Es gibt Themen, bei denen weiß ein Blog-Autor: Es wird böse, böse Kommentare hageln. Ein solches Thema ist Twitter. Wer positiv über Twitter schreibt, der erntet immer ein paar in wüstestem Ton gehaltene Kommentare, die den 140-Zeichen-Nachrichten-Dienst zu Zeitverschwendung/Blödsinn/Hype erklären.
Und doch muss hier nochmal die Rede sein von Twitter. Weil einer der von mir am meisten bewunderten Autoren sich des Themas angenommen hat – und mich dabei leider tief enttäuscht. Ich mag Harald Martenstein. Oder besser: Ich mag Harald Martensteins Texte, denn ich kenne Harald Martenstein nicht persönlich. Und dass ich mag, was er im Magazin der „Zeit“ schreibt, muss ich leider betonen. Denn wenn ein Journalist einen anderen kritisiert, heißt es ja oft, er habe ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, da seien persönliche Animositäten im Spiel, oder ähnliches. Deshalb: Ich mag Harald Martensteins Texte.
Der Obertitel seiner Kolumne heißt eigentlich „Harald Martenstein denkt über das Leben nach“ und das legt ja die Latte hoch, auch wenn es im gedruckten „Zeit“-Magazin nicht mehr oben drüber steht.
Die Latte liegt hoch, weil das Leben an sich ja einigermaßen komplex ist. Und vielfältig. Und weil man von jemand, der das Ergebnis seines Nachdenkens über ein komplexes und vielfältiges Thema jede Woche veröffentlichen darf in einem Medium, das sich explizit einer besonders hohen Qualität verpflichtet, erwartet, dass er besonders tief denkt.
Diesen langen Anlauf brauche ich, weil es mir schwer fällt, über die aktuelle Kolumne Martensteins zu schreiben: Denken Sie da lieber noch mal drüber nach!
Harald Martenstein hat nämlich Sascha Lobo getroffen und Sascha Lobo hat dabei Harald Martenstein Twitter erklärt. Woraufhin sich Harald Martenstein Twitter angeschaut hat und es schrecklich findet:
„Ich habe mir die Twitter-Mitteilungen von Kordula Schulz-Asche angesehen, der Vorsitzenden der hessischen Grünen. Sie schreibt an ihre Follower: „Das war – wie jedes Jahr – ein wundervoller Grüner Aschermittwoch in Hattersheim. Nur der Rollmops liegt mir schwer im Magen.“ Ein anderes Mal setzt sie ihre Follower in Kenntnis, sie sei „heute morgen ein bisschen träge. Woran es wohl liegt? Wahrscheinlich am Wetter.“
Falls ich jemals aus dem Grund grün wählen sollte, dass Grüne ungern Rollmops essen oder weil sie wetterfühlig sind, dann soll meine Familie mich bitte für unzurechnungsfähig erklären lassen, und dies, obwohl auch ich Rollmops nicht sonderlich mag.“
Es ist ein immer wiedergekäutes Argument in den Medien, dass die Nachrichten, die über Twitter verschickt werden, grundsätzlich und alle und überhaupt und an sich uninteressant seien. Vielleicht ist das eine journalistische Sache. Wir sehen eine Zeitung oder ein Magazin und wir wissen, wieviel Arbeit da drinsteckt, und so wollen wir die Mühen der Kollegen mit unserer Aufmerksamkeit honorieren und möglichst viel davon lesen. Nur: Damit stehen wir alleine. Die meisten Medien werden nur zu einem Bruchteil gelesen – und das ist auch nicht schlimm. Der gemeine Mensch liest nur die Themen, die ihn interessieren – oder für ihn interessant gemacht werden.
Interesse aber ist etwas sehr subjektives. Ich, zum Beispiel, interessiere mich brennend für den SC Preußen Münster. Dieses Interesse teilt leider nur ein geringerer Teil der Gesamtbevölkerung. Im Magazin der „Zeit“ antwortet Alice Schwarzer in dieser Woche auf eine Abtreibungsgeschichte im Magazin der „Zeit“ vor vier Wochen – das interessiert mich exakt überhaupt nicht, ich werde die Seite nicht lesen. Leider kann ich Alice-Schwarzer-Texte aber nicht entfollowen, obwohl sie grausame holprige erste Sätze schreibt wie:
„Die Redaktion des Zeitmagazins hat Jörg Burgers Geschichte über Männer, die enttäuscht darüber sind, dass ihre Frauen die Schwangerschaft ausgetragen ahben (Nr. 8/09) mit dem berühmten Stern-Cover vom 6. Juni 1971 aufgemacht, dem provokanten Bekanntnis der 374 Frauen: „Wir haben abgetrieben!“
Informationen jeder Art sind nur dann für uns von Bedeutung, wenn wir zu ihnen einen Bezugspunkt haben. Weshalb 90 Prozent – mindestens – der Kommunikation eines Menschen für andere Menschen völlig belanglos, banal, blöd und/oder unverständlich sind. Volontäre bekommen eingetrichtert: „Sage Bekanntes über Unbekannte oder Unbekanntes über Bekannte“, denn Unbekanntes über Unbekannte mag niemand lesen. Der größte Teil der menschlichen Kommunikation befasst sich mit unbekannten Informationen über Personen, die 99,99 Prozent der Menschheit unbekannt sind. Das ist nicht schlimm oder dumm oder unintellektuell – bei Milliarden von Weltenbürgern kann man nicht jeden kennen und alles wissen. Das aber macht Kommunikation komplex und vielfältig, Kommunikation ist wie das Leben.
