Wir schreiben das Jahr 2009. Man könnte annehmen, die weitesten Teile der deutschen Bevölkerung hätten nicht nur etwas vom Internet gehört, sondern es auch schon mal gesehen, ja, genutzt. Erst recht jener Teil der Bundesrepublikaner, der dem Rest die Welt erklären soll, also die Journalisten.
Das könnte man annehmen – wenn man nicht das „Hamburger Abendblatt“ liest. Haltet die Druckmaschinen an, wir haben einen Aufmacher! Das „Hamburger Abendblatt“ hat – EXKLUSIV! – ein Internet-Tagebuch. Das, nämlich, von Rüdiger W., jenem Mann, der in Bad Bramstedt, sich und seine Familie ermordete. Und das hat das „Abendblatt“ exklusiv:
„Dem Abendblatt liegt exklusiv das Internet-Tagebuch (Blog) des Familienvaters vor – mit Einblicken in die Seele eines Verzweifelten.“
Exklusiv.
Das Internet-Tagebuch.
Ganz allein.
Hat sonst keiner.
Im Internet.
Wahnsinn.
Hammer-Story.
Oder?
Natürlich ist das Weblog für jeden erreichbar. (Moralische Frage: Sollte ich es hier verlinken? Wegen der besonderen Umstände nehme ich erstmal davon Abstand.)
Exklusiv ist für das „Abendblatt“ höchstens das, was der Drucker im Großraumbüro ausspuckte. Und vermutlich ist den meisten der Leser dies durchaus bewusst, sie nutzen ja dieses Internetzbumsdings.
Womit sich die Frage stellt: Handelt es sich hier um einen Fall von Dummhalten (des Lesers) oder Verdummung (der Redaktion). Obwohl: Das Wort Verdummung impliziert ja, dass schon mal mehr Wissen vorhanden war – und solche Annahmen möchte ich nicht unbegründet treffen.
Leser gehen mit ihrer Zeitung eine Geschäftsbeziehung ein. Sie investieren Geld und Zeit und erhalten im Gegenzug Information und Unterhaltung. Doch wer möchte schon Geschäfte machen mit einem Partner, der ihn für dumm hält oder für dumm verkaufen möchte?
Kürzlich zog „Abendblatt“-Chefredakteur Claus Strunz durch die Lande und propagierte, unter seiner Führung entstehe das „Hamburger Abendblatt 3.0“. Stefan Niggemeier nahm dies zum Anlass zu schreiben:
„Ich kenne keinen Chefredakteur, der im gleichen Maße bereit ist, sich für Eigen-PR lächerlich zu machen oder die Unwahrheit zu sagen, wie Claus Strunz.“
Vielleicht ist aber auch einfach niemand da, der Strunz berät. Der ihm aufzählt, dass vor dem 3.0 ein 2.0 kommen muss. Und vor dem 2.0 ein 1.0. Letztere Stufe wäre für das „Abendblatt“ wohl schon ein Fortschritt.
(Danke für den Hinweis an Knud Bielefeld)
Kommentare
hjg 25. Februar 2009 um 10:41
\’\’Was machen Strunz?\’\‘
Na ja, was schon?
SvenS 25. Februar 2009 um 11:16
Jedesmal wenn ich eine gedruckte deutsche Zeitung in die Hand nehme und lese dann dort Begriffe wie \“Internet-Tagebuch\“ oder gerne auch \“…sogenannte Server\“, dann weiß ich wie es um die Technikkompetenz der betreffenden Schreiber oder gar Redaktion bestellt ist. Offenbar glaubt man in den meisten Redaktionen das die Leser genauso unwissend sind wie man selbst. Und selbst wenn das stimmen sollte, dann muss die Erklärung nicht mit Formulierungen, die das äquivalent zu den spitzen Fingern mit denen man etwas ekliges aufhebt sind, erfolgen.
ring2 25. Februar 2009 um 11:37
… oh wie ist das peinlich. Entschuldigungen und digitale Rechfertigung, liebes Abendblatt, nehmen Dine LeserInnen ut Hamburch in den Kommentaren oder per reply entgegen. Nein, Kinners nee, ist das unangenehm!
http://www.ringfahndung.de/archives/abendblatt_hh-30-fail
Marcus Lindemann 25. Februar 2009 um 21:47
Ich stimme zu – wer Blog mit Online-Tagebuch übersetzt, hat nicht verstanden, wie das Web (2.0) funktioniert. Im Web 0.0 hätte es nämlich Wochen, wenn nicht Monate gedauert bis jemand anderes mein \“Online Tagebuch\“ überhaupt hätte finden können.
