Es ist erst vorbei, als die beiden jungen Männer in den leuchtend roten Westen Junior Consultant Tanja-Anja an den Schultern zu fassen kriegen. Geübt biegen sie ihre Arme nach hinten, mit einem Schmerzensschrei geht sie vor ihrem Bürostuhl auf die Knie. „Neeeeeiiiinnnnnn!!!! IHR KRIEGT MICH NICHT!“, kreischt sie, wild zuckt ihr Kopf hin und her, die blonden Haare verdecken einen wirren Blick. Schließlich gelingt es den beiden Sanitätern, die Zwangsjacke anzulegen.
Draußen, vor der massiven Tür der kleinen PR-Agentur am Rande der Stadt stehen mit bleichen Gesichtern die Senior Consultants Alexandra und Lars, Aushilfsgrafikerin Svenja und die bulgarische Sekretärin Polia Spalier, als Tanja-Anja durch das Treppenhaus geführt wird.
„Heeelft mir, sie, sie wollen mich entführen… Es sind zwei, versteht Ihr? ZWEEEEIIIII!!!!!! UND MIT DEM ARZT DREI!!!! DREIUNDZWANZIG!!!!!!“.
Langsam verhallt ihr Schrei in dem rau betonierten Treppenhaus, das der Architekt als Bauhaus-Stil pries, kurz bevor er sich mit den letzten Geldern des offenen Immobilienfonds absetzte, der den Mental Tower baute, in dem die kleine PR-Agentur residiert. Künftig wird der Werbespruch des Vermieter („Let your thoughts fly at the Mental Tower“) für die Umstehenden eine neue Bedeutung haben.
„Chäätest Du kedacht, daass so äändet?“, fragt Polia Sabine, während eine kleine Träne sich über ihren schmalen rechten Wangenknochen arbeitet. Sabine schüttelt den Kopf, und schaut hinab in des karge Treppenhaus, wo sich gerade noch ihre Lieblingskollegin wand.
Nein, damit hatte niemand gerechnet, bei jenem ersten Meeting mit Jobscout24.
Wie eine ferne Erinnerung erscheint jener Morgen, da Managing Partner Marcel zum ersten Mal auf Krücken in das Großraumbüro humpelt. Bester Laune ist er, der leidige Rollstuhl ist bei Ebay eingestellt, endlich geht es aufwärts mit der Reha. „Tanja-Anja, Lars – um elf im Konfi. Jobscout24 kommt“, bellt er durch den Raum.
Jobscout24, jene Online-Stellenbörse, will mehr auffallen. Präsenter sein in den Medien. Und dafür soll die kleine PR-Agentur sorgen. Für Fernsehwerbung wie beim Rivalen Monster aber reicht das Budget nicht. Später am Abend sitzen Lars und Tanja-Anja noch immer am Tisch des gläsernen Konferenzraums und werfen sich Ideen zu. Irgendwann gegen elf reicht es. „Liste nochmal auf, was wir haben“, sagt Lars entnervt.
„Also erstens: Für jede vermittelte Person eine ausführliche Pressemitteilung. Zweitens: Ein Company-Blog. Drittens:…“
„Stop! Das ist es!“
„Wie jetzt?“, fragt Tanja-Anja und kräuselt ihr Stupsnäschen.
„Na Zahlen! Wir machen jeden Monat eine Job-Zahl. Also zum Beispiel die durchschnittliche Zahl der täglichen Bewerbungen, die eine Online-Anzeige bringt. Das kann Jobscout aus der Datenbank generieren und wir tun so, als ob das repräsentativ wäre.“
Tanja-Anja reißt ihre Arme nach oben: „Yes! Super-Idee!“
Auch Marcel ist am nächsten Tag angetan. Künftig soll Tanja-Anja eine monatliche Pressemitteilung rausschicken, „wenn Du Dich richtig reinhängst, reden wir mal über Senior-Status“, gurrt Marcel, als Lars schon wieder im Großraumbüro sitzt. „Übrigens finde ich diese Bluse ganz reizend“, ergänzt der Managing Partner.
„Äh, die ist doch eingelaufen. Ich hatte nur keine andere mehr“, antwortet Tanja-Anja.
„Eben“, haucht Marcel.
