„Schön hier in Garmisch“, denke ich, als die Räder der Turbopropmaschine über die Landebahn huckelten. „Aber: Wollte ich nicht nach Leipzig?“. Den Flug über hatte ich meine Position kaum verändert, geradeaus schauend auf Vortragskarteikarten und ausgedruckte Lesungstexte. Rechts oder links drehen war auch eher schwer, der die Reise operierende Lufthansa-Partner „Contact Air“ trägt seinen Namen zurecht: Es gibt reichlich Kontakt mit dem Nebenmann. Vielleicht wären Single-Fluge mit Contact Air ein Geschäftsmodell? Könnte aber auch zu Anzeigen wegen sexueller Belästigung führen, sobald die Getränke gereicht werden und kaffeedurstige Herren die Sekundärgeschlechtsmerkmale am Gang sitzender Damen streifen.
Der erste Anblick also aus dem Fenster ist weiß. Verschneit. Und das ist man als erderwärmungserwärmter Rheintaler nicht mehr gewöhnt. Wären Kinder an Bord gewesen, hätte wahrscheinlich eines aus Flingern Nord gefragt: „Mama, was ist denn das Weiße?“
Entgegen der Wettervorhersage im Schlager dudelnden Taxi-Radio wurde die Sache auch nicht besser. Überhaupt: Taxis. Deren Zahl tendiert zu Messezeiten im Schneetreiben gen Null, stelle ich fest, als ich versuche, von meinem Hotel wegzukommen, das sich zwar „Achat Messe“ nennt, aber so weit von der Messe weg ist, wie Düsseldorfer Angeblich-City-Hotels von der Stadtmitte, und das mit dem Brühwürstchencharme einer Jugendherberge entgeistert.
Meine Nervosität, ob wir vor unserer abendlichen Lesung nicht noch Schneemänner bauen müssen, damit überhaupt jemand im Publikum sitzt, steigert sich, als ich zum ersten Mal den Ort des Vortragens betrete. Er liegt im Hinterhof des Volkshauses. Das Volkshaus ist ein wunderschön ostalgisches Restaurant-Cafe mit leckerer Soljanka und Tapeten, die schon so mancher FDJ-Feier einen Hauch des mondänen gegeben haben dürfen. Damals, in den 70ern.
Leider aber soll nicht dort gelesen werden, sondern in einem Flachdachbau einmal durch den matschig-pfützigen Hof hindurch. Wegen Eigentümerstreitigkeiten ist die Heizungsleitung zu diesem Bau, einst vermutlich bevorzugte Hochzeitsstätte von SED-Jungfunktionären, gekappt. Nur der nette Volkshaus-Chef und seine eindrucksvollen, an Batmobil-Turbinen erinnernden Gasbrenner, verhindern angesichts von 5 Grad gefühlter Raumtemperatur einen Nervenzusammenbruch.
Dann ein Vortrag beim Masterstudiengang Medien. Michael Geffken, der nicht umhin kann, jedes Mal daran zu erinnern, dass ich mal böse über ihn geschrieben habe, hatte eine ordentlich besetzte Runde zum Thema User Generated Content zusammengetrommelt. Und die staunt erstmal über das MML, das besser ausgestattet ist, als die Verlage, von denen die Vortragenden kommen.
Wir alle auf dem Podium hatten mit Studenten gerechnet, die uns gegenübersäßen. Denkste. Ein Großteil der Anwesenden setzt sich aus teils hochrangigen Vertretern der Lokalpresse zusammen. In der ersten Reihe missmutet dabei Dieter Soika vor sich hin, der Chefredakteur der „Freien Presse“ aus Chemnitz. Was mag ihm den Tag verhagelt haben? Oder ist er immer so? Vielleicht wird in Chemnitz auch rohes Fleisch zum Frühstück serviert. Auf jeden Fall wirft er uns vor, wir hätten was gegen die Arbeit von Lokaljournalisten. Hat niemand auch nur angedeutet, wäre angesichts der Podiumsbesetzung mit „Waz“ und „Rheinischer Post“ auch Unsinn. Katharina Borchert kanzelt er gleich mal als ahnungslos in Sachen Journalismus ab. Bildblogger Stefan Niggemeier giftet Soika an, er fahre ebensolche Kampagnen wie sein Gegner. Dabei nennt der Freipressler „Bild“ „Qualitätsjournalismus“ und machte sich für die Aldi-Berichterstattung stark. Verwunderte Blicke im Zuschauerraum und echte Sorgen um das Betriebsklima bei der „Freien Presse“.
Trotz der zeitlich langen Veranstaltung läuft die Diskussion gut. Anscheinend machen sich einige Verlagsvertreter und Studenten im Osten der Republik kluge Gedanken über das Netz.
Die Zeit vergeht, der Schnee fällt. Die Taxizentrale nimmt nicht mal mehr Bestellungen an. Dunkle Erinnerungen kommen hoch, an jene Cebit, im Jahr 2000, vielleicht auch 2001. Presseabend von Uunet mit Vinton Cerf als Ehrengast, draußen, in einem Lokal am Maschsee. Es schneit. Am Ende rodelte uns der Uunet-Pressesprecher mit seinem winterreifenlosen Dienstauto gen Hotel.
Diese Rolle übernimmt am Donnerstag eine studentische Hilfskraft (vielen Dank!!!) mit Alt-Corsa, die Frau Guttmann, Frau Lyssa, deren Gepäck und mich Richtung Volkshaus schlittert. Im Lesungssaal ist es derweil wenigstens warm, der Hof davor noch matschiger. Werbliche Hinweise fehlen, nur ein dürrer Din-A-4-Zettel an der Außentür verweist auf „Leipzig liest – 50 Meter durch den Innenhof“. Wie ich am kommenden Abend feststellen konnte, scheint das Buchmesse-Publikum an diese kargen Ausschilderungsmöglichkeiten aber gewöhnt, alles lässt sich finden, wenn man nur will.