Was die mögliche Exklusivität von Internetseiten angeht, so möchte ich allerdings widersprechen: Klar kann man im Netz Dinge finden, die noch öffentlich bekannt sind oder man stellt den Zusammenhang zwischen Dingen und Dokumenten her – beim Formulieren muss man dann freilich vorsichtig sein – \“exklusiv\“ kann man den Blog nicht haben – aber eine exklusive Geschichte, über den Familienvater kann mit Hilfe des Blogs schon schreiben…
Newsman 26. Februar 2009 um 14:54
Mich erstaunt immer wieder die Ignoranz der Web-Kenner in bezug auf die Ignoranz bzw. das Nichtwissen der Nicht-Web-affinen Menschen.
Klar, was das Abendblatt da macht, ist jeden Kommentars unwürdig. Punkt und Basta. Danke an Thomas Knüwer!
Aber (mit Blick auf meine Vor-Kommentatoren): Wie soll denn ein Journalist, der (wie ich) täglich für Leser von 6 Jahren bis ins Heesters-Alter mit einer Bildung von Unter-Hauptschule bis Fast-Nobelpreisträger schreibt, das Wort Weblog (oder schlimmer: Blog) übersetzen? Glaubt Ihr wirklich alle, dass 100 Prozent (oder auch nur 50 Prozent) der Menschen \“da draußen\“ das verstehen? Dann seid Ihr genauso ignorant wie das Abendblatt…
Thomas Knüwer 26. Februar 2009 um 16:22
@Newsman: Dazu habe ich eine klare Meinung: Eine Zeit lang muss erklärt werden – dann nicht mehr. Dieser Punkt ist längst überschritten, doch deutsche Medien orientieren sich weiterhin an den Lesern, die am weitesten zurück sind. Somit unterfordern sie die anderen. Die BBC macht das anders: Dort werden seit Jahren Begriffe wie Blogs oder Podcast einfach so verwendet – ohne jede Erklärung.
XiongShui 26. Februar 2009 um 17:04
Den Streit über \“Internet- Tagebuch\“ vs. Blog halte ich für müssig, auch Webaffine sprechen schon mal im Scherz vom ersteren. Worum es doch hier in der Hauptsache zu gehen scheint, ist die Behauptung einer Exklusivität, die sich mit 2 Min. Recherche als Humbug entlarven lässt – und so ershceint dann das \“Internet- Tagebuch\“ als Nebelkerze, eben diesen Tatbestand zu verschleiern…
webfreiheit@googlemail.de 13. April 2009 um 20:15
Vielleicht hat das Abendblatt das Blog als erste Zeitung entdeckt? Hmm, da müsste man den Begriff \“exklusiv\“ neu diskutieren.
Tagebuch gleich Blog zu setzen ist sicher falsch. Aber stehen über den Einträgen in diesem Werk nicht explizit die Wochentage? Ist sowas dann nicht irgendwie ein, wenn auch unregelmäßig geführtes, hm, Tagebuch?
Ihre Arroganz, Herr Knüwer, gegenüber den Kollegen dort jedenfalls ist ziemlich exklusiv.
Glückwunsch!
Thomas Knüwer 14. April 2009 um 7:52
Wenn Tagebücher sich durch das Datum darüber auszeichnen, war das gedruckte Handelsblatt circa 4 Jahrzehnte ein Tagebuch.
Michael Finkenthei 15. April 2009 um 10:16
definiere: Blog.
definiere: Tagebuch.
klar wissen wir alle genau, worüber wir reden.
Avanti, Dilletanti!
webfreiheit@googlemail.de 15. April 2009 um 12:45
@finkenthei: ich denke auch.
@knüwer: ihr vergleich mit der zeitung ist natürlich blödsinn und reine polemik. im schlimmsten fall ist eine zeitung eine chronik. ein tagebuch stammt von einem autor und ist meist autobiographisch – datumseinträge sind dabei essentiell.
webfreiheit@googlemail.de 15. April 2009 um 12:56
pardon: essenziell
Thomas Knüwer 15. April 2009 um 13:31
@Webfreiheit: Ich glaube, ich muss etwas zu meinem Kommentar ergänzen. Bis zu unserem letzten großen Relaunch stand über JEDEM Artikel des Handelsblatts das Datum – deshalb meine Bemerkung.
webfreiheit@googlemail.de 15. April 2009 um 15:17
@knüwer: okay, dieses detail war mir nicht bekannt.
webfreiheit@googlemail.de 15. April 2009 um 15:29
ich gebe ihnen recht, wenn sie meinen, journalisten sollten ihren lesern keine exklusivität vorgaukeln – passiert ja oft genug, wenn etwa aus \“wirtschaftskreisen\“ etwas verlautet.
aber wenn journalisten einen ausnahmsweise relevanten inhalt zuerst im netz finden – dann wäre das eine exklusive leistung. nachgoogeln kann ja schließlich jeder.