Früher war es einfach für Verlage: Es gab Zielgruppen, für die entwarf man Produkte und dann verkauften die sich. Heute nicht mehr. Der Grund ist ein Versagen des Marketing und die Angst der Verleger. Am vergangenen Samstag blätterte ich in Berlin ein Exemplar des neuen Burda-Magazins „Ivy World“ durch. Es ist der gedruckte Ableger jener Internet-Seite, die mich schon in der Woche zuvor langweilte. Eigentlich hatte ich vor, das Magazin zu kaufen, doch schon das Durchblättern und Anlesen am Zeitschriftenstand ließ mich davon Abstand nehmen, so langweilige, vorhersehbar und platt kam das Blatt daher.
Dabei müsste ich doch eigentlich Zielgruppe sein. Was ist da los? Warum schafft es „Ivy World“ nicht, mich zu erreichen?
Nach einigen Tagen grübeln – und der heutigen Lektüre der Blogbar – scheint es mir, dass genau jenes Wort das Problem ist: Zielgruppe. Was nun folgt, sind ein paar Überlegungen, die noch nicht am Ende sind. Aber vielleicht können Sie, liebe Leser, mich einnorden, ob ich falsch liege.
Also: Die Zielgruppe ist tot, das ist der Haken. Und das Marketing hat dies nicht erkannt. Erst haben sich die Marktforscher gewundert über Porschefahrer, die bei Aldi kauften. Dann staunten sie über Menschen, die am einen Tag ihren Räucherhering im Feinkostgeschäft kauften und am nächsten bei Lidl. Immer hilfloser versuchten sie, diese wechselnden Kaufgewohnheiten in das gewohnte Muster soziodemographischer Modelle zu quetschen.
In Wahrheit aber sind wir Menschen eben nicht mehr so einfach einzuordnen. Die Folge waren Milieu-Studien, deren wolkige Eingruppierungen der Bevölkerung aber so beliebig sind, dass keine echten Schlüsse daraus gezogen werden können.
Stattdessen gilt vielleicht eine ganz einfache Regel: Mach ein gutes Produkt – und Du wirst wahrscheinlich Käufer finden. Kürzlich, zum Beispiel, lernt ich auf einer Party die Macher von Fait Main kennen. Ein nettes Paar, das einfach die Sachen herstellt, die es selber mag. Er, Amerikaner, vermisste in Deutschland die schoko-geschwängerten Cookies – also produziert das Winz-Unternehmen sie jetzt selbst. Genauso Pasta-Soßen oder Suppen.
Kein Zielgruppenkonzept hätte hier wohl einen Erfolg vorher gesagt. Es war einfach das Gefühl, dass es noch mehr Menschen geben könnte, die vermissen, was man selbst vermisst.
Ein solcher Kaufanlass aber fehlt „Ivy World“. Immer mehr Menschen kaufen umweltbewusste Produkte, in den Medien finden die Themen verstärkt Niederschlag – also muss es eine Zielgruppe geben, die sich für ein entsprechendes Magazin begeistern könnte. Das ist die Denke hinter „Ivy World“. Unterfüttert mit soziodemographischen Daten entsteht dann ein Birkenstock-Blatt für gut verdienende Technik-Fans.
So einfach aber funktioniert die Welt nicht mehr. Nur weil jemand etwas spezielles kauft oder sich mit einem speziellen Thema mal beschäftigt, reicht es nicht für die Zielgruppe. In einer Welt, in der wir uns für immer mehr Dinge zumindest zeitweilig interessieren (ich sage nur: Frauen – Fußball – Sommermärchen), schwindet oft die dauerhafte Affinität.
Im Fall von „Ivy World“ heißt das: Öko ist nicht genug. Und das trifft nicht nur dort zu. Kürzlich hörte ich auf einem Kongress folgende Geschichte, von der ich nicht weiß, ob sie wahr ist. Doch kann ich mir gut vorstellen, dass sie korrekt ist.
Ein Geflügelhersteller startete eine Öko-Linie. Frei laufende Hühner mit feinstem Korn gefüttert, wahrscheinlich nicht betäubt vor der Schlachtung, sondern in die Ewigkeit gestreichelt – und natürlich zu höherem Preis. Es war ein Flop. War der Preis schuld? Nein. Öko reichte nicht, stellte das Unternehmen fest. Als es den besseren Geschmack, die Zartheit des Fleisches in den Vordergrund stellte und das Öko-Etikett zum Zusatznutzen machte, lief der Laden trotz höherem Preis.
Und daraus könnte auch „Ivy World“ etwas lernen. Dass nämlich die alleinige Betonung eines Modethemas nicht reicht. Journalistisches Gespür wäre hier gefragt, interessante Themen, aufbereitet in der Länge, die dem Thema gerecht wird, nicht der Marktforschung. Doch solch ein Konzept lässt sich eben nicht durchringen in Großverlagen, wo die Geschäftsführung nicht nach Gefühl argumentiert, sondern nach dem überholten Konzept der Zielgruppe.
