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Sehen wir zunächst einer Tatsache ins Auge: Mit einem Geschehen wie in Winnenden „richtig“ umzugehen, ist für Medien unmöglich.

Denn, wer nüchtern und neutral über das Geschehen berichtet, der hat nicht allzuviel zu berichten – was somit zu einer quantitativ geringen Würdigung des Geschehens führt. Ihm kann vorgeworfen werden, einerseits nicht genug zu schreiben oder senden, andererseits ja auch an den Bedürfnissen seiner Kunden vorbeizuarbeiten. Denn Nachrichten sind dann für uns interessant, wenn wir einen Bezugspunkt zu ihnen haben. Zu Menschen, die bei ihrem normalen Tun Opfer eines Irren werden, haben wir alle Bezugspunkte – und deshalb entsteht ja überhaupt dieses gewaltige Interesse Winnenden.

Es gibt also kein „richtiges“ Verhalten, was eine Mediendebatte auch so schwierig macht. Es gibt aber ein „professionelles“ Verhalten – und hier sind leider einige Defizite auszumachen. „Auch heute, an diesem Donnerstag, dem 12. März“ herrsche Trauer und Entsetzen in Winnenden. So Doch, so hieß es gestern morgen im ZDF-Morgenmagazin. „Auch heute“, nicht mal 24 Stunden nach dem Amoklauf in der Schule des Ortes, gerade so, als sei das eine Überraschung.

Natürlich ist dies keine Verwunderung, sondern nur nachlässig geschriebener Ansagetext. Ebenso wie der Beginn der Nachrichten im Rahmen der Sendung, die mit dem Satz begann, eine ganze Region stehe unter Schock. Ist das eine Nachricht? Etwas Neues? Etwas Überraschendes? Oder einfach Klischee? Es ist eine Nachrichteneröffnung, die man gemeinhin eher RTL zuschreiben würde.

Wenn etwas so Schreckliches passiert, haben sich praktisch alle Medien eine gewisse Form der Trauerberichterstattung zugelegt, die mehr und mehr austauschbar wird. Weil Informationen zum tatsächlich Geschehenen noch rar sind – die wird der „Stern“ in einigen Wochen in aufwendige Infografiken unter der Überschrift „Der Weg des Täters“ verarbeiten -, müssen jene herhalten, die sekundär bis tertiär beteiligt waren: Angehörige, Bewohner des Ortes, Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe (Schüler), auch wenn sie ganz woanders leben und den Namen Winnenden noch nie gehört haben.

Es ist eine Verwirklichung der Wünsche des Publikums. Viele Menschen wollen wissen, was dort passiert ist, um das Unbegreifliche vielleicht doch zu begreifen. Weil in solch einem Moment manchem klar wird, dass es nur einen Durchgeknallten braucht, um von einem Moment auf den anderen nicht mehr am Leben zu sein oder einen Menschen zu verlieren, den man liebt. Und wir wünschen uns, dass die Bewohner von Winnenden die Trauer miteinander teilen, damit die Angehörigen ein kleines Stück Trost bekommen. Wir wünschen uns, dass die Schüler in ganz Deutschland innehalten, sich vielleicht fragen, ob in ihren Reihen auch jemand so etwas tun könnte – auch wenn wir dann im Morgenmagazin sehen, wie sie kichernd in die Kamera winken und anscheinend überhaupt nicht betroffen sind.

Diese Wünsche des Publikums sind es, die Journalisten in diesem Moment befriedigen möchten, denn das Publikum ist der Kunde. Es klingt zynisch, wenn ich sage: Dieses Verhalten ist für mich professionell.

Bemerkenswert aber ist es, wie in solch einem Moment – und zugegeben: in solchen Ausnahmesituationen regiert die Hektik -, professionelle Grundlagen außen vor gelassen werden. Da mokiert sich der „Stern“ über den Pöbel im Internet, der versucht an alle möglichen Informationen von Opfern und Täter zu bekommen – und übersieht, dass Journalisten dabei eine gewichtige, vielleicht gar die gewichtigste Rolle spielen. Nicht anders der ARD-Brennpunkt, wie Robin Meyer-Lucht sehr schön auseinandernimmt (allerdings geht er von der Theorie aus, ARD-Brennpunkte seien von Qualität getrieben – eine Annahme, die ich nicht mehr teile). Auch kann ich Jo Groebel nicht zustimmen, der das Internet als Problem sieht – viel größer ist das Problem von Medien, die ihre eigene Verantwortung negieren.

