Es könnte ein Treppenwitz der Mediengeschichte werden: Sorgt das Internet für neue Zeitungsgründungen? Dort wo Big Ben schlägt, scheint es so zu sein. In meiner Lieblingstadt London tut sich derzeit Spannendes. OK, in London tut sich immer etwas Spannendes. Aber in diesem Fall eben im Zeitungsgeschäft.
London gilt Verlagsmanagern als Musterbeispiel, dass es funktionieren muss mit den Gratiszeitungen. Am Morgen grabbeln sich die Pendler ?Metro? aus den blauen Ständern, nachmittags wird in den Büros um Canary Wharf eine Art Business-Gratiszeitung verteilt, um nur einige zu nennen.
Die Kaufzeitungen haben darauf reagiert und in weiten Teilen umgestellt auf ein U-Bahn-tauglicheres Tabloid-Format. Auch sind sie der Idee vom täglichen Magazin mit geschmackvollerer Optik, Hochglanzbeilagen und Geschenkaktionen erheblich näher gekommen, allen voran der Guardian. Das Billigprodukt wurde also gekontert mit einer Angleichung im Nutzerkomfort bei gleichzeitig höherer Qualität.
Der Kampf aber ist noch nicht vorbei. Gleich zwei neue Gratiszeitungen sollen bald am Nachmittag erscheinen. Die eine kommt von Rupert Murdochs News Corp. Und soll ?The London Paper? heißen.
Sie will antreten gegen den ?Evening Standard?, die einzige nachmittägliche Kaufzeitung – und die englische Qualitätszeitung mit der höchsten Auflage insgesamt. Wobei sich der ?Standard? wie kein anderes englisches Blatt bewegt zwischen Qualitäts- und Boulevardblatt ? zum Feierabend will halt auch der City-Banker leichtere Kost.
Der Verlag des ?Standard?, Associated Newspaper, reagiert mit einer eigenen Gratiszeitung, ?London Lite?, womit die Frage erlaubt sein muss: Wer zum Teufel soll das alles lesen?
Natürlich ist die Zeitungsflug eine Reaktion auf das Internet und die veränderten Informationswünsche der Leser: Wer sich tagsüber jederzeit über die Nachrichtenlage informieren kann, braucht keine Stunden vorher gedruckte Zeitung mehr. Also müssen Zeitungen entweder ihr Informationsspektrum verändern ? oder ihre Erscheinungsweise.
Die Rechnung aber, die Roy Greenslade vom ?Guardian? ein seinem Weblog aufmacht, ist spannend:
?But I can see what Associated are up to at this stage of the war. They have four large guns ready to fire to maintain their grip on London’s media attention: Metro in the morning, London Lite in the mid-morning, the thisislondon website throughout the day, and the Evening Standard on the way home. But Associated is not underestimating the Murdoch challenge. He isn’t known for losing newspaper wars. Let battle commence!?
Da kommen Bilder in mir hoch aus Filmen wie ?Oliver Twist?: Zeitungsjungen konkurrierender Blätter, die Schlagzeilen in die Luft brüllen, während erst dreinblickende Männer mit Schnäuzer und Bowlern auf dem Kopf sich gegenseitig die Nachrichten vorhalten mit Sätzen wie ?Haben Sie die Abendzeitung schon gelesen? Unfassbar!?
In Deutschland wird es so wohl nicht aussehen. Denn hier zu Lande haben wir eben eine Landesstruktur, die einmalig ist in Europa: Deutschland ist die einzige Nation, die ihr Wirtschafts-, Finanz- und Politikzentrum nicht in einer Stadt vereinigt. Folge: Es gibt keine Stadt mit so klar definierten Pendlerströmen wie London oder Paris. Und deshalb ist die Verteilung von Gratiszeitungen ein teures Unterfangen.
Kommentare
Chr. Merz 17. August 2006 um 9:27
Das sehen die Kollegen aus dem eigenen Haus aber anders, oder? Die Qualitätszeitung „BusinessNews“ überzeugt sowohl im Online-Auftritt als auch im Print.
Xe54 17. August 2006 um 10:41
Ich muss sagen, dass ich dir mit den letzten Sätzen zustimmen muss. ich vermisse aber Gratiszeitungen schon. zumindet gehaltvolle. mfg Xe54
Chat Atkins 17. August 2006 um 16:36
Hat nicht irgendwer mal gesagt, das böse Web wäre schuld an den sinkenden Werbeeinnahmen? Das hier klingt mir mehr nach Auto-Kannibalisierung im Print-Bereich.
Alex 21. August 2006 um 13:51
> Deutschland ist die einzige Nation, die ihr
> Wirtschafts-, Finanz- und Politikzentrum nicht in
> einer Stadt vereinigt.
Ist das nicht ein relativ übliches Phänomen in klassisch föderalen Staaten mit mehreren historisch gewachsenen Zentren?
Italien: Rom versus Mailand
Spanien: Madrid versus Barcelona
Niederlande: Amsterdam versus Rotterdam
Thomas Knüwer 21. August 2006 um 13:59
Das ist bedingt richtig. Es sind maximal zwei Städte, die Bedeutung haben. Allerdings hängt eine auch meist hinterher.
In Deutschland aber lässt sich nicht einmal ein Zweikampf aufbauen. Politik in Berlin, Finanzen in Frankfurt und Wirtschaft in… ja, eigentlich überall.