Schneetreiben also, ein nur schwer auffindbarer Saal und parallel über 50 weitere Lesungen mit Nachwuchsautoren wie Günther Grass – ich richtete mich innerlich auf eine kuschelige Familienveranstaltung ein. Denkste. Rund 100 Leute kommen, kaum ein Platz bleibt frei und es ging auch niemand, als Julius Endert und ich unsere Startmoderation auf bemitleidenswerte Weite so was von in den Sand setzen. Auch die große und nicht abgesprochene Anhäufung leicht ekliger Krankheits- und Todesthemen reißt den Abend nicht nach unten. Gut, der Leipziger isst ja auch die Restesuppe Soljanka und liebt Hackepeter, da ist man rohes Fleisch und merkwürdige Anblicke gewöhnt.
Schön wars und damit nochmal „Danke“ an alle Zuhörenden, Lesenden, Volkshäusler und Messenden. Fotos gibt es bei Flickr, hier der Artikel aus der „Leipziger Volkszeitung“.
Einen Tag Buchmesse gönne ich mir am Freitag. Ich habe ja keine Katzen daheim. Die Faszination einer solchen Messe aber erschließt sich mir aus Lesersicht nicht. Vielleicht liegt es daran, dass es hier im Ballungsraum Rhein-Ruhr viele Lesungen gibt und die Litcologne allein schon für die nötige Grundversorgung an vortragenden Autoren sorgt.
Trotzdem: Voll isses. Vor allem, wenn Günther Grass irgendwo auftaucht. Der Freitag wird zum Grass-Vermeidungstag. Denn überall, wo er auf dem Podium sitzt oder vor einer Kamera oder vor einem Signiertisch, da ist es contactairig voll.
Kaum höre ich Grass krächzende Stimme, drehe ich ab. Das gelingt nicht jedem. Andere müssen ihm sogar folgen.
Die Messe selbst ist eigentlich ein großer Buchladen, in dem man nichts kaufen kann. Das kann man im großen Buchladen, der zur Messe gehört. Außerdem gibt es an Ständen auf Podien Unmengen weiterer Veranstaltungen. Angepreist werden die per an die Wand gepappte Flugzettel, eine Marketingmethode, die mancher noch aus früheren Zeiten kennt, als in England und den USA, Damen des erotischen Gewerbes ihre Leistungen durch ähnliche Zettel in Telefonzellen anpreisten.
Die Lesungen sind entweder völlig überfüllt oder traurig leer. Zur letzteren Kategorie gehören vor allem Autoren, deren Leserschaft sich im überschaubaren Rahmen bewegen dürften. So wie Reinhard Meister, der mit breitem, rheinischen Akzent und Walrossschnäuzer über Grillerlebnisse in Südafrika berichtet. Oder der andere Autor, der vom Hausbootfahren ohne Bootsführerschein berichtet.
Am Abend noch ein dienstlicher Termin. Ulla Meinecke liest aus ihrem Buch, ihr erstes richtiges Sachbuch: „Willkommen in Teufels Küche – Vom Glanz und Elend der Chaotiker“. Ich mag Ulla Meineckes Musik, ihre Art, ihre Auftritte. Zum dritten Mal treffe ich sie nach einer umjubelten und mit rund 300 Leuten ausverkauften Lesung. Und sie selbst kann offensichtlich nur schwer fassen, wie gut dieses ungewöhnliche Buch ankommt. Es ist mehr Essay über chaotische Menschen denn klassisches Sachbuch. Unterhaltsam ist es außerdem. Sehr unterhaltsam sogar.
(Hinweis: Für die Lesung von Ulla Meinecke erhielt ich eine Pressekarte. Bei unserer eigenen Lesung stellte uns die Messe Leipzig Technik und Raum zur Verfügung.)
Nachtrag: Oh Gott, es gibt Videos aus dem Hause Gonzo…
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Kommentare
Marcel 26. März 2007 um 15:47
der unterschied zwischen dem leipziger hackepeter und dem rheinischen mett ist marginal, wollte ich mal so angemerkt haben 🙂
Varzil 26. März 2007 um 16:48
Das allein wäre schon ein schöner Blogeintrag geworden. So geht folgende Sentenz in der Blog-Lesungs-Beschreibung etwas unter:
Zitat:
…So bekomme ich leider auch nicht mit, als Grass die deutschen Medien als \“entartet\“ tituliert. Früher hätte man sich gewundert, woher er so hässliche Worte kennt. Heute ja nicht mehr….
Zitatende
Marc Heckert 27. März 2007 um 21:04
Einen herzlichen Dank aus dem Westzipfel von NRW an die Referenten. Die beider Veranstaltungen übrigens 🙂
Der Tag war die rund 16 Stunden in diversen Verkehrsmitteln und die schneenassen Socken absolut wert. Hoffentlich sehen Sie und Ihre Kollegen das genauso – die Resonanz war ja in beiden Fällen überwiegend sehr positiv.
Ich freue mich schon auf die nächste Lesung, wo auch immer sie stattfinden mag (vielleicht in geheizten Räumen?).
arboretum 27. März 2007 um 22:19
Im Hinblick auf Soljanka und Hackepeter kann man nur hoffen, dass die im Volkshaus ihre Küche besser putzen als ihre Klos. Die hatten nämlich beeindruckende schwarze Ränder unterhalb der Schüsselkante.
Thomas Knüwer 28. März 2007 um 9:10
Wo wir gerade von Soljanka kommentieren: Hat einer meiner geneigten Leser ein funktionierendes Soljanka-Rezept?