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Ein Interview mit dem Chef des Journalisten-Netzwerk Recherche sorgt für einen traurigen Wochenabschluss: Seine Äußerungen dokumentieren, dass der klassische Journalismus das Internet noch immer nicht begriffen hat. Eigentlich wollte ich schon längst ein Aufnahmeformular weggeschickt haben. Das für das Netzwerk Recherche nämlich, eine Organisation, die sich dem investigativen Journalismus verschrieben hat. Nun werde ich mir das gründlich überlegen: Denn mit sich im eigenen Saft drehenden Gestriggkeitsfanatikern möchte ich nicht meine Zeit verschwenden.

Als solcher kommt zumindest Netzwerk-Chef Thomas Leif in einem Interview für das Projekt Webwatching rüber. Es geht dabei um Blogs und Leif demonstriert als Rollenmodell, dass Journalisten noch nicht begriffen haben, was dieses Interbumsdings da ist.

Eines vorweg: Wer glaubt, alle Blogger wollten Journalisten sein, denkt vollkommen falsch. Die wenigsten Blogger wollen Journalisten sein, es ist sogar ein verschwindend geringer Teil. Weblog-Autoren haben Spaß am Schreiben und meist Spaß an der Diskussion – und das sollte jeder Freund der Demokratie ja erstmal ziemlich begrüßenswert finden.

Was mich geradezu schockiert ist das selbstkritikfreie Herumtragen eines Journalistenbildes, das täglich an der Realität zerschellt:
„Professionelle Journalisten selektieren verschiedene Quellen und analysieren diese anhand von Fachwissen. Sie versuchen, sich bei der Recherche ein möglichst objektives Bild eines Sachverhalts zu schaffen, das unbeeinflusst ist von ihren eigenen sozialen Kontexten und Ansichten.“

Das kann Leif nicht ernst meinen. Oder er schließt weite Teile seines Berufsstandes aus dem Bereich „professionell“ aus. Denn Medien sind Tendenzbetriebe. Und somit sind sie in den seltensten Fällen „unbeeinflusst von ihren eigenen sozialen Kontexten und Ansichten“ (ich hoffe übrigens, seine journalistischen Werke sind unterhaltsamer und angenehmer zu hören als seine Interviewsprache).

Gerade Zeitungen stehen für Ansichten, vertreten Meinungen und nehmen eine Haltung an. Diese Grundhaltungen der Arbeitgeber decken sich oft nicht einmal mit den Einzelmeinungen der Redakteure. So gab eine gewisse Zeitung in Hamburg eine Wahlempfehlung – und in einem TV-Beitrag entpuppte sich ein Großteil der Redaktion als Wähler einer ganz anderen Partei. Und natürlich soll mit dieser Meinung etwas erreicht werden: die Überzeugung des Lesers, nämlich.

Subjektivität ist übrigens nichts schlechtes – im Gegenteil. Während meiner Zeit auf der Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten bekam unser Schulleiter Ferdinand Simoneit Test-Seiten für das Legenden umwobene „Spiegel“-Konkurrenzprojekt aus dem Hause Bauer zugespielt. Logische Schulaufgabe: Analyse.
Optisch waren die Sachen auf der Höhe der Zeit, ja sogar teilweise ihrer Zeit voraus. Doch die Texte… Dröge, staubig, unreizend. Warum? Wir diskutierten uns die jungen Köpfe heiß, während Simoneit die Antwort schon kannte. Sein Kontaktmann hatte sich bei ihm nämlich über das Grundübel des Projektes ausweint: Es durfte keine Meinung in die Artikel, ganz neutral sollten sie sein, nichts sollte subjektiv eingeschätzt werden.

Seien wir ehrlich: Leif weiß das auch. Schließlich lobt er ja das Bildblog. Und dass die „Bild“ unvoreingenommen an Themen herangeht, wird er dann nicht behaupten wollen. Im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass „Bild“-Reporter – die ohne Frage auch jede Menge exklusive Polit-Geschichten ausgraben – nicht unter „professionelle Journalisten“ fallen. Und übrigens: Auch das Bildblog ist grundsätzlich voreingenommen – davon lebt es ja gerade.

