Das Leben ist ein wenig anders, in den Alpenregionen. Wäscheleinen, zum Beispiel, sind eine manchmal kontraproduktive Sache. Und ohnehin hat der Schneeeinbruch in Sestriere so einige Nebenwirkungen, berichtet Olympia-Korrespondent Grischa Brower-Rabinowitsch. Es gibt doch nichts schöneres als strahlenden Sonnenschein, herrliche Tiefschneelandschaften und einen kleinen Spaß am Morgen.
Als ich heute aufwache und aus dem Fenster gucke, bin ich schlagartig bester Stimmung: Nachdem es fast zwei Tage durchgeschneit hat, bretzelt die Sonne mit voller Kraft und die Aussicht von unserem kleinen Balkon ist grandios – nur der Baukran stört ein bisschen:
Kaum habe ich die Fotos gemacht, fällt mein Blick auf ein Stoffbündel am Boden. Nachdem auch meine letzte Hirnwindung richtig wach ist, erkenne ich: meine Hose!
Mein Kollege Ralf und ich hatten vor zwei Tagen Klamotten herausgehängt, damit sie ein wenig auslüften können. Nach dem Motto „Aus den Augen aus dem Sinn“ haben wir die Sachen natürlich gleich wieder vergessen. Meine Hose ist nach zwei Tagen Schneeberieselung jedenfalls gut in Form – weil steifgefroren.
Keine Minute später kommt Ralf rein. Ich zeige ihm die Hose, bevor ich sie über die Heizung hänge. Ralfs Reaktion: „Und wo ist meine Hose?“
Berechtigte Frage, gute Frage. Oben liegt sie nicht ? wir finden nur noch ein T-Shirt. Ein Blick vom Balkon: Bestimmt zwanzig Zentimeter Neuschnee! Und darunter müsste die Hose sein. Mutmaßlich. Ralf grummelt ein bisschen vor sich hin: „Na, dann muss ich da wohl mal runter.“
Er nimmt Jacke, Schuhe und eine kleine Portion schlechte Laune mit und durchpflügt mit seinen Elbkähnen (Schuhgröße 50!) wie ein Eisbrecher den Garten:
Als erstes taucht ein T-Shirt auf. Die Entdeckung kann ich leider nicht fotografieren, weil ich gerade lachend in der Küche sitze ? und ich will die Nerven meines Zimmergenossen und Mit-Berichterstatters nicht mehr strapazieren als unbedingt nötig. Nach einer Weile kommt Ralf wieder hoch ? ohne Hose. „Vielleicht wartest Du einfach, bis es wieder taut“, rutscht mir heraus und er grinst nur gaaaanz leicht angenervt.
Ein paar Minuten später gehe ich in unser Zimmer, um meine Jacke zu holen ? die Eisbrecher-Aktion hat leider wertvolle Zeit gekostet. Und was sehe ich da? Was guckt da unter meiner Jacke heraus?
Super Start in den Tag. Und dann müssen wir auch noch den Berg hoch. Gestern Nacht haben wieder zwei Fahrer und zwei Hostessen vom Deutschen Haus in unserer Wohnung übernachten müssen, weil das Schneechaos in der Nacht gigantisch war. Und wir (ich!) dürfen das Auto ohne die vier, die noch selig schlafen, die 25 Kilometer Serpentinen zum Deutschen Haus hoch fahren:
Blick auf das Starthäuschen der Herren-Abfahrt. Hinter dem Bergsattel liegt Sestriere:
Oben angekommen läuft bereits der Riesenslalom der Herren. Zum zweiten Durchgang werde ich nun gleich hingehen – endlich einmal etwas anderes sehen. Denn irgendwie schafft es Ralf immer wieder, dass ausgerechnet ich zum Langlauf gehe. Drei Mal war ich schon dort. So langsam kommt mir das vor wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“.
Eigentlich wollte ich deshalb davon nichts mehr schreiben, aber gestern ist die Bus-Situation eskaliert: Nach dem Wettbewerb stehe ich mit ungefähr dreißig anderen frierenden Menschen an der Haltestelle. Ein Shuttle nach dem anderen fährt einfach vorbei.
Das Problem: Die Busse kommen vom Eingang für normalsterbliche Zuschauer, der zwei Kilometer von der Haupttribüne in der Langlaufarena weg ist. Das heißt: Sie sind rappelvoll. Und wenn alle Sitzplätze belegt sind, lassen die Fahrer keinen mehr rein.
Der Wind ist schneidend und es schneit schon ziemlich heftig. Nach ungefähr einer halben Stunde, die wir alle an der Haltestelle schon stehen, höre ich irgendwann auf, die Busse zählen, die uns ignorieren. Zur gleichen Zeit platzt den Italienern der Kragen. Plötzlich stürmen ungefähr 15 Mann auf die Straße und bilden eine Art menschliche Straßensperre. Doch auch das nützt nichts, die Busfahrer lassen nicht mit sich reden. Abgesehen davon, dass ich von dem wütenden Geschimpfe kein Wort verstehe.