Und damit sind wir bei Twitter. Denn die Twitter-Nachrichten eines völlig Unbekannten sind für uns nicht interessant, wenn wir kein gemeinsames Interesse haben. Weshalb wir nicht gezwungen sind, sie zu lesen. Und der Rest, den wir lesen wollen, der kann alles sein: Ortsmarken, Nachrichten, Hinweise auf interessante Texte, Verbraucherkritiken, Wortwitzeleien. Oder kurz: menschliche Kommunikation, die interessant ist, wenn wir einen Berührungspunkt mit dem anderen Kommunikator finden.
Niemand muss das ALLES lesen. Und niemand wird gezwungen, ständig etwas zu schreiben. Es gibt kein Kleingedrucktes, nicht einmal einen Vertrag mit Großgedrucktem, der bei der Anmeldung auf Twitter vorschreibt, dass der Dienst durch den Nutzer innerhalb einer Präsenzzeit, die sich nach Meinung vieler Kritiker auf den gesamten Wachzeitraum erstreckt, zu verwenden sei.
Man kann auch einfach mal nicht Twittern. Alle Twitteraner twittern meist nicht. Genauso wie alle Besitzer eines Handys meist nicht handynieren, alle Besitzer eines Autos meist nicht autofahren und alle „Zeit“-Kolumnisten meist nicht kolumnieren.
Nun ist es natürlich so, dass mich derzeit bei Twitter fast 3000 Menschen mitlesen. Das müssten sie nicht, sie könnten auch etwas anderes lesen, Alice-Schwarzer-Texte, zum Beispiel. Gut, vielleicht sind sie alle auch nur zu faul, mich aus ihrem Lesekatalog zu entfernen. Mutmaßlich aber finden sie das ganz OK, was ich da so schreibe. Haben die alle ein Interessen an mir? Zumindest das Interesse, die Texte interessant zu finden. Der Autor steht für einen bestimmten Stil und wenn man den mag, dann liest man tendenziell diesen Autor gerne, das nennt sich dann Leserbindung und hat dazu geführt, dass es Kolumnen gibt.
Keiner weiß das besser als Harald Martenstein. In der Literaturbeilage der aktuellen „Zeit“ – die in der ersten Hälfte übrigens höchst gelungen ist (dann kommen die schlichten Buchkritiken, die ich persönlich nicht so spannend finde, aber das ist ein anderes Thema) ist folgende Doppelseite zu sehen:
Da sitzt Harald Martenstein und hält die Bücher in die Kamera, die er rezensiert, es sind die Vampir-Romane von Stephenie Meyer. Ein wenig zauselig sieht er aus, irgendwie sehr liebenswert, Catweazle für Intellektuelle. Und deshalb ist er auch der einzige Rezensent, der in der Beilage abgebildet wird. Obwohl: Harry Rowohlt hat fast so etwas wie eine Rezension verfasst, vielleicht also muss man eine gewisse Catweazeligkeit an den Tag legen, um bei der „Zeit“ aufs Foto zu dürfen.
Harald Martenstein ist dadurch so häufig in der „Zeit“, weil er es geschafft hat, die Menschen für sich zu interessieren. Nur deshalb lesen sie, wie es um seinen Sohn steht, zum Beispiel. Würde jemand anders über einen Sohn schreiben, wäre das für Harald Martenstein vielleicht Selbstüberwachung.
Zugegeben: Wenn er über seinen Sohn schreibt, dann sind das mehr als 140 Zeichen. Doch gibt es ja bei Twitter auch diese verschwurbelten Zeichenfolgen, hinter denen sich Links verstecken. Und hinter den Links verbergen sich längere Texte. Zum Beispiel verbirgt sich hinter http://twiturl.de/digso der Link zum Blog von Sascha Lobo, der sich ebenfalls mit Harald Martensteins Haltung zu Twitter beschäftigt.
