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In der Serie “Netzwert Reloaded” verfolge ich jeden Montag, was das Team von Handelsblatt Netzwert vor exakt 10 Jahren über das digitale Geschäft schrieb. Mehr dazu hier. Alle Netzwert-Reloaded Folgen finden Sie hier.

Wenn sich Bernd Ziesemer, im Jahr 2000 noch Vize-Chef des „Handelsblatts“, aufregte – dann richtig. In jenem Oktober brach es eines Tages aus ihm heraus. Wie sehr er genervt sei von der Flut der Pressemitteilungen aus der digitalen Wirtschaft, der Terroranrufe von PR-Agenturen und der nicht enden wollenden Zahl von Redaktionsbesuch-Angeboten.

Es war eben die Zeit der Tanja-Anjas. Diesen Begriff schuf Don Alphonso für jene PR-Damen, deren Blondheit bis in die Seele reichte. Ich entlieh ihn mir dann für die Kleine PR-Agentur am Rande der Stadt. Das mag sexistisch klingen: Aber tatsächlich waren es vor allem junge, schlecht bezahlte und mager ernährte Damen, die oft Tanja oder Anja hießen, die uns auf die Nerven gingen.

Ziesemer schrieb daraufhin einen Artikel für Netzwert, der die PR-Branche zum wüten brachte. „Feuern Sie Ihre PR-Leute“ war er überschrieben und lieferte sieben Gründe dafür. Hier einige Auszüge:

„Hat Ihre Agentur zum Beispiel einen Unternehmensnamen wie Syzygy oder Hexmac einfach hingenommen oder ihn gar vorgeschlagen? Dann fordern Sie sofort Ihr Geld zurück: Namen, die man nicht aussprechen, geschweige denn schreiben oder sich merken kann, machen jede weitere Öffentlichkeitsarbeit völlig überflüssig… Haben Sie sich möglicherweise selbst einen Namen wie Syzygy ausgedacht? Dann (Entlassungsgrund Nummer zwei) gilt: Alles weitere Bemühen ist sinnlos, sparen Sie lieber das Geld, machen Sie Ihren Laden zu…

Wenn Ihre Partner Sätze wie den folgenden schreiben, haben Sie Entlassungsgrund Nummer drei: ,NETg, führender Anbieter von e-Learning-Lösungen, hat mit seinen IT-Trainingsangeboten Skill Builder End User Information Technology und Knowledge Communication Professional Development auch Procter & Gamble überzeugt.’…

Überschwemmt Ihre PR-Agentur Journalisten mit Pressemitteilungen zu weltwichtigen Themen wie ,Nokia eröffnet neue Büroräume in Bad Homburg‘? Dann (Grund Nummer Vier) nehme Sie Ihr Geld und rennen so schnell wie möglich damit weg: Sich machen sich so nämliche jenden Journalisten… für alle Zeiten zum Todfeind der Firma…

Legt Ihnen Ihre Agentur auch Zitate in den Mund wie: ,Um im Wettbewerb immer einen Schritt voraus zu sein, haben wir es uns zur täglichen Aufgabe gemacht, unsere Mitarbeiter im kontinuierlichen Ausbau ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten zu unterstützen‘? Glauben Sie ernsthaft, dass irgendjemand diesen Schmachtfetzen glaubt?“

Die Beispiele waren echt – die Erregung der PR-Szene ebenfalls. Auf der einen Seite waren die, die so arbeiteten: Sie hielten all dies für eine Unverschämtheit. Und dann waren da die wenigen, denen das auch auf die Nerven ging – und die Journalisten, die genauso dachten. Aber zuvor hatte eben niemand dem Unsinn so offen dien Krieg erklärt – erst recht nicht mit realen Beispielen.

Ganz und gar keinen Wirbel löste dagegen eine Geschichte aus, die wir gemeinsam mit dem „Wall Street Journal“ veröffentlichten. Sie handelte von Globalexplorer, Orbimage und dem deutschen Gegenstück Terra Map Server. Diese Firmen verkauften als erste hoch aufgelöste Satellitenbilder an jedermann. Einfach die eigene Adresse eingeben – und zack – dann gibt es für 10 Dollar ein schönes Bild vom eigenen Haus. Und schon damals galt das, was heute in ähnlicher Form für Google Streetview gilt: Die Bilder waren schon da – nur bekam sie eben ausschließlich eine viel Geld zahlende Elite zu sehen. Das sagte damals auch Friedhelm Gahr, der Geschäftsführer von Terra Map Server: „Was wir verkaufen ist im Prinzip bereits heute im Angebot. Wenn ein Versorger eine Trasse plant, kauft er die Bilder schon jetzt.“