Unterhaltsam auch, wenn Leif über politische Kommentare spricht:
„Es werden beispielsweise bewusst andere niedergemacht, ohne dass jemals persönlich mit ihnen in Kontakt getreten wurde.“
Ach nein, hier geht es ja wieder um Blogger. Denn die sind ja die nicht denkenden, die nicht argumentierenden.

Für die Recherche in Weblogs findet Leif natürlich auch gleich ein tolles Beispiel:
„Wenn zum Beispiel jemand einen Film über die homosexuelle Szene und das Barebacking, also das bewusste Spiel mit dem HIV-Risiko, machen möchte, dann kann er über Blogs möglicherweise mit Leuten, die risikoreich Sex haben, in Kontakt kommen.“

Ja, so richtig Pfui bah ist es, das Internet. Schwule und Aids und so. Das gibt es in Weblogs. Aber doch keinen Journalismus!

Aus Leifs Worten spricht eine Mischung aus Internet-Phobie, Hilflosigkeit gegenüber neuen Medien und Ignoranz gegenüber den unbestreitbaren Problemen der Journalistenbranche.

In einer Zeit, da problemlos Inhalte im Lifestyle Bereich gekauft werden können, da Medien sich zusammenschließen um Politik zu machen in Form der Anti-Rechtschreib-Reform-Bewegung und da die Fehlerqoute anschwillt, verlieren immer mehr Leser, Zuhörer und Zuschauer das Vertrauen in die klassischen Medien. Gleichzeitig tun Journalisten meist alles, um sich selbst als Person zu verstecken.

Warum aber soll ein Leser noch einem Medium trauen, dessen Produkte immer häufiger voreingenommen und Fehler behaftet sind – und sie nicht mal die Urheber dieser Geschichten kennen? Dann doch lieber subjektive, Fehler behaftete Weblog-Artikel von Personen, die man einschätzen kann (eben weil sie mehr von sich Preis geben) – und die noch dazu unterhalten.

Wenn ein Journalist die Veränderung des Medienkonsums durch das Internet als unseriöse Modeerscheinung abtut, stellt er seine eigenen Kunden als dumm dar – und das war schon immer ein Fehler. Egal in welcher Branche.

Nachtrag: Der Werbeblogger bringt es sehr schön auf den Punkt…

Wie gestaltet sich das typische Gespräch zwischen Journalist und Blogger?
Sagt der Elefant zum nackten Mann: Wie atmest du nur durch das kleine Ding!?


Kommentare


Björn Eichstädt 3. Februar 2006 um 15:22

Ich stimme hier einfach mal voll und ganz zu. Die kritische Haltung vieler Journalisten kommt wirklich aus dieser Ecke. Ein weiterer Punkt, nämlich: „Wer will das denn alles lesen“ – impliziert einen ähnlichen Ansatz.

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azrael74 3. Februar 2006 um 15:50

Diese Diskussion wird leider so schnell nicht zu beenden sein. Das Internet ist für viele (ältere) Journalisten ein Hort des Bösen. Welche Möglichkeiten (Kontaktaufnahme mit Menschen, Recherche, Meinungsbildung etc.) das Netz Journalisten bietet sehen sie einfach nicht.

Wie sollen solche Zeitgenossen die Blogosphäre verstehen?

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Bjoern Hasse 3. Februar 2006 um 16:10

Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Blogger als Journalisten bezeichnen (von denen, die es sind – Ihnen, Mario Sixtus und Co. – einmal abgesehen), sondern dass vielmehr der Vergleich beständig von außen herangetragen wird.
Ich lese den Vergleich, wenn Kritiker über magelnde Recherche reden, und vermelden, man vermisse dort eben die Grundlagen des Journalismus.

Und: ich lese den Vergleich, wenn Blogs und ihre Autoren wieder als „die neuen Medien“ gehypt werden. Tun sie dies selbst?

Blogs lassen sich nicht an Journalismus messen, geschweige denn ließe sich Journalismus an Blogs messen.