Das Thema für die erste Pressemitteilung ist schnell gefunden:
„Die Karrierezahl im Januar: 2. Die meisten Jobsuchenden werden am zweiten Tag der Woche, am Dienstag, aktiv.“
Nur warum? Darüber gibt es natürlich keine Daten. Tanja-Anja grübelt. Und trinkt noch einen Tee. Und grübelt. Und knabbert einen von Polias Jutekeksen. Und grübelt. Zwei Tage später hat sie endlich alles beisammen:
„Montags sind Bewerber vielleicht noch in Wochenendstimmung oder zu verschlafen. Erst Dienstags in der Mittagspause werden Jobs gesucht. Der Online-Karrieremarkt verzeichnet dann die meisten Zugriffe auf seine Website. Zwischen 12.00 und 14.00 Uhr werden Bewerber aktiv und informieren sich im Internet über Themen rund um die Jobsuche und greifen auf Stellenmärkte wie den von JobScout24 zu. Die Karrierewoche fängt also erst am Dienstag an. Auch wer keinen neuen Arbeitgeber sucht, kann auf der Internetseite von JobScout24 hilfreiche Informationen zum Thema Job und Karriere finden.“
Der Kunde liebt die Idee. Und so gräbt sich Tanja-Anja immer stärker in die zahlenübersäten Ausdrucke, die per Post ankommen. Eine Woche später drängt sie Sabine in der Teeküche in eine Ecke. Ganz leise flüstert sie: „Weißt Du eigentlich, dass alles mit der Zahl 23 zusammenhängt? Dass die Welt eigentlich den Illuminati gehört?“Sabine senkt ihren Blick: „Was?“
„Nicht so laut“, wispert Tanja-Anja. „Die Illuminati. Ich bin darauf gestoßen, weil es auf eine Jobscout24-Anzeige durchschnittlich 23 Bewerbungen von braunäugigen Männern über 1,72 gibt. Das ist eine Geheimorganisation, die die Welt beherrscht. Und ihre Erkennungszahl ist die 23, verstehst Du. Und deshalb ist Jobscout auch von den Illuminati beherrscht. Wir sind alle Teil des Spiels.“
„BITTE?“
„Pschschscht!“ Tanja-Anja blickt sich ruckartig um. „Ich bin mir sicher. Wir müssen alle vorsichtig sein. Nimm doch nur die erste Pressemitteilung. 2 – am zweiten Tag der Woche schicken die meisten Bewerber angeblich ihre Bewerbung ab. Und wann kommt die an? Na? Am dritten Tag der Woche. 2 und die 3 – das ist 23.“
Sabine schaut ihre Kollegin entgeistert an. „Ja, sicher. Was sonst?“ Schnell verlässt sie die Teeküche.
Am nächsten Morgen beobachtet sie, wie Tanja-Anja auf der Straße sich von Hauseingang zu Hauseingang arbeitet. Immer wieder verharrend, immer wieder um die Ecke lugend, als stünde ein Scharfschütze auf dem Dach, der auf sie zielt.
Im Großraumbüro schrickt sie zusammen, sobald ein Besucher kommt, mehrmals täglich erklingt von ihrem Platz ein geschocktes Hauchen, so als ob ihr gerade per E-Mail der Tod von Robbie Williams verkündet worden wäre. Beim gemeinsamen Salat in der Mittagspause fehlt sie, ihr Essen bringt sie von daheim mit: Verpackt in Tupper-Dosen mit Vorhängeschloss.
Ein paar Tage später klingelt es nachts bei Sabine. Schlaftrunken wirft sie einen Blick auf den Wecker: halb vier. Mit klopfendem Herz haucht sie „Jaaa?“ in die Gegensprechanlage neben der Tür. Es flüstert zurück: „Ich bins, Tanja-Anja. Bitte lass mich rein.“
Entsetzt blickt Sabine auf das zitternde Wesen, dass die Treppe hinaufhastet. Wirr sind die blonden Haare, die Trainingshose unter dem langen Mantel ist fleckig. Mit hektisch auf- und abwippenden Knien sitzt Tanja-Anja dann auf dem Sofa und redet ohne Pause, während sie ihre Hände knetet: „Sie regieren uns schon, verstehst Du? Merkel gehört auch dazu. Wieviele Parteien sind denn in der Regierung? Na? Zwei! Die erste Zahl von 23. Weißt Du wie hoch die Kuppel auf dem Reichstag ist? Na? 23 Meter! Wann war die Wiedervereinigung? Häh? Am 3. Oktober 1990. Dreipluseinsplusnullpluseinsplusneunplusneunplusnull – macht 23! Horst Köhler wurde wann gewählt? 23. Mai 2004! Und Merkel? Am 18. September 05 – gibt auch 23! SIE HABEN UNS IN DER HAND!“, brüllt Tanja-Anja und fällt Sabine weinend in die Arme. Die hält ihre Kollegin, bis sie einschläft.