Wie sich die Zeiten ändern. Damals, im Oktober 2000, zitterten die Online-Händler noch vor Weihnachten. Im Jahr vorher wackelte sogar Amazon und konnte zahlreiche Sendungen nicht pünktlich zum Fest abwickeln. US-Händler wie Macys und KB Kids hatten deshalb sogar Strafen der Handelsaufsicht aufgebrummt bekommen. Also stockten die Unternehmen ihr Personal auf. Nicht jedem hat es langfristig geholfen. Längst aus meinem Kopf entschwundene Namen tauchen auf: Primus Online, Yagma, Toojoo, Vitago, Shopping.de. Längst wackelten vor allem jene E-Händler, die sich auf Spielzeug konzentriert hatten: Zu viele waren es für einen zu kleinen Markt: Mytoys, Toyzone, Webjumbo, Alltoys – alles damals alltägliche Namen.

Genauso wie der Begriff I-Mode. Eine höchst bieder wirkende Dame hatte für den japanischen Telekom-Riesen NTT Docomo das bis dahin fortschrittlichste Mobil-Surf-System entworfen. Es war bunt und leicht zu bedienen. In Deutschland führte E-Plus es ein, es war ein Blick in die Zukunft. 12,7 Millionen Japaner surften damals schon mobil, jeden Tag wurden es 50.000 mehr. Mari Matsunaga, jene biedere Dame, war ein heimlicher Star der Telekom-Industrie. Sie brach den statischen Konzern auf, I-Mode entstand im „Club Mari“, einer Art Lounge-Büro. Doch nicht nur schön und bunt war dieses Handy-Surfen: Es war auch bezahlbar. Monatsabos für die I-Mode-Angebote der japanischen Zeitungen – Achtung: funktionierender Paid Content! – kosteten zwei bis sechs Euro.

Irgendwie klingt das nach dem Iphone im Jahr 2010, oder?

Lesen Sie am kommenden Montag: Erst kommt Angela Merkel zu spät – dann lässt sie sich von Netzwert inspirieren.


Kommentare


Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach 25. Oktober 2010 um 11:24

Großartig, danke für diese Erinnerung. Ist es wirklich schon zehn Jahre her? Auch interessant, dass es „PR-Leute“ hieß und nicht „PR-Agentur“, wie mir meine Erinnerung vorgegaukelt hat.
Über eine längere Zeit war dieser Artikel von Ziesemer der Eckstein der (damals von mir moderierten) media coffees – und er war wahr und so.
Und ob du es glaubst oder nicht: ohne ihn wirklich im Wortlaut oder mit den Beispielen parat zu haben, stand er Pate hinter meinem „Feuern Sie Ihren Social-Media-Berater“-Vortrag, ich musste die gesamte Zeit an Ziesemers Ausbruch denken.
Gibt es den eigentlich noch irgendwo online? Oder wäre es nicht Zeit, ihn sonst zu re-publizieren?

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Jürgen Braatz 25. Oktober 2010 um 11:43

Dem Beitrag kann man nicht widersprechen, aber ergänzen kann man ihn. PR-Agenturen und auch unternehmensinterne Pressestellen leisten oft keinen Widerstand, wenn ihre Kunden bzw. Chefs jeden Pipifax in die Welt hinausposaunen wollen.

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Andreas Wollin 25. Oktober 2010 um 12:54

„12,7 Millionen Japaner surften damals schon mobil“ – das ist so krass! Und wir erst 10 Jahre später? Was machen die in Japan dann heute schon? Gegenstände beamen?

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Tim Thaler 25. Oktober 2010 um 15:47

Wow, und ich dachte, dass vor 10 Jahren noch alles schön war. Mach das ja erst seit ahct Jahren, als Redakteur. Dachte, die Agenturen waren toll, die Tanja-Anjas weniger blond und die PR ehrlicher. Was bei genauerem Nachdenken aber eh paradox ist. Den Text wieder drucken, bitte! Genau so!

Aber ergänzen um diesen Fakt: bei bestimmten Agenturen geht man besser nie ans Telefon. Weil, wer nichts zu sagen, der droht: „Wir möchten Sie nur freundlich daran erinnern, dass Firma XY ja auch langjähriger Anzeigenkunde bei Ihnen ist. Da würden wir uns über PR schon sehr freuen. Also, das ist ja nur so ein Hinweis, keine Verpflichtung.“ Durch die Publikumspresse versaut und die Fachpresse gängeln? Ne Freunde, nicht mit mir.

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