Viele Journalisten leiden unter einer Berufskrankheit: Sie lesen Zeitungen nicht, sie scannen sie. Relativ schnell blättern sie durch die Blätter, sicher, die eine oder andere Geschichte wird intensiv gelesen – doch vor allem geht es um die Frage, wo brauchbare Informationen für den Berufsalltag zu finden sind.
Mir geht es auch oft so. Leider. Umso überraschter war ich, dass ich nun eine Woche gebraucht habe, um eine Zeitung zu lesen. Gut, eine Wochenzeitung, eine Sonntagszeitung, genauer gesagt. Mitgebracht habe ich sie von einem Besuch in London: der von mir ohnehin schon geschätzte „Guardian“-Ableger „The Observer“.
Hier bei Indiskretion Ehrensache geht es ja häufig um die Frage, wie sich Zeitungen wandeln müssen. Nach der Lektüre des „Observer“ würde ich sagen: Dieses Blatt macht verdammt vieles gut und richtig. „Gibt es eigentlich in England keine Anzeigenkrise?“ Das war der erste Gedanke, der mir in den Kopf kam, als ich den „Observer“ sah. 122 (!) Seiten stark, dazu eine 52-seitige Kino- und eine 60-seitige Food-Beilage plus das wöchentliche 68-seitige „Observer“-Magazin. Die letzten drei übrigens teilweise in Hochglanz gedruckt. Und das alles, diese insgesamt atemberaubenden 302 Seiten, sind voll mit Anzeigen – das könnte einen deutschen Werbeplatzvertriebler in diesen grauen Tagen schnell gen Hyperventilation führen.
Doch das ist nur die eine Seite. Die andere ist die journalistische. Sicher, die Titelseite ließe sich schöner gestalten. Doch innen gibt es zahlreiche, sehr gelungen gestaltete Themen. Auch das Grundlayout ist sehr appetitlich und gut zu lesen. Dabei fällt auf, wie sehr die Redaktion bei tragenden Geschichten um eine auffällige Optik – häufig mit Betonung auf den handelnden Personen – bemüht ist. Da müssen auch schon mal die ersten Seiten der Bücher für Fotos herhalten:
Was dort zwischen den Fotos zu lesen ist, ist oft genug lesenswert. Zum Beispiel die Geschichte über Menschen aus der Mittelschicht, die mit einem Mal obdachlos werden – im Internet hier zu finden.
Wer eine Zeitung so macht, der macht sie angenehm. Es macht einfach Spaß, durch den „Observer“ zu stöbern, selbst wenn viele der Geschichten für einen Nicht-Engländer nur von begrenztem Interesse sind.
Zwei weitere Punkte sind auffällig, weil sie sich von deutschen Zeitungen unterscheiden. Da wäre zunächst die fast überbordende Menge an Meinungsartikeln. Gleich fünf Kommentarseiten gibt es, dazu weitere Kolumnen sind quer über das Blatt verteilt.
Die meistens dieser Kommentare – zumindest wenn sie von Mitgliedern der Redaktion und nicht von Gastautoren stammen – sind in eine klare Richtung geschrieben. Da gibt es kein „man könnte sollte möchte dürfte“ – es geht gern deftig zur Sache. Auch vor dem, von deutschen Journalisten so gemiedenen Wort „ich“ machen die Autoren munter Gebrauch. Und: Selbst die schwerste journalistische Disziplin – Humor – gelingt bemerkenswert oft.
Manchmal, und das ist sicher diskutierenswert, vermischen sich dann Kommentar und Artikel. Zum Beispiel in der bösen Abwatschung des Comebacks der Band Black Lace, deren „Agadoo“ auch zu meinen Kindheitserinnerungen gehört. Das böse Stück beginnt so:
„As if soaring unemployment and shrinking pensions were not enough, further misery is soon to be unleashed on the unsuspecting British public.
Twenty-five years after its chart success, Agadoo – mindless, ruthlessly catchy and voted the worst song in pop history – is to be re-released, afflicting a whole new generation…“
Dabei muss ich mich natürlich wieder einmal als Freund der angelsächsischen Kolumne outen. In Zeiten einer medialen Dauerberieselung ist die Herausstellung von Autoren für mich ein Mittel, um Ankerpunkte zu schaffen. Dafür genügen eben nicht mehr aus Grafikelementen zusammengezimmerte Markenbilder: Wir haben unsere medialen Inhalte personalisiert auf Teufel komm raus – nur deren Autoren eben nicht. Die Menschen interessieren sich nun für Menschen, sie vertrauen ihnen. Und deshalb kommen wir als Medien nicht darum herum, auch unsere Produkte stärker mit Personen zu bestücken.