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Thomas Mrazek 3. Februar 2006 um 17:08

Freilich ist Deine Kritik an Thomas Leifs Äußerungen okay. Das Netzwerk Recherche (NR) nun gleich zum Netzwerk der Verstaubten durch den Kakao zu ziehen, ist allerdings übertrieben. 2005 veranstaltete das NR bspw. eine Fachtagung zum Online-Journalismus „Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der Internet-Kommunikation“, bei der man sich zum Teil sehr ausführlich und konstruktiv mit Weblogs auseinandersetzte. Die 160-seitige Doku kann übrigens gegen Portoersatz bestellt bzw. als PDF runter geladen werden. Und auch ansonsten leistet das NR eine hervorragende Arbeit.

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pm 3. Februar 2006 um 17:43

Richtig. Blogs und Journalismus sind nicht dasselbe.

Ich sehe in den Blogs ein völlig neues Feld – eben die Blogosphäre, die der unmittelbaren Kommunikation. Ich blogge nicht allzuviel, aber mit steigender Tendenz, und finde diese unmittelbare Kommunitaktion über interessante Themen wichtig, Blogs haben mir eine neue Dimension erschlossen.

Journalismus bedeutet für mich etwas anderes: Information und Urteil – jawohl, mit Tendenz, aber auf mir sonst nicht erreichbaren Informationen aufgebaut, und (mehr oder weniger) „verdaut“ -durchdacht, vielleicht auch kommentiert. Deshalb lese ich auch viel „Journalismus“ (z.B. das Handelsblatt – auch ein Tendenzbetrieb, deshalb lese ich es auch) und würde diesen „Konsum von journalistischen Leistungen“ nicht missen wollen (Bemerkung: ich lese jetzt schon fasst ausschliesslich auf dem Netz). Da ich schon für meine Arbeit viel Information und Meinung brauche, könnte ich dies nur über Blogs gar nicht kriegen – so nützlich Blogs dabei auch sind.

Das Netz bietet mir also beides: Journalismus (was man früher einmal „Zeitunglesen“ genannt hat) und unmittelbaren Gedankenaustausch – und natürlich noch vieles andere mehr.

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jo$ blog-o-matic 3. Februar 2006 um 18:11

Ich habe gerade den Artikel des Spiegel mit einem Interview mit dem Vorsitzenden der Journalistenvereinigung “Netzwerk Recherche” Thomas Leif gerade gelesen und mich aufgeregt: Über mich!
Ich wohne in jo$ blog-o-matic; da steckt das W…

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Günther Jungspund 3. Februar 2006 um 18:44

„[…]da die Fehlerqoute anschwillt“ So liebe ich Selbstironie! Vorsicht, falsche Schublade: Objektivität und Recherche sind zwei paar Schuhe. Herr Leif spricht über die „Bequemlichkeitsfalle bei der Recherche“, nicht über den fertigen Artikel (der logischerweise nie völlig objektiv sein kann, das haben Sie bestimmt auch in der Georg von Holtzbrinck-Schule gelernt). Wenn man tendenziös recherchiert, betreibt man keinen professionellen Journalismus. Punkt.

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Gerold Braun 3. Februar 2006 um 19:41

Haben sich nicht der „Kanibale von wasweißichwo“ und sein Lustpartner im Internet zu ihrem verpersen Säx gesucht und gefunden? (Bestimmt in so einem Blog).
Und welches Wort benutzt der Herr Leif am häufigsten – BILD vielleicht?

Nachtigall, ick hör dir trapsen ..

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ralph 3. Februar 2006 um 21:03

Gut gegeben und klasse auf den Punkt gebracht! Ich habe mit Genuss gelesen. Danke!

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tknuewer 4. Februar 2006 um 12:50

@Thomas Mrazek: Das klingt interessant, schaue ich mir Montag an. Aber: Hat das schon mal jemand dem Vorsitzenden erzählt?

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tknuewer 4. Februar 2006 um 18:00

Keine Sorge, ich hab das Interview zu Ende gelesen. Und allein die Nennung des HIV-Beispiels beweist, was der gute Herr Leif von dem Thema und vom Internet insgesamt hält. Auch seine kruden Bemerkungen zu den Suchresultaten von Google im Zusammenhang mit journalistischer Arbeit deutet auf eine gewisse Unkenntnis in Sachen E-Medien hin.