Oder nehmen wir die „Bild“. Geradzu putzig erwartet sie die Informationen da zu finden, wo sie sie immer findet. Und wenn nicht? Dann kann da was nicht stimmen, wie die Redaktion twitterte:
„Über den Täter findet sich nichts bei MySpace, Facebook und Co. Sehr ungewöhnlich für einen 17jährigen.“

Sicher werden wir bald die erste Verwunderung erleben, wenn ein jugendlicher Gewalttäter keine Ballerspiele spielt – da kann dann doch was nicht stimmen.

Mutmaßlich war auch der Täter von Winnenden irgendwo im Internet unterwegs. Vielleicht aber auf Seiten, die dem gemeinen Journalisten nicht sofort ins Auge fallen. Schließlich gibt es auch kleine Social Networks und abgefahrende Diskussionsforen. Zu glauben, dass jemand, der mutmaßlich von der Gesellschaft isoliert war, sich auf einer Plattform tummelt, auf der „jeder“ unterwegs ist – das ist schon ein eher unlogischer Gedanke. Natürlich suchen sich jene, die wegwollen von den anderen, ihre eigenen Nischen.

Diese Nischen scheinen oft obskur. Und weil man dort die Irren vermutet, glaubt man den Betreibern einer Seite kein Wort. Mehr noch: Man versucht nicht einmal, sie zu kontaktieren.

Das Ergebnis ist eine heute munter durch den Blätterwald marschierende Ente, für mich die vermeidbarste Ente der vergangenen Wochen und Monate. Dass nämlich der Täter von Winnenden seine Aktion angekündigt hätte. Meedia analyisert dazu die Twitter-Ströme. Sie sind für mich wieder einmal eine Demonstration, dass Journalisten in diesen Informationskanälen aktiv sein müssen. Denn zumindest hätte dann ein Verdacht geweckt werden müssen.

Dieser Verdacht muss nicht unbedingt dazu führen, die Ankündigungsgeschichte zu kippen. Schließlich hat sich der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech zu einer Falschäußerung hinreißen lassen.

Doch dementierten am Nachmittag – also rechtzeitig vor Andruck – die Macher der bewussten Seite Krautchan:
„Hier wurde kein Amoklauf angekündigt, es gibt hier nur Leute, die mit Photoshop umgehen können.

Scheinbar ist recherchieren heutzutage uncool. Schlimm genug, bei Wikipedia abzuschreiben, aber hier? Grundgütiger.“

(Details bei Unkreativ)

Und auch wenn sie nicht direkt erreichbar sind, so gehört es doch zur journalistischen Sorgfaltspflicht, diesen Aspekt der Geschichte zu erwähnen.

Nachtrag: Eine Meldung von heute fällt wohl eher unter die Rubrik „Wir behaupten mal wirres Zeug“. Die Polizei prüft nämlich, ob der bewusste Text „von einem anderen Computer“ verfasst wurde. Klar, ein anderer Computer. Um 2 Uhr 46 am Morgen hat ein 17-Jähriger in der schwäbischen Pampa da ja auch alle Möglichkeiten. Vielleicht hatte er einen Laptop, meint die Polizei. Der dann verschwunden ist. Hier geht es um durschaubare Gesichtswahrung für einen Innenminister, der zu weit nach vorn getrabt ist. Peinlich für einen öffentlichen Apparat wie die Polizei.