Wenn ich das alles so zusammennehme, dann finde ich Harald Martensteins aktuelle Kolumne sehr widersprüchlich. Denn eigentlich, macht er auch nichts anderes als zu twittern – er schafft es nur nicht auf 140 Zeichen. Das hätte ich im gerne selbst gesagt oder geschrieben, vielleicht hätte er das nett gefunden und hätte neue Argumente für oder gegen meinen Text gehabt, vielleicht hätten wir unser Denken bereichern können, man weiß das ja nicht. Einem Magazin-Text aber kann ich nicht antworten. Was ihn ebenfalls von Twitter unterscheidet. Man kann ja mal drüber nachdenken, ob das gut oder schlecht ist.
Nachtrag: Über die Nachrichtenfilter-Funktion von Twitter schreibt heute Carta.
Kommentare
Dottore 13. März 2009 um 20:53
In dem von Ihnen zitierten Teil der Kolumne macht sich Martenstein über eine Grünen-Chefin lustig, die ganz offensichtlich von Obama inspiriert ist und per Twitter Wahlkampf zu machen versucht. Dass sie dabei die Welt und ihre Follower mit Belanglosigkeiten zuschüttet, darf und soll man kritisieren. Ihre Kritik, Herr Knüwer, greift hier nicht, weil Sie die falsche Textstelle herausgesucht haben. Frau Schulz-Dingsda ist eine Bekannte die Ödes verlautbart. Sowas ist so überflüssig wie ein Kropf. Auch ihr Vergleich mit Martensteins Sohn hinkt. M.s Kolumnen zu seinem Sohn sind pointiert, gut beobachtet, unterhaltend und haben stets eine Metaebene. Der Rollmops von Frau Dingsda ist all das genau nicht.
twitterking 13. März 2009 um 22:11
so, und jetzt bitte diese Entgegnung in 140 Zeichen. Dann könnten Sie getrost ein q.e.d. darunter setzen. In der Langfassung ist es nur weitgehend banales Geschwafel. Wobei ich anmerken sollte, ich mag Thomas Knüwers Texte!
Ulrike Langer 13. März 2009 um 23:24
Martenstein fällt auf das gleiche Paradoxon herein, wie schon viele Twitter-Kritiker vor ihm: Wer nur mal kurz reinschaut, sieht meist beliebig-belanglose Tweets und glaubt, dass sei schon alles. Wenn er sich mehr Mühe nicht machen will, dann soll er halt nicht twittern und Frau Rollmops-Schulze-Asche entfollowen. Ansonsten gebe ich twitterking recht: Eine Replik in 140 Zeichen – die hätte gesessen.
Alex 13. März 2009 um 23:44
Nehmen Sie es mir nicht übel.
Aber je mehr Sie über Twitter schreiben, desto stärker erscheint es mir overhyped.
Ich denke bei Twitter mittlerweile spontan und regelmäßig an zwei Kommentare:
Doonesbury: http://www.doonesbury.com/strip/dailydose/index.html?uc_full_date=20090307 (sowie im ganzen die aktuelle wie die letzte Woche)
Jon Stewarts Daily Show: http://www.thedailyshow.com/video/index.jhtml?videoId=219519&title=twitter-frenzy
In zwei Jahren wird sich schlicht niemand mehr an Twitter erinnern.
weltherrscher 14. März 2009 um 8:49
in zwei jahren ist dann Gewötter der hype.
Chris 14. März 2009 um 21:07
Ich finde Deinen Artikel über Twitter interessant. Aber ich halte Twitter trotzdem für Schnickschnack: es ist nichts als eine besonders limitierte Blogsoftware. Gibt es ein Feature das Twitter hat, das z.B. WordPress nicht hat? Nein.
Cookie 16. März 2009 um 11:23
Für mich gäbe es auch nur einen Grund Twitter zu benutzen: Wenn ich ein Promi/Politiker wäre! Und auch dann sehe ich nur einen interessanten Punkt: Wenn ich meine Follower kontinuierlich mit kurzen und prägnanten Infos versorge, die evtl. noch nicht über \“traditionelle Pressewege\“ veröffentlicht worden sind, um sie schlussendlich in meinen Blog / meine Website zu leiten, welche dann das Thema detailliert aufgreift.
Sanddorn 16. März 2009 um 13:22
Dann stell ich meine Lieblingsfrage hier nochmal:
Wenn Twitter wirklich so geil ist, warum dann der überlange Text in einem Blog? Schnell – Harald Martenstein twittert – getwichst wäre doch perfekt, die Zielgruppe wird erreicht, die anderen werden nicht mit Twitter belästigt.