Dummerweise habe ich meine Kamera, deren Batterie wieder aufgeladen ist, nicht dabei. Denn die Meute schreckt auch nicht davor zurück eine ganze Polizeieskorte von neun Autos anzuhalten und auch den Fahrer des ersten Wagens wütend zu beschimpfen. Der bleibt ziemlich cool ? helfen kann er aber scheinbar auch nicht.
Nach einer ganzen Stunde, die ich schon auf einen Bus warte, reicht es mir und den anderen. Ein Deutscher Fan, der neben mir steht regt sich wahnsinnig auf und sagt: „Dasch isch doch unmöhglisch“ oder so ähnlich. Wir verlassen uns nun auf den guten alten Daumen: Per Anhalter nach Sestriere.
Es dauert auch nicht lange, und ein Auto hält an, in das ich auch einsteigen kann. Ein Franzose nimmt uns vier Durchgefrorenen mit. Die drei Italiener, die auch mitfahren, steigen schon nach ein paar Kilometern wieder aus. Der Franzose erzählt mir dann in sehr passablem Englisch, dass er Journalist sei, und ob ich ihm ein paar Fragen beantworten könnte. Klar doch, sage ich – Kollegen hilft man gerne.
Und dann fragt er mich, ob in Deutschland Biathlon wirklich so viele Zuschauer hätte. „Logisch“, antworte ich. Biathlon ist total beliebt. Wo der Erfolg ist, gibt es immer viele Fans. Und kennen die Menschen in Deutschland die Biathleten? Er ist total überrascht, als ich ihm erkläre, dass die Zuschauer wissen, wer die Topstars sind.
„Oh, wissen die auch, wer Raphael Poirée ist?“
„Klar!“
„Und Vincent Defrasne?“
„Natürlich!“
Dann erzählt er mir, dass die Menschen in Frankreich Biathlon ungefähr so sehr interessiert, wie eine tote Ratte in den Pariser Katakomben. Das wundert mich schon ein bisschen, denn Defrasne ist ja gerade überraschend Olympiasieger geworden.
„Doch, doch, Biathlon zählt in Frankreich nichts.“
Erstaunlich ? die wissen wohl nicht, was gut ist, die Franzosen…
Nach meinem Innendienst will ich abends noch zum letzten Lauf der Bobfahrer. Inzwischen hat es so heftig geschneit, dass mein Fahrer Bene und ich nach einem Kilometer für eine halbe Stunde auf der Stelle stehen – es geht nichts mehr: Stau auf den Serpentinen.
Eine Stunde später bin ich wieder im Deutschen Haus ? es war fast unmöglich nach Cesana zu kommen, außerdem war ich inzwischen zu spät.
Soviel zum netten Spruch von Herrn Kerner gestern in seiner Sendung, er halte die Aufregung um den Schnee für übertrieben. „Ein Schnellkurs im Anlegen von Schneeketten reicht aus“ und dann sei doch alles in Ordnung. Kerner hat wohl nur nicht bedacht, dass die (einheimischen) Helden der Straße hier nicht besonders viel von Schneeketten halten. Da kann man sich die Dinger doppelt um die Reifen legen, es nützt nichts, wenn andere Unfälle bauen.
Abends habe ich mir dann noch eine Kamera ausgeliehen und die Schneemassen rund um das Deutsche Haus fotografiert:
Leider hat die Kamera mich nicht immer so ganz verstanden, oder ich sie nicht… Das Dach des Deutschen Hauses wird geräumt:
Verschneite Stufen zum Haus:
Beleuchtetes Geländer auf dem Weg hin zum Haus:
Und die Lampe, die die letzten Stufen zum Eingang abends in blaues Licht taucht:
Autor: Grischa Brower-Rabinowitsch.
Kommentare
genevainformation 20. Februar 2006 um 14:11
Das ist hier bei weitem die *beste* Olympiaberichterstattung überhaupt. Vielen Dank dafür!
(und alles per RSS frei Haus..perfekt!)
Geneva Information 20. Februar 2006 um 14:13
Wer stures Erfolgeaufzählen satt ist und ein bi�chen Hintergrund schnüffeln will, der findet beim Handelsblatt die Ringe-Reporter: Ringe-Reporter (XI): Durchgefroren bis auf die Hose [Indiskretion Ehrensache]
…
Grischa Brower-Rabinowitsch 20. Februar 2006 um 18:03
Fein, dass Ihr in der Schwiez auch Deutsch versteht 😉 Danke für das Lob, freut mich!