Im Gegenzug werden auch andere Meinungen zugelassen – die von Lesern. Zeitung 2.0, irgendwie. Zu jedem Spiel der ersten und zweiten Fußball-Liga gibt es in der Sport-Sektion Fan-Stimmen, jeweils von jeder Mannschaft. Sie stammmen zum einen aus Blogs, zum anderen… ja, woher eigentlich? E-Mails? Dass jemand sie vor dem Stadion einsammelt, scheint wenig wahrscheinlich. Denn sie sind sauber formuliert und zumindest interessanter als die Spieler-Aussagen, die nach dem Abpfiff in die Mikros gefloskelt werden.
Natürlich ist dies auch ein Eingeständnis gegenüber der schlichten Tatsache, dass Sportjournalismus selten neutral ist. Meist schreiben Autoren über Spiele, die einem der Clubs nah stehen. Im Extremfall schreiben sie von „unserem Team“. Warum dann nicht gleich Fans schreiben lassen, bei denen ist das wenigstens offensichtlich – und schließlich kommen beide Seiten zu Wort.
Auch im Kulturteil sind normale Menschen gefragt. Der Verriss eines Theaterstücks wird konterkariert mit Zuschauerstimmen. Ergebnis: Die Besucher fanden den Abend bei weitem nicht so schlimm wie der Rezensent – Feuilleton trifft Realität.
Das Gesamtpaket des „Observer“ ist bestechend, zumindest für mich. Um diese Ausgabe jeden Sonntag zu bekommen, würde ich einiges zahlen. Mehr auch, als die zwei Pfund, die der „Observer“ in der Heimat kostet.
Aber natürlich hat es eine Wochenzeitung leichter, als ein Tagesblatt. Solch eine Qualität – inhaltlich, wie quantitativ – jeden Tag zu stemmen, scheint kaum möglich.
Und doch ließe sich vom „Observer“ ein wenig was abgucken. Schließlich bieten auch die anderen englischen Zeitungen mehr Kommentare als ihre deutschen Gegenstücke, interessanter geschrieben sind sie noch dazu. Und wenigstens ein paar mehr bildorientierte Seiten sollten auch möglich sein. Das konsequente Einbinden von Leserstimmen wäre für deutsche Verhältnisse dann eine echte Revolution in Zeiten, da mancher Menschen, die einfach so ihre Meinung sagen, für „neue Idiotae“ hält.
Also, Chefredakteure in Germany – schaut auf dieses Blatt. Und zwar nicht herab, sondern hinein.
Kommentare
Christian 31. März 2009 um 19:10
Ich kann das für die britischen Wochenendzeitungen nur unterstützen. So sind die britische Samstagausgabe der Financial Times oder die Sonntagsausgabe des Telegraph weitaus besser als die deutschen Überregionalen. Den persönlichen Stil statt des stets abwägenden, allwissenden deutschen Kommentators schätze ich auch. Und ja, gute Kolumnen fester Autoren sind besser und bindender als gesichtslose Artikel.
Eine Einschränkung ist nötg: Bei den britischen Tageszeitungen sieht das etwas anders aus. Da ist die Qualität des Guardians oder der Times längst nicht so gut wie die des Observers oder der Sunday Times.
Patrick 31. März 2009 um 19:54
Stimme vorbehaltlos zu. Angelsächsischer Journalismus wirkt auf mich wesentlich persönlicher, unterhaltsamer und auch transparenter (Disclosures etc.).
Ich denke, der distanziert-hoheitliche deutsche Journalismus sollte sich da eine Scheibe abschneiden.
Alex 31. März 2009 um 20:23
Ehrlich gesagt erscheinen mir 122 + 50+60 Seiten für eine Zeitung eines Wochenendes (den Observer gibt es ja auch von Montag bis Freitag) doch arg viel. Wer soll das lesen?
Ich persönlich schätze für lange Zugfahrten etc. die Newsweek. Von Amerika mit einem Blick in die Welt und oftmals einem deutlich anderen Blickwinkel. Und in seiner relativ kompakten Konzentration (ca. 60 Seiten) sehr angenehm lesbar.
Zu einer guten Zeitung gehört auch die Konzentration auf das Wesentliche, nicht nur das Auswälzen eines jeden Themenfitzels.
Ebenfalls diesbezüglich sehr angenehm: Die Monatszeitung \“Le Monde Diplomatique\“: Mit 32 Seiten relativ kompakt, global verteilte, eher ungewöhnliche Themen und definitiv nicht gleichgültig gegenüber den gewählten Themen. Und die gibt es gar in nahezu jeder gewünschten Sprache. 😉
Thomas Knüwer 31. März 2009 um 22:50
@Alex: Den Observer gibts nur Sonntags – den Rest der Woche ist es der Guardian.
Media Addicted 31. März 2009 um 23:31
Als erstes müssten die deutschen Zeitungen mal in einen vernünftigen Papierformat erscheinen.
