Skip to main content

In der Serie “Netzwert Reloaded” verfolge ich jeden Montag, was das Team von Handelsblatt Netzwert vor exakt 10 Jahren über das digitale Geschäft schrieb. Mehr dazu hier. Alle Netzwert-Reloaded Folgen finden Sie hier.

Es gibt ihn immer noch. Nur hat er jetzt einen Manager, der Mahir Cagri.

Damals, im frühen November 2000 hatte er gerade seine 15 Minuten Ruhm hinter sich. War er zu einem der ersten richtig großen Memes geworden, also jenen Web-Phänomenen, die eine kurze Zeit viele Menschen bewegen.

Dafür musste der türkische Journalist nicht viel investieren. Er setzte eine schlichte Homepage mit radebrechendem Englisch auf: „I kiss you. I like music, I have many many music enstruments my home I can play.“ Und dann war da noch das merkwürdige Hobby: Fotos von Frauen machen. Wie ein Virus breitete sich die Kunden von absurden Typen aus Istanbul aus, viele machten ihn nach, er landete in den großen US-Talkshows und natürlich entstand noch ein Song:

Mahir lieferte uns bei Netzwert den Anlass für eine Geschichte über virales Marketing – damals wie heute der feuchte Traum der Werber. Und damals wie heute gilt: Virale Wirkung lässt sich nur selten vorhersagen. Entscheidend ist nicht das eingesetzte Geld – sondern die Idee.

So sah das auch Seth Godin, damals der erste bekannte Autor, der seine Bücher im Internet verschenkte – und trotzdem Geld machte.

Das was wir heute Multiplikatoren nennen waren für ihn die „Nieser“: „Sie haben den Virus und verbreiten ihn weiter. Diese Leute zu erreichen ist die Kunst“, sagte er im Interview mit Netzwert. Und er sah voraus, was heute Wirklichkeit ist: die Gefährdung des klassischen Buchverlags.

„Ich würde Amazon mein Manuskript zur Verfügung stellen und die würden es auf einer Web-Seite vermarkten. Wenn Bestellungen eingehen, druckt Amazon genau die Zahl der Bücher, die angefordert wurden. Den Gewinn aus dem Verkauf würden wir uns teilen. Das wäre sicher mehr, als bei klassichen Verträgen mit Verlagen herausspringt. Und selbst der Kunde profitiert: Er bekommt das Buch viel günstiger als in einem Laden.“

Amazon spielt in diesem Markt zwar keine Rolle – das Modell aber existiert heute. Godin hat einfach ein gutes Gespür. Weshalb sein Blog auch heute noch Pflichtlektüre für alle Marketing-Leute sein sollte.

Wahlkampf war in jenen Tagen auch. In den USA. Das Duell: Technik-Verweigerer George W. Bush gegen Al „Ich habe das Internet erfunden“ Gore. Es waren die IT-Firmen, die jenen Wahlkampf zum bis dahin teuersten der US-Geschichte machten. Microsoft, AT&T, AOL, selbst Marc Andreessens relativ kleines Loudcloud – sie alle spendeten und spendeten und spendeten – je größer sie waren, desto eher zu Gunsten der Republikaner. Wir kennen das Ergebnis.

Die deutschen Volksvertreter grübelten derweil um die Frage, ob es nicht einen Internet-Minister bräuchte. Auch die Wirtschaft forderte dies, zum Beispiel der damalige Bitkom-Chef Bernhard Rohleder: „Wir wollen einen Minister, und zwar mit eigenen Kompetenzen und eigenem Apparat.“

Wer könnte den Job machen? BDI-Chef Hans-Olaf Henkel warf den damaligen Staatssekretär Sigmar Mosdorf ins Rennen (heute ist dieser in der PR-Branche daheim). Ein anderer Staatssekretär, Wolf-Michael Catenhusen, schien dagegen zu sehr an Biotechnologie interessiert. Dann gab es noch einen SPDler namens Jörg Tauss – zu jener Zeit neben Brigitte Zypries so ziemlich der einzige Politiker, der kundig über das Internet sprechen konnte. Staatsminister Hans-Martin Bury schien auch chancenfrei: Seine D21-Initiative galt als blässlich und unbedeutend.

Netzwert folgerte damals:

„Ein Außenseiter könnte das Dilemma lösen. Er müsste erfahren und technikfreudig sein. Wer könnte das sein? Unter der Hand fällt in der Szene immer wieder der Name des Geistes, der als erster nach einem Minister rief: der BDI-Chef Henkel selbst. SPD-Experte Tauss: ,Ein Mann von seiner Statur wäre für das Amt gerade recht.’… Der frühere IBM-Chef gilt als Querdenker. Und auf Partei-Empfindlichkeiten hat er nie geachtet. Henkel verhält sich derweil still, dementiert das Gerücht um sein Interesse an dem Posten aber ausdrücklich nicht.“

Doch der Posten kam nie, weder zu Henkel noch zu jemand anders. Und noch immer halte ich das für einen großen Fehler. Denn an dem Wirrwarr der Zuständigkeiten, an der tiefen Inkompetenz in digitalen Fragen quer durch alle Parteien hat sich bis heute nichts geändert. Irgendwann meldeten sich jene Politiker, die online daheim waren, bei uns als Quellen ab. Die Beschäftigung mit dem Internet sei in Parteien „nicht karriereförderlich“.

Die Folgen dieser Fehleinschätzung baden wir noch heute aus.

Lesen Sie kommende Woche: Fernsehen mit Internet-Anschluss – die nicht enden wollende Versprechung.


Kommentare


Hackworth 8. November 2010 um 18:17

„zu jener Zeit neben Brigitte Cypries so ziemlich der einzige Politiker, der kundig über das Internet sprechen konnte.“

Moment – Brigitte Zypries? Brigitte „Was sind jetzt nochmal Browser“ Zypries?

Antworten

Thomas Knüwer 9. November 2010 um 10:16

Yep. Unglaublich aber wahr: Damals hatte sie noch Ahnung.

Antworten

Autorentypen « Technikverweigerer, Typen, Strukturfanatiker, Schmierpapier « Tors Welt 17. Juli 2012 um 9:41

[…] Gegenteil zum Blogger dürfte wohl der klassische Internet- und Technikverweigerer sein. Apple ist für ihn eine Frucht und für ein 10-Finger System interessiert er sich auch nicht. […]

Antworten

Du hast eine Frage oder eine Meinung zum Artikel? Teile sie mit uns!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*
*