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In der Serie “Netzwert Reloaded” verfolge ich jeden Montag, was das Team von Handelsblatt Netzwert vor exakt 10 Jahren über das digitale Geschäft schrieb. Mehr dazu hier. Alle Netzwert-Reloaded Folgen finden Sie hier.

Angela Merkel kommt spät. Sie wirkt verwirrt. Und deplatziert.

„Wo sind die Diskutanten?“, fragt sie.

Irritiert bis beleidigt wenden sich ihr acht Personen zu – die „Diskutanten“ sitzen vor ihr.

In dieser letzten Oktoberwoche des Jahres 2000 ist Merkel noch nicht Kanzlerin, sondern CDU-Chefin. Netzwert hat sie gewonnen zu einer richtig gut besetzten Gruppendiskussion zur Lage der digitalen Wirtschaft in Deutschland. Auch der damalige Bundeswirtschaftsminister Werner Müller ist dabei, dazu Consors-Gründer Karl Matthäus Schmidt, Intershop-CEO Stephan Schambach, ACG-Lenker Cornelius Börsch und – als Gastgeber – Datango-Gründer Alexander Artopé.

Merkel weiß wenig mit den Personen anzufangen. „Ach, Sie sind der von Intershop“, reagiert sie auf die persönliche Vorstellung von Schambach. Das Prinzip der Online-Bank muss ihr von Schmidt erst persönlich erklärt werden.

Und ohnehin wirkt sie sichtlich unwohl im fast baufälligen Sitz von Datango am Prenzlauer Berg. Müller überspielt das mit einer gewissen Kumpeligkeit besser, irritiert die Anwesenden aber zu Beginn mit einem Gedenken an 50 Jahre Frieden in Deutschland.

So entstand dann eine Diskussion, wie sie vielleicht auch heute noch zu führen wäre. Die Gründer bezogen klar Position: Die Politik hilft ihnen nicht – also ist sie ihnen größtenteils egal. „Wir haben bewusst auf Fördermittel verzichtet und das kann ich nur jedem raten“, sagte Schambach. „Wir waren trotz der Politik erfolgreich“ ergänzte Schmidt.

Und die Politik? Lenkte ab. Müller mit einer Lobrede auf Deutschland, Merkel forderte eine Interessenvertretung der digitalen Branche. Gewisse Sätze sind so deckungsgleich mit dem Jahr 2010, dass die Lernfähigkeit der Volksvertreter ernsthaft bezweifelt werden muss. Beispiel Merkel:

„Generell problematisch ist, dass im Augenblick die Geschwindigkeiten so auseinanderfallen. In der Informationsgesellschaft gibt es eine unglaubliche Beschleunigung, auf die letztlich die politischen Abläufe, die Rechtsprechung noch keine Antwort haben. Ein zweiter Punkt ist, dass die Masse der Regelungen in Deutschland noch immer auf die Anforderungen der klassischen Industriegesellschaft ausgerichtet ist.“

Und wenn nichts mehr geht, geht immer noch ein Ausschuss:

„Wir haben eine Internet-Kommission eingesetzt und mit Thomas Heilmann einen Internet-Beauftragten berufen.“

Ein Beispiel für den Kampf der Kulturen war schon damals das Thema Green Card. Die Experten, die 2000 ins Land geholt werden sollten, mussten mindestens 100.000 DM verdienen – zu viel für ein Startup, kritisierte Schambach.

Müller: „Glauben Sie mir, wir haben das schon sorgfältig geprüft. Mir wurde gesagt, es herrscht ein Mangel an hoch qualifizierten Spezialisten. Und solche Fachleute verdienen jenseits der 100.000 DM.“

Schambach: „Aber bei Startups wird es oft so gemacht, dass ein Gehalt von 60.000 bis 65.000 DM und Aktienoptionen geboten werden.“

Müller wusste keine Antwort mehr.

Immerhin aber gab die Sache Merkel wohl zu denken. Eine Woche später erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ein Artikel von ihr, in dem sie eine Anpassung der Gesetze an die Bedürfnisse von Digital-Gründern forderte. Passiert aber ist nichts.

Drei weitere Personen, die wir heute noch kennen, tauchen in jener Netzwert-Ausgabe vom 30.10.00 auf: Marc, Alexander und Oliver Samwer. Sie waren damals noch die Alando-Wunderkinder, die ihr Online-Auktionshaus flott an Ebay verkauft hatten. Nun gründeten sie Jamba, den Klingeltonverkäufer. 54 Millionen DM Startkapital gaben dafür Partner aus der alten Wirtschaft wie Debitel, Media-Saturn und Electronic Partner.

Und schon damals machten sich die Samwers nicht nur Freunde. Der Artikel beginnt so:

„Fragte ein Besucher in den Räumen des Berliner Inkubators Econa in den vergangenen Monaten nach dem einzigen Büro, an dem kein Firmenlogo pappte, senkte sich die Stimme der Econa-Mitarbeiter, als ginge es um eine Verschwörung: ,Das sind die Samwers. Die schließen immer ab – von innen!“

Erstaunlich die Zahl der Themen jener Netzwert-Ausgabe, die deckungsgleich mit dem Jahr 2010 sind. Micro-Payment, zum Beispiel, war damals nicht möglich – und ist es heute noch nicht. Lebensmittelbestellungen im Netz wurden von Tesco, Kaisers und Otto getestet. Und der aufkommende Begriff „Silver Surfer“ war einen Artikel wert.

Zum ersten Mal listete Nielsen Netratings die meistbesuchten Seiten in Deutschland auf. Die Liste:

1. T-Online
2. Microsoft
3. Lycos
4. Yahoo.de
5.  Yahoo.com
6. Web.de
7. MSN.com
8. AOL
9. MSN.de
10. Freenet

Und dann war da noch „der Koffer“. Denn jenes Gespräch mit Merkel, Müller & Co. musste ja abgetippt werden. Das Hauptstadtbüro des Handelsblatts schickte deshalb – per Taxi – „den Koffer“ zu Datango.  Er enthielt ein halbes Dutzend Mikros – und einen Kassettenrekorder.

Das Ergebnis jener Aufzeichnung war nicht zu gebrauchen. Ich hatte glücklicherweise meinen handtellergroßen MD-Rekorder mit einem Mikro laufen – aus dieser Aufnahme wurde dann der Text.

Irgendwie auch ein Zeichen der Zeit.

Lesen Sie nächste Woche: Wie Hans-Olaf Henkel fast im Internet gelandet wäre.


Kommentare


Meine Skepsis über Merkels Internet-Treffen 4. Juni 2012 um 10:47

[…] waren sie – damals noch CDU-Chefin – und Wirtschaftsminister Werner Müller Teil einer Diskussionsrunde mit Startup-Gründern, die wir mit Netzwert organisiert hatten. Merkel kam spät und war exakt gar nicht vorbereitet. Doch sie hörte zu – und übernahm die […]

Antworten

Es wird nicht besser – es wird schlimmer: ein Rant zum Technologiestandort Deutschland 4. Dezember 2014 um 18:25

[…] das tut Angela Merkel nicht. Weder ist bei ihr Wissensgewinn erkennbar (im Gegensatz zu ihrem bemerkenswerten Verhalten im Jahr 2000), noch installiert sie kompetente Fachleute. Und deshalb ist sie für mich dumm, weil sie ihre […]

Antworten

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