Seit ich lesen kann frage ich mich, warum Zeitungen, die ich von allem Gedruckten schon immer am interessantesten fand, in völlig unhandlichen, unpraktischen, ja konsumverhindernden Formaten erscheinen. Jeder Bahnreisende, Flugzeugpassagier und Wohnzimmerleser kennt das Problem, aber nie wurde daran was geändert, ausser ein paar offensichtlich fehlgeschlagenen Experimenten…
Wenn DAS nicht wäre, ich würde mehr und öfter Zeitungen lesen. NOCH mehr und NOCH öfter :o)
Giesbert Damaschke 1. April 2009 um 11:02
Auf der TED hat der polnische Zeitschriften-Designer Jacek Utko einen interessanten Vortrag über die Bedeutung von Design für eine Zeitung gehalten. )Der Link bleibt leider im Spamfilter hängen.) Ua haben sich die Verkäufe von fast stagnierenden Blättern durch ein intelligentes Redesign drastisch gesteigert. Wer Design allerdings mit bunten Bildchen und farbigen Kästen verwechselt, hat natürlich schon verloren.
Alex 1. April 2009 um 14:10
Vielen Dank für den Hinweis!
Ich wunderte mich zugegeben, warum Guardian und Observer eine so eng gekoppelte Website haben. Aber bei Tages- und Wochenzeitung macht das Sinn.
Damit ist auch meine Kritik bezüglich der Zeitungslänge weitgehend hinfällig.
Ralf 1. April 2009 um 15:39
Es gibt auch den Guardian Weekly – etwas dünner (und dadurch an einem Wochenende auch vollständig lesbar), aber von ähnlicher Qualität (insbesondere was die Kommentarsektionen angeht). Der GW ist allerdings eher eine Zusammenstellung (Best-Of?) von Guardian, Observer, Le Monde und Washington Post. Gerade das macht ihn aber in meinen Augen so reizvoll.
(Ich bin aber auch nur ein \“normaler\“ Zeitungsleser, kein in dieser Branche verwurzelter…)
Roland 1. April 2009 um 18:20
Es wäre schon mal ein kleiner Anfang wenn die deutschen Zeitungen im vernünftigen Format erscheinen würden. Diese Badetuch-Größe ist extrem unpraktisch. Wenn man die Vorzüge der ausländischen Blätter kennt mag man diese m² großen Lappen nicht mehr in die Hand nehmen. Ich lese diese kaum noch, dafür mehr im Web, obwohl ich das gedruckte Wort eindeutig vorziehe.
Schade eigentlich. Aber wenn sich hier nichts tut ,und das sehe ich momentan nicht, werde ich auch weiterhin auf diese verzichten.
Flug 1. April 2009 um 23:22
@ Roland, da hast Du recht, das kann kein Mensch vernünftig handhaben, in der Bahn hast u gleich auch Deine Nachbarn mitversorgt, ob sie wollen, oder nicht.
Mike 1. April 2009 um 23:27
Wäre ja noch schöner, wenn in deutschen Zeitungen der ungefilterte Ausguß irgendwelcher Proleten erscheinen dürfte. Wenn überhaupt irgendwer kommentieren darf, dann doch wohl der Chef persöhnlich unter dem Pseudonym Hartz4Empfänger.
Kritische Pressefreiheit kann man in Deutschland doch mit der Lupe suchen.
Zecher 2. April 2009 um 8:33
Ist die englsiche Presse nicht viel rassistischer als die deutsche?
nicolai 9. April 2009 um 11:56
@Zecher
Rassismus ist in den meisten Gesellschaften verbreitet. Aber ausgerechnet die deutsche als besonders egalitär, freiheitlich und emanzipatorisch darzustellen, ist, glaube ich, ein Wunschtraum.
Selbst als \“guter Deutscher\“ sollte mensch nicht auf die Propaganda der Bundesrepublik hereinfallen. Aus der Geschichte hat die nämlich vor allem gelernt, wie mensch sich nach außen hin verkauft. In Deutschland unterliegen gewisse Überzeugungen vielleicht einer oberflächlichen Selbstzensur, aber die Inhalte verschwinden dadurch nicht und blitzen halt doch an jeder dritten Ecke hervor.
Seine besondere Fortschrittlichkeit gerade durch den NS zu begründen, ist zwar besonders hanebüchen, wird aber trotzdem so verkauft.
Das alles völlig unabhängig vom Vereinigten Königreich.
Zecher, du hast nichts von all den Dingen, die ich ansprach, gesagt. Und ich kann nicht wissen, ob du sie mitgedacht hast, aber sie könnten auf jeden Fall so verstanden werden. Wenn dich die Antwort also gar nicht betrefen sollte, dann betrachte sie als an andere Leser, die dich so verstanden haben, gerichtet.
Malte Herwig 10. April 2009 um 17:33
Die \“neuen idiotae\“ sind Leser mit Ihren Kommentaren nur, insofern \“idiotes\“ im Griechischen ursprünglich die Bezeichnung für Privatmann war – eigentlich einer, der am öffentlichen Diskurs nicht teilnimmt. Aber heute vermischt sich ja alles so schön das es öffentlich schreibende Privatleute gibt – oh Wunderwelt des Web Zwonull.