Kommentare


ostroplog 13. März 2009 um 16:36

Alles korrekt beschrieben. Besonders heftig finde ich, wie die anderen Menschen namens Tim K. (Name wurde von Thomas Knüwer abgekürzt), die nicht die Attentäter waren, unter den Web2.0-Verdächtigungen gelitten haben.
Hatte mit einem der Jungs Kontakt, aber er will kein medienkritisches Interview – weil er von der \“Lügenpresse\“ (Zitat), die ihn und seine Eltern mit Anrufen bombardiert haben, die Schnauze voll hat.
Zum Twitterfail: http://www.ostroplog.de

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Andreas R. 13. März 2009 um 16:52

Was ich unfassbar finde: Ich lese heute im Laufe des Tages bei SpOn et.al. über die Art und Weise, wie die Ermittlungsbehörden versuchen zurückzurudern, ohne dass ihnen die Füße nass werden. Man hätte diesen Eintrag zwar in der Tat nicht auf dem PC von Tim gefunden, aber vielleicht wäre er ja auf einem Laptop, der angeblich verschwunden ist. Haarsträubend! Nun könnte man nach der gestrigen geballten Demonstration von Internet-Unkenntnis darüber spekulieren, ob diese Ermittlungsbehörden vielleicht wirklich noch nicht verstanden haben, dass \“das Internet\“ auf Servern stattfindet und nicht auf Festplatten. Aber es siegt mein Verdacht, dass da jetzt von den Ermittlern so lange Formulierungs-Nebelbomben geworfen werden sollen, bis der nicht internetaffine Teil der Menschheit so verwirrt ist, dass er es aufgibt, diese Widersprüche verstehen zu wollen. Und das ist einfach widerlich.

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Thomas Knüwer 13. März 2009 um 16:56

@Andreas R.: Zwei Schreiber, ein Gedanke – wären Sie kommentierten, habe ich genau das oben als Nachtrag verfasst.

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hillu 14. März 2009 um 21:36

Ich bin es leid, daß beinahe jedes Medium, das ich ansehe oder anhöre, davon ausgeht, daß ich Berührungspunkte zu den Menschen, die bei ihrem normalen Tun Opfer eines Irren werden, verspüre. Dem ist nicht so.

Ja, ich habe ein Interesse daran, darüber informiert zu werden, was passiert ist. Aber bitte lieber in einer Form, die der Wahrheit nahekommt, als schnell-schnell. Und bitte, es geht mich nichts an, ob sich der tote Täter irgendwann in psychatrischer Behandlung befunden hat, unabhängig davon, ob beim Herausposaunen die ärztliche Schweigepflicht verletzt worden ist oder nicht.

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Rainersacht 15. März 2009 um 12:53

Jeder Amoklauf befeuert die öffentliche Floskelmaschine. Leider auch hier: \“Das Unbegreifliche begreiflich machen\“ ist ein derart hohler Halbsatz, dass man sich fragt, warum fast jeder Journalist meint, ihn verwenden zu müssen. Schmierölpsychologisch erweitert würde ich vermuten: Wer Amokläufe für unbegreiflich hält, ist noch nie in Gedanken (oder im Traum) Amok gelaufen.

Schließlich sind alle Diskutanten auch Trittbrettfahrer, die über ihre Einlassungen Lobbyarbeit betreiben: Gegen Computerspiele, gegen Schützenvereine, für Online-Ausschnüffelung etc pp

Irgendein schlauer Kopf hat nach dem Massaker an der Columbine High gesagt, man solle auf jegliche Berichterstattung über solche Ereignisse verzichten, weil sie nichts klärt, aber Viele auf Ideen bringt. Stattdessen meint jeder Depp, twittern zu müssen…

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bugatti 15. März 2009 um 23:55

Hätte, wenn und aber. Die Welt, der Mensch lebt von Spekulationen und gibt sie auch noch weiter. Hurra – wir haben wieder mal ein Gesprächsthema! Es gibt ja leider nichts anderes – und schon gar nichts Positives das man aufbauschen könnte.
Aber warum muss man etwas aufbauschen – egal ob nega- oder positiv?
Die Wahrheit ist gefragt, mehr nicht. Wirklich nicht.

Und deshalb meine ich, um im Jargon der 70er zu bleiben. Weg mit den Spekulationen (auch an den Börsen) – her mit den Spekulatius.

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rumuba 16. März 2009 um 18:14

@hillu Vielleicht werden nun bald psychotherapeutische Behandlungen verboten… ^^

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