Kommentare
Christian 6. Dezember 2007 um 19:14
Ich bin nicht so ganz Ihrer Meinung. Es gibt sicher noch klar zuzuordnende Zielgruppen – bei Musikzeitschriften für eine bestimmten Musikrichtung; bei Autozeitschriften und auch bei Aktionärsmagazinen.
Das Problem von ivy-world ist m.E. dass die Zielgruppe \“LOHAS\“ im Zeitschriftenbereich keine einheitlichen Vorlieben hat. Der neue Bio-Trend z.B. beruht eben nicht auf einer Bewegung wie den \“Ökos\“ früher. Es sind Menschen verschiedenster Anschauung, die bei Lebensmitteln Qualität wollen. Und \“Bio\“ ist der Ausdruck diese Qualität.
Ich glaube nicht, dass die Zielgruppe an sich tot ist. Nur, die Zielgruppen ändern sich für jedes Produktsegment. Wer FAZ-Leser ist, kann gleichzeitig Mediamarkt-Kunde sein und Bionade trinken. Ich muss mir immer Gedanken machen, in welche Schublade ich welchen Verbraucher in meinem Segment stecken kann.
Hinzu kommt, dass diese Lohas-Themen ohnehin schon sehr gut von Brigitte & Co abgedeckt werden. Wozu ein neues Magazin?
Mart 6. Dezember 2007 um 20:37
Die homogene, geschlossene Zielgruppe gab es nie, sie war von Anfang an ein Hilfskonstrukt. Wenn wir in der Erinnerung Jahrzehnte in die Vergangenheit gehen, werden Einzelheiten unscharf, wir erinnern uns an ein Gemisch das zum kleinen Teil aus eigens Erlebtem- vor allem jedoch aus Medienberichten über die Zeit besteht. Da die Medien aber bekanntlich immer auf den größten Haufen scheissen – also nach Archetypen suchen, werden sie sich immer den kleinsten gemeinsamen Nenner für die Berichterstattung über diese- oder jene Zeit aussuchen. Nur deswegen gibt es zB. den 70er bildlesenden, Mettbrötchen essenden, bei Aldi kaufenden Bauarbeiter, der Sonntags in Gelsenkirchener-Barock-Umgebung, mit Feinrippunterhemd und Bierkasten Sportschau kuckt – um mal wahllos ein Beispiel zu nennen.
Klar gab es genau solche Leute auch in Wirklichkeit – aber daneben auch noch den Proust lesenden Gerüstbauer mit Fluglizenz, Frack im Schrank, kriminellem Hintergrund und Geo-Abo – oder so ähnlich. Aber an die muss man sich persönlich erinnern, weil sie bei einer Berichterstattung über vergangene Zeiten als \“untypisch\“ durch das Raster fallen.
Aber eigentlich ging es dir vor allem um Ivy-Dings, und der Text über Zielgruppen war nur eine deiner berühmten Einleitungen, oder?
Stefan 6. Dezember 2007 um 20:49
Bisschen viel gemecker ber die Marktforschung, HErr Knüwer. Vergessen Sie bitte nicht, dass sich auch die Marktforschung weiterentwickelt hat. Vielleicht beim Handelsblabbt noch nicht, aber ansonsten schon.
Rainersacht 6. Dezember 2007 um 21:19
@Mart: Genau! Schon immer tut das Marketing wissenschaftlich, arbeitet aber im Wolkigen. Auch Hilfsmethoden wie die Markt\“forschung\“ bewegen sich weitestgehend auf Voodoo-Niveau. Soll aber keiner wissen, damit die immer weiter fett Kohle machen können, diese Schmarotzer, die nichts produzieren.
Chat Atkins 6. Dezember 2007 um 22:07
Es verlangt sie nach \’Klassen\‘ und \’Schichten\‘ – und sie kriegen nur \’Fragmente\‘, bestenfalls ein halbwegs sinusmäßig kohärentes \’Mikro-Milieu\‘.
Harald 6. Dezember 2007 um 23:06
Ich stimme den Vorkommentatoren zu dass \“Zielgruppen\“ schon immer ein ziemliches Hilfskonstrukt waren. Und dass sich qualitativ gute Produkte die grundsätzlich vorhandene Kundenbedürfnisse erfüllen sich ihre eigenen Zielgruppen suchen ist auch logisch. Wie definiert man z.B. die typische Zielgruppe für iPods? Außer einem gewissen Einkommen, Grundkenntnissen im Umgang mit Computern und Interesse an Musik (hier wird es aber schon schwierig, da zahlreiche Nutzer wohl mehr Speicherplatz für Podcasts und Hörbücher belegen) dürfte es wenige Gemeinsamkeiten geben.