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arboretum 5. Februar 2006 um 11:26

@ sascha: Müller-Blumencron bezeichnet sich auch schon ‚mal selbst als Blogger: „Wir machen auch ein Blog, und das heißt Spiegel online.“
Hat er am 12. November 2005 in Hamburg verkündet. Und gar nicht verstanden, warum so viele im Publikum lachten.

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Gerold Braun 6. Februar 2006 um 9:12

Was mich an der ganzen Sahe wundert ist, dass der Meister scheinbar so unverständlich spricht. Während die meisten genau verstanden haben, dass Herr Leif Bloogen irgendwo in der Säx Schmuddelecke ansiedelt, meinen seine Jünger ihn deuten zu müssen.

Netter Versuch, Herr Skowronek. Im Ausdruck zwar ein bißchen verschwurbelt (sind Sie in der IT-Branche?), aber sonst wirklich nett. Und „Ihr habt es gar nicht gelesen. Und wenn doch, dann nicht verstanden“, Herr Jungspund, so argumentieren Fundamentalisten.

Es muss einen Grund geben, warum Blogs so abgehen, oder nicht? Vielleicht sollten Sie in Ihrer „Sekte“ mal darüber diskutieren, falls das erlaubt ist. ;-))

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Günther Jungspund 6. Februar 2006 um 12:53

Soso, Herr Braun, ein Fundamentalist… Sie haben ja offensichtlich nicht einmal meine Kommentare gelesen (und mich übrigens falsch zitiert). Meiner Meinung nach wird Herr Leif völlig unberechtigt in eine Ecke gedrängt und ich mutmaße, dass das daher rührt, dass die meisten Kommentatoren sich nicht einmal die Mühe machen, das Originalinterview zu lesen.

Und meiner Meinung nach entwickelt sich die Diskussion hier daher nach dem „Stille Post“-Prinzip: Was Herr Leif *wirklich* gesagt hat, ist schon längst in den Hintergrund gerückt. Beispielsweise schockiert Herrn Knüwer das „selbstkritikfreie Herumtragen eines Journalistenbildes, das täglich an der Realität zerschellt“. Eine Unterstellung, die auf Herrn Leifs Äußerungen in keinster Weise zutrifft, das merken Sie selbst, wenn Sie das Interview aufmerksam durchlesen. Denn da ist genau von Selbstkritik die Rede und der Diskrepanz zwischen Realität und Ideal.
Und noch einmal: Herr Knüwer schreibt von fertigen tendenziösen journalistischen Produkten, während Herr Leif die oftmals dünne bzw. einseitige Recherche von Weblog-Betreibern thematisiert, die deren Einträgen vorausgeht. Zudem setzt er Blogger mit keinem Wort Journalisten gleich.
Aber ihre Kollerkommunikation hat schon Niveau, das muss ich ihnen lassen. Ich bin übrigens kein „Netzwerk Recherche“-Mitglied, falls Sie das mit „Sekte“ meinten. So weit kommt es noch! ;-)))

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Liebes Tagebuch 6. Februar 2006 um 17:15

Liebes Tagebuch,

langsam komme auch ich nicht mehr umhin, mich um Aussagen über die geistigen Ergüsse des Thomas L. zu drücken.

Ich will aber gar nicht groß tönen, vieles ? eigentlich zuvieles ? ist schon gesagt worden. Darum freue ich mich, dass mi

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. segert.net weblog . 12. Februar 2006 um 1:43

Auf der Suche nach Vorurteilen über Weblogs bin ich auf Mentalpsychologie-Netz gelandet. Dort übt Stefan Krempl sich in übelster Bloggerbeschimpfung. Dagegen hören sich die Ausführungen des Herrn Leif geradezu harmlos an, die er in einem Interview…

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webcat72 28. März 2006 um 22:54

Sie waren bei der BJV-Podiumsdiskussion zum Thema „Innovationen im Weblog“ dabei, oder ? als Mäuschen in der Ecke …
Das ganze Podium mit einer Ausnahme aus Österreich und einer Politikerin, die da pragmatischer war: Leif live *g*

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