Der politische Apparat entfremdet die Volksvertreter vom Volk. Erst recht die Kanzlerin. Und deshalb spricht sie immer häufiger Sätze von hohem Verdrechslungsgrad. In der vergangenen Woche beschrieb der „Stern“, wie Angela Merkel und ihr Mann in Berlin leben. Ihre Nachbarn sind vor allem Sicherheitsbeamte, um den Block gehen ist nicht möglich. So ist es halt in Zeiten von Politiker-Attentaten.
Umso schwerer ist es, den Kontakt zum Volke zu halten, das man nun mal vertreten soll. Die Staub-Rhetorik der Bundestagsdebatten spült die Erinnerung aus dem Hirn, an das Gespräch mit dem Metzger in Wanne-Eickel oder der Hausfrau uns Eimsbüttel. Noch dazu darf man ja keinen Fehler machen, rhetorisch gesehen. Landet ja sofort in den Medien.
Franziska Augstein listet heute in der „Süddeutschen Zeitung“ auf, wie weit es schon gekommen ist, mit der Rede-Verschwurbelung der Bundeskanzlerin. Wohl auch ein Zeugnis dafür, dass schachtelsatzverliebte Redenschreiber die Kluft zwischen Politik und Mensch immer größer machen:
„Freilich hatte Angela Merkel in München noch andere Antwort-Sätze parat: In Hinsicht der Biomedizin „ist es mit Sicherheit so, dass wir völlig neue Aufgaben bekommen, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen und dann auch entschieden für unsere Antwort einzutreten“. Und „es ist immer richtig und wichtig in Demokratien, das, was die Menschen beunruhigt, mit einer Antwort zu versehen“.
Das ist wohl so. Fragt sich nur, ob der Beunruhigung damit abzuhelfen ist, dass man die Fragen nicht in Betracht zieht, die sich daraus ergeben und die den Satz erst grammatisch sinnvoll machen würden. Es ist ein sehr weites Feld, das Angela Merkel mit der Ankündigung von Antworten bestellt. Sprachlich entsteht dabei ein Morast.
Die Steigerung der Antwort ist die „gültige Antwort“. Diese sucht Angela Merkel offenbar, wenn es um besonders schwierige Probleme geht. Auf die ?Herausforderungen des Terrorismus? müsse man „gültige Antworten“ finden, sagte sie der FAZ. Es ist richtig: Man antwortet auf Herausforderungen. Jede Antwort ist dann naturgemäß gültig. Angela Merkel geht freilich weiter: „Die Menschen in Europa erwarten von uns natürlich, dass sie auf die bestehenden Herausforderungen eine Antwort bekommen.““
Ja, wo sind sie hin, die klaren Politikersätze? Zum Beispiel Herbert Wehners „Es ist besser, als ein Wolf zu sterben, denn als ein Hund zu leben.“? Oder Willy Brands „Demokratie darf nicht so weit gehen, dass in der Familie darüber abgestimmt wird, wer der Vater ist.“? Oder Konrad Adenauers „Wir haben die Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit. Wir wählen die Freiheit.“?
Angela Merkel lässt ihren Bürgern heute einen offenen Brief zukommen. Er enthält keine Schachtelsätze, immerhin. Doch Aufrütteln, Mitreißen, Mut machen für das Jahr 2006 – nein, nicht mit so was:
„Wir brauchen die Bereitschaft für Veränderungen. Nur so können wir unseren Wohlstand und das hohe soziale Niveau in Deutschland für uns und die kommenden Generationen bewahren.“
Und damit meine ich nicht nur, dass es „Bereitschaft ZU Veränderungen“ heißen müsste. Aber so schwurbeln sie halt, die deutschen Machtinhaber, Möchtgern-Leaders-of-today und Grammatikverweigerer.
Kommentare
Gerold Braun 29. Dezember 2005 um 16:05
Sie verweigern uns die Verben, die dusselig-Quassler. So ein Satz „Wir brauchen die Bereitschaft für Veränderungen.“ verheißt ja alles und nix. So formuliert: „Stellen Sie sich drauf ein: Es wird sich etwas ändern!“ oder meinetwegen „Stellen wir uns drauf ein, dass sich was ändert.“ fordert Fragen heraus: Wie sollen wir uns einstellen? Was wird sich ändern?
Und dann müsste was kommen: Vorstellungen, Visionen, Ideen. Tja, da sagt Politiker / Politikerin lieber „Wir brauchen die Bereitschaft bla bla bla“
Akte D 29. Dezember 2005 um 17:07
Angela Merkels Neujahrsrede beschert den Medien drei Millionen Euro Werbeeinnahmen – mehr auch nicht.
Teure Zeilen
Wenn der Wert eines Wortes 8’575.58 Euro bzw. eines Tastaturanschlags 1’269.91 Euro beträgt, dann müsste ein Brief solchen Umfangs ….
Peter Moricz 29. Dezember 2005 um 22:06
Zu Gerold Braun’s Kommentar: Richtig, so hätte der Brief vielleicht Sinn, würde was sagen.
Aber: wollen wir uns nichts vormachen: die Vorstellungen, Visionen, Ideen die die Lage unseres Landes wirklich ändern könnten, würden alle -wenn verwirklicht- schmerzhafte Folgen haben, für alle von uns. Und wer würde dann bei den nächsten Wahlen für die Politiker stimmen, die uns nur Schlimmes versprechen – weniger
Geld, mehr Mühe, längere Arbeit, usw? Also lieber die Leute abfertigen mit irgendeinem allgemeinen Schmus.
Sogar der grosse Medienzauberer Schröder, der ja vor den Kameras fasst alles glauben machen konnte, hat sich am Ende nicht mehr getraut, die erforderlichen Dinge beim Namen zu nennen (obwohl er natürlich wusste, was nötig wäre).
Ich hab eigentlich gehofft, dass Angela Merkel den Mut aufbringen würde, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber sie beginnt genau so wischi-waschi zu sein, wie all die anderen „grossen“ Politiker.
jo$ blog-o-matic 2. Januar 2006 um 12:26
Die Steigerung von Antwort ist “die gültige Antwort”. Da kann ich mal sehen, was ich noch alles lernen kann. Von wem diese Erkenntnis stammt? Von Angela M. und sie traf mich per Indiskretion Ehrensache:
Auf die „Herausforderung…
Martin 2. Januar 2006 um 16:06
Ich sage nur: „Inhalte! Inhalte! Wir brauchen Inhalte! Politik muss sich in erster Linie mit Inhalten befassen!“