Zur Beurteilung der Erfolgsaussichten von neuen Produkten lassen sich wohl eher traditionell zur Bewertung der Attraktivität von Unternehmen und Branchen angewendete Methoden nutzen als Zielgruppenanalysen alleine, z.B. das Five Forces Modell (nach Michael Porter), oder Marketing Mix Methoden (4 Ps von McCarthy und 4 Cs nach Lauternborn).
Baumarketing 7. Dezember 2007 um 9:14
Ein sehr guter Beitrag. Die Zielgruppe gibt es nicht. Bei uns im Handwerk/Bau gibt es Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Modulierbare Muster für Angebote haben wir bisher keine gefunden.
Bernd 7. Dezember 2007 um 10:05
Zielgruppen sind dann ein Hilfskonstrukt, wenn sie nur über \“harte\“ Kriterien wie Alter, Geschlecht, Einkommen und unspezifische Affinitäten (etwa Preis, Technik) definiert.
Das weiß die Marktforschung schon lange, manchmal ist das auch schon im Marketing angekommen.
Gefragt sind Einstellung und Psychographie und zwar produkt- oder kategoriespezifisch. Eine allgemeine Wertehaltung und soziale Schichtung (wie z.B. bei den Sinus Lebenswelten) genügt nicht.
Was verbindet etwa einen 15-jährigen mit einer 50-jährigen, die den gleichen Puma-Schuh tragen? Sicher nicht Alter, Geschlecht, Einkommen und Lebenswelt.
Wir führen seit langem spezifische psychographische Konsumenten-Typologien durch. Diese \“funktionieren\“, wie Umsetzungen im Direktmarketing zeigen: der Response steigt, ob bei der Ansprache von Spendertypen, Reisewilligen oder Energie-Verwendern.
Das ist umsetzungsorientierte Marktforschung statt Voodoo.
martin 7. Dezember 2007 um 10:25
@ bernd:
\“Wir führen seit langem spezifische psychographische Konsumenten-Typologien durch. Diese \“funktionieren\“, wie Umsetzungen im Direktmarketing zeigen (…)\“
und wie funktionieren die? steigerung der response auf welchen prozentsatz? von 3 auf 6? erst wenn wir bei 80 % prozent und mehr wären, würde ich behaupten, dass das funktioniert. und dann sind da ja immer noch die agenturen, und am schlimmsten: die kunden (auftraggeber). ihre responserate kann ganz schön steigen oder fallen – kommt drauf an, was auf dem umschlag steht. und das ist nur ein faktor. marktforschung – so wie ich sie kennengelernt habe – war stets rausgeschmissenes geld, was teilweise auch dem arbeitsprozess geschuldet war, der danach kam. nix für ungut.
Erik 7. Dezember 2007 um 10:59
Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh draus. Wenn die Zielgruppen miniaturisiert (schreibt man das so?) und fragmentiert sind, dann heisst das eben nicht, dass sich Menschen für einen Habitus auch gleich das passende Magazin kaufen.
Es gibt eben Themen, die sind nicht magazinfähig. Zumindest nicht so, wie Verlage das angehen.
neue/marketing/klasse 7. Dezember 2007 um 14:11
Ich kann Dir nur Recht geben. Was bleibt? Was hat Bestand und Substanz? Das sind doch m.E. die Fragen, die man sich bei jeder Produktentwicklung stellen muss.
Die Antworten sind meistens recht kurz und lassen sich auf einen kleinen Satz reduzieren. Wenn ich es denn kann. Im gegenteiligen Fall … gehe zurück auf Los und ziehe nicht … Die Erfolge lassen sich meistens nicht mit Marktforschung validieren. Es gibt genügend Beispiele in der Medienlandschaft (z.B. TV Spielfilm), die es vor dem Launch nicht durch die Marktforschung geschafft haben, aber dann trotzdem erfolgreich realisiert wurden. Das wird heute genau so sein, wie eben Anfang und Ende der 90iger.
Warum scheint es aber heute schwieriger denn je zu sein ein erfolgreiches Produkt zu kreieren? Das liegt bestimmt nicht an fehlenden Themen und entsprechenden Zielgruppen. Wie das Beispiel des Frankfurter Pärchens zeigt, kann ich mit einem gesunden Instinkt oder Bauchgefühl, Selbstbewusstsein und ein bisschen Mut eine ganze Menge bewegen.