Nicola 16. März 2009 um 13:45
Ich kann diese Debatte die seit einiger Zeit über Twitter geführt wird nicht ganz nachvollziehen. Es wird doch auch nicht ständig über den Sinn und Unsinn klassischer Medienangebote diskutiert oder über Kommunikationsformen wie SMS, MMS, Skype.
Twitter ist ein Angebot das viele Menschen nutzen. Sie tun es aus eigenem Willen. Vermutlich weil es ihnen Spaß macht oder sie sich dadurch informiert fühlen. Einige mögen die Belanglosigkeiten von Politikern lesen (das macht diese möglicherweise sogar nahbar), andere empfinden es als Vorsprung, wenn sie die ersten sind, die davon erfahren, dass z.B. ein Flugzeug im Hudson notlandet oder sie lesen einfach gern, wenn einer Ihrer Freunde etwas kurzes schreibt.
Ist das verwerflich? Nö. Macht doch nichts. Sollen sie doch.
Herrn Martenstein reicht es, wenn er die Notwasserlandung etwas später über klassische Medien erfährt und Belanglosigkeiten auf 140 Zeichen interessieren ihn auch nicht. Auch gut.
Das schöne an Twitter ist ja: jeder kann, keiner muss twittern. Wer nicht twittert muss sich übrigens auch nicht öffentlich dafür entschuldigen oder rechtfertigen. Love it or leave it.
Weltenweiser 16. März 2009 um 14:45
Vielleicht hätte es ihm einfach nicht Sascha Lobo erklären sollen?
Ich mag Martenstein. Eine Lesung von ihm war äußerst vergnüglich, auch wenn ich die Texte über den Sohn immer als sehr zwiespältig ansah. Es ist nicht klar, was Fiktion war und was nicht, aber will man Paul der Pubertist genannt werden und, wenn auch liebenswürdig, bloßgestellt werden.
Vielleicht ist es ja auch ganz gut, wenn Twitter nicht everybody´s darling wird. Marteinstein wäre allerdings jemand gewesen, der es hätte bereichern können.
Weltenweiser 16. März 2009 um 14:46
@Sanddorn: Weil Twitter auch ein Hinweisgeber ist. Z.B. mit einem Link auf diesen Text hier. So bin ich gerade hergekommen.
nina rieke 16. März 2009 um 14:49
schöner text, vielen dank. ich nutze twitter hier und da, und finde es höchst spannend, wie stark es polarisiert. und kann mich nicola nur anschliessen. keiner muss twittern. aber ich finde es berreichernd, den menschen, medien und marken zu folgen, die für mich – und ggf nur für mich – interessant sind. weil sie lustiges von sich geben, ja manchmal. aber meist, weil sie spannende infos und links weitergeben. es ist ein weiteres medium, mehr nicht. aber auch nicht weniger.
Alexander Broy 16. März 2009 um 15:08
Die Pyramiden waren bloß ein Hype (Ramses), Das Internet ist bloß ein Hype (Gates)und auch Twitter ist bloß ein Hype!(Martenstein)
Paul 16. März 2009 um 16:31
Es ist doch mal wieder im Prinzip wie bei Tokio Hotel.
Nervig ist nicht der Gegenstand an sich, sondern der Hype drumherum.
kokedera 16. März 2009 um 18:02
Der eine twittert – der andere lässt´s. Einem gefällt´s, dem Anderen nicht. So einfach ist das! (95 Zeichen)
Sanddorn 16. März 2009 um 20:58
@Alexander Broy Genau das nervt. Diese maßlose Selbstüberschätzung der Twichser.
Clemens Klein 17. März 2009 um 2:46
Twittern im Sonatenstil… dem Luftikus ein Stilgefühl…
dafür manch einen Musikus nur die eigne Muse küsst.
Felyx 21. März 2009 um 0:49
Zum Einen denke ich, ist schon ein Hype um Twitter vorhanden, der nerven kann. Aber man muss sich ja auch nicht jeden Gedanken jedes Journalisten zu Twitter zu Gemüte führen, wenn es einen nervt.
Dann das Problem \“Was ist Twitter?\“: Wenn man Menschen ewig, lang und breit erklären muss, was Twitter ist, dann ist das ok, denn es ist nicht ganz leicht zu umreißen.
Ein Urteil darüber erlauben sollte man sich allerdings erst, wenn man es \“ausprobiert\“ und nicht \“angeguckt\“ hat. Denn der Witz dabei ist ja die Individualität. Wie schon angemerkt, kann sich jeder den Info\“Brei\“ nehmen, den er möchte. Ob nur Nachrichtenm noch Freunde, oder nur 3-8 Freunde im geschützten Update-Kreis, Twitter bietet Möglichkeiten.