Am nächsten Tag in der kleinen PR-Agentur kündigt Marcel eine große Feier an: „Also Leute, mein Birthday steht an. Und da werden wir richtig abhotten. You’re all invited to our meeting room! Ach ja, das ist dann nächste Woche Mittwoch. Am 23.!“ Tanja-Anja sinkt ohnmächtig zu Boden. Als sie wiederaufwacht schickt Marcel sie nach Hause: „Hast echt nen good job gemacht bei Jobscout. Relax, babe.“
Doch Tanja-Anja kehrt zurück. Spät am Abend, als nur noch Marcel in der kleine PR-Agentur sitzt, weil er seine Steuerklärung macht. Davon aber erfahren die anderen Mitarbeiter erst am Morgen, als sie das verwüstete Großraumbüro sehen, auf dem kein Ordner mehr neben dem anderen steht, sich die zerriebenen Blätter von Polia zahleichen Teesorten wie brauner Schnee über die Tische gelegt haben und Marcel vor Polias Schreibtisch sitzt: gefesselt und geknebelt auf seinem Bürostuhl. Hinter ihm: Tanja-Anja mit der Bohrmaschine, die Lars immer mal wieder seinem Kumpel mitbringen wollte, der in der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im vierten Stock des Mental Towers arbeitet.
„Errrrrrrrrr gehört auch dazu, zu der Verschwörung“ erklärt Tanja-Anja in einem merkwürdigen Singsang, der ein wenig an Gollum aus „Herr der Ringe“ erinnert. „Sie wollen unsssss verniccchhhhten. Uns beherrrschschschschennnn…“
„Mmmmhhpfm“, kommt es von Marcel, als sich der drehende Bohrer seiner Schläfe nähert.
Vorsichtig versucht Lars einen Annäherungsversuch: „Tanja-Anja… Alles wird gut… Wir wissen doch, dass Du hart gearbeitet hast.“
Zentimeter für Zentimeter arbeitet er sich näher an die Geisel heran.
„Wir wollen Dir doch nur helfen. Vertrau mir. Wir sind doch alle Freunde.“
In Tanja-Anjas Blick erkennt er Misstrauen. Sie schiebt den Stuhl ein wenig Richtung Ausgang.
„Ihr gehört doch nur dazzzzuuuuu“, sagt sie drohend. „Wieviele Teesorten hat den Polia hier, hm? 15 schwarze, sieben grüne und einen weißen – 23!“
In diesem Moment wagt es Lars: Er wirft sich auf Marcel und versucht dessen Stuhl aus dem Einfallwinkel der Bohrmaschine zu wuchten. Er schafft es, all sein Gewicht landet an Marcels Seite. Doch der Stoß ist stärker als gedacht, schwungvoll gleitet Marcel über das glatte Parkett der kleinen PR-Agentur, vorbei an der verdutzten Sabine. Die Leiste der Außentür sorgt für ein kurzes Holpern, dann geht Marcels angsterfülltes „MMMMMMMMMMMMM“ unter im Poltern und Krachen, gefolgt vom Aufschlag seines überernährten Körpers auf der Zwischenetage.
Lars versucht nun Tanja-Anja zu erwischen. Doch die wirft mit allem, was sie in die Finger bekommt. Zwar sorgen zwei Leitz-Ordner für Schrammen an Lars Schläfe, doch nach ein paar Minuten hat er die Junior Consultant auf dem Boden, schon hört man die schnellen Schritte der Sanitäter im Treppenhaus.
Sabine reißt sich aus den Erinnerungen und sagt zu Polia: „Nein, dass es so endet mit ihr hätte ich nicht gedacht.“
Polia weint jetzt hemmungslos: „Säähen wir sie denn nie wieder.“
Ihre Kollegin presst die Lippen aufeinander. Mühsam murmelt sie: „Ich weiß nicht.“
Weitere Abenteuer der kleinen PR-Agentur am Rande der Stadt:
Kurz vor Mitternacht
Koffeein-Schock
Mai-Ausflug
Frühlingsgefühle
Wahlkampf
Marcelinho
Arbeitsverweigerungskampf
High-Society
Verzweiflungstat
Frisches Blut
Niederschlag
Weibliche Waffen
Imagewandel
Vroni
Lingua franca
Angie
Dumm gelaufen
Neue Republik
PC-Maus
Gedanken eines Chefs
Rooobiiiiiieee
Daviiiiiiiid
Geliebte „Bunte“
Sich einfach zulassen
Ein fröhlich‘ Lied
Backenfutter
Kaiserslautern
Have yourself a merry little christmas
DFB
Ein Prosit der Gemütlichkeit
Kollerkommunikation
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