Wo wir bei den eigentlichen Problemen wären. Wie soll ich ein marktfähiges Produkt entwickeln können, wenn ich die Bodenhaftung verloren habe, weil ich mich im globalen Kongress-Jetset zu Hause fühle. Ohne Bodenhaftung und Konsumentennähe keine Chance. Virales Marketing kann einiges bewirken. Das Produkt muss aber dann nachwievor gut sein. Selbstbewusstsein … hat man bei Ivy bewiesen. Aus einem globalen Ansatz macht man ein lokales Produkt!? Mut? … ist das mutig? Ich frage mich, wo sind die Macher, die für eine Idee brennen, genau wissen, was sie tun, weil sie dem \“Volk aufs Maul schauen können\“ und die ganze Entwicklungs-Mannschaft mitreisen können. Die nicht auf einen diffusen Trend aufspringen und dann ihre Schäflein im Dunkeln stehen lassen, weil sie schon wieder dem nächsten globalen Trend hinterhecheln. Wer will sich eigentlich noch mit dem \“normalen Volk\“ beschäftigen?
Doc Montresor 8. Dezember 2007 um 23:34
Ist nicht allein die Existenz und die Verbreitung des Berufsbildes \“Trendscout\“ schon Hinweis genug auf die Hilflosigkeit einer quasi-objektiven Marktforschung?
Einige Unternehmen halten es ja offenbar für gewinnbringender, auf den Anstrich von Wissenschaft zu verzichten und stattdessen offen mit der Glaskugel zu arbeiten – oder eben mit ausgewählten Leuten, auf deren Gefühl und Eindruck sie schlicht vertrauen (und natürlich trotzdem mächtig daneben liegen können).
Diese Tendenz (oder dieser Trend – sic!) hätte in meinen Augen durchaus einen kulturellen Vorteil: Die relative Unberechenbarkeit der Menschen und ganz individuelle Fähigkeiten und Ausprägungen müssten als ernst zu nehmende Größe endlich breiter anerkannt werden. Vor dem Hintergrund des ganzen Umfrage- und Meinungsbarometerwahnsinns, der zügellos auf eine Degradierung des Individuums zum Herden-, Ankreuz- und Klickvieh steuert, sehe ich in Rückschlägen dieser Art eher einen kleinen Denkzettel in Richtung humanistischer Aufklärung.
OK, ist hoch gegriffen, aber man wird ja wohl noch ein bisschen hoffen dürfen, auch wenn\’s trotzdem nicht gut aussieht. 😉
Dr. Dean 9. Dezember 2007 um 12:53
Wenn Marktforschung im Zeitschriftensektor tatsächlich vor allem bedeuten sollte, Soziotope und daraus folgend, typische Interessenlagen zu erforschen, um daraus ein Blattdesign abzuleiten, dann bin ich gegenüber diesem Ansatz skeptisch, zumal, wenn die tatsächlichen Leseinteressen von Lesern eher wenig (bis: garnichts) mit derartigem Marktforschungsinstrumentarium zu tun haben.
Weiß z.B. jemand, wie eine Modezeitschrift für das \“abgehängte Prekariat\“ aussehen würde? Wie stände wohl in einem Fotojournal für den \“autoritätsgläubigen Traditionalisten\“? Ich frage mich, wie nützlich ist es, wenn man Geschmäcker zu Milleus zuordnet und dann für das vermeintlich einheitlich interessierte Millieu ein soziotopisch optimiertes Magazin konzipiert. Auf mich machen derartige Marktforschungsansätze mehr den Eindruck eines scientistischen Schamanentums.
Das Beispiel mit Fait Main zeigt, in meinen Augen, dass Märkte oft als Entdeckungsverfahren funktionieren. Der Innovator hat Gespür für den eigenen Geschmack, für den Geschmack anderer potentieller Kunden – und probiert es einfach. Wenn es klappt, war es richtig. Mitunter, sowas gibt es auch auf dem Zeitschriftenmarkt, erzeugt ein gutes Produkt seine eigenen Zielgruppe.
Ich vermute, dass die meisten erfolgreichen Produkte und Produktinnvoationen nicht etwa das Ergebnis von Marktforschung und einer hochfeinen Unterscheidung typischer Geschmäcker von Sinus-Milleus sind, sondern eher das Ergebnis von Wagemut und Sinn für ein gutes Produkt.
Manuel 28. Juli 2008 um 11:58
Das \“Efeu-Experiment\“ ist am vergangenen Freitag etwas hastig beendet worden:
http://www.vital-genuss.de/nachdenken/burda-beendet-ivyworld.html
Die Seite ist down, die Redaktion wird aufgelöst. Ob man die Nutzer von Ivyworld.de noch informiert per Newsletter (was passiert mit den Daten? Warum ist Schicht im Schacht etc.) hängt nach meinen Informationen wohl daran, ob überhaupt noch Zugriff auf die Daten möglich ist. Aber eine Weiterverwendung der Community-Daten soll nicht stattfinden, versichert man.