000 Mitarbeitern.

Interessant wäre, die IVW-Zahlen zu nennen. Was sagt die Media-Analyse der Werbewirtschaft zum Handelsblatt ?

Online ist evtl eine ganz andere zusätzliche Zielgruppe als Print. Da müssen die Werbepreise nicht notwendig höher sein. Bei Print kann man Rolex, BMW und Daytrading-Sites bewerben. Bei online vielleicht eher Reiseportale und noch mehr Daytrading-Sites.

Auch geht es hier nicht um Spiegel und Bild sondern viel kleinere Informations-Märkte. Es gibt genug Leute, die teure Börsenbriefe usw. kaufen. Hin und wieder werden Gelder frei und müssen reinvestiert werden. Dank Regierung und wegschauender Presse wird die Anzahl nicht höher. Aber solche Leute gibt es und sind auch bereit, zu zahlen und die haben auch ein Ipad und ein gutes Auto in der Garage und ein Haus statt Wohnung.

Lokalradios haben auch große Mantel-Anteile während lauer Sendezeiten. Im TV läuft dann Kirche, Erotik und Shopping. Ohne Agenturmeldungen wären die Tageszeitungen nur halb so groß. Von daher sind Sportmeldungen im Ticker vielleicht nicht anzukreiden wenn man sie extern ohne Eigen-Aufwand der Redaktion bekommt.

Korrekt ist allerdings, das man ruhig nach der WSJournal-Konkurrenz hätte fragen können.
Relevante Infos nicht Weglassen gehört auch zu den Korrektheits-Regeln der Presse die wohl kaum noch wer kennt.

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Rainer 21. August 2011 um 18:58

Sie sind beim Handselsblatt mittlerweile sowieso komplett durchgedreht. Sie verschenken momentan gerade Gratis-Abos für sechs Monate („Ohne Verpflichtung, endet automatisch“) per Kundennewsletter einer Kleinverbraucher-Bank.

Das ist entweder irres Kamikaze oder vollkommen verzweifelt.

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Stephan Dörner 22. August 2011 um 3:50

Mit Privatkunden sind doch hier einfach nur Nicht-Firmen-Abos gemeint.

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joha 22. August 2011 um 9:43

Privatkunden = Keine Firmenkunden = Zeitung am Frühstückstisch statt im Büro. Über Privatanleger lese ich da wie die Vorkommentatoren nichts raus.

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