Heute abend wird der Kanzler zum Wohle des Landes zurücktreten. Sagt man. Um 19 Uhr ist Sondierungsrunde und längst glaubt tout Berlin zu wissen, was am Ende steht. Warum aber findet die entscheidende Runde am Abend statt? Ganz einfach: Willkommen in der Fernsehrepublik.
Davon geredet haben ja schon viele. Aber nachdem vor drei Jahren das TV-Duell keinen großen Einfluss auf die Wahlentscheidung hatte, war die Diskussion um die Allmacht der Mattscheibe erkaltet.
Der Wahlkampf 2005 hat einiges geändert. Nie gab es mehr Fernsehdebatten großer und kleiner Köpfe im Vorfeld, die zwischen Merkel und Schröder hatte maßgebliche Auswirkungen auf die Wahlentscheidung, behaupten Demoskopen (und wir wollen ihnen in dem Punkt jetzt mal glauben).
Und deshalb – ist meine böse Vermutung – findet das entscheidende Sondierungsgespräch an einem Donnerstag Abend statt.
Mittwochs wäre nicht so gut, gehen viele Leute aus, außerdem hätte ja Fußball sein können. Montag wäre auch prima gewesen, aber da waren sie noch nicht so weit. Freitag? Zu spät – Wochenend-Party.
Und am Abend muss es sein, um in die längeren Nachrichtensendungen zu kommen. „Heute“ ist zu früh, die „Tagesschau“ zu kurz. Die „Tagesthemen“ sind genau richtig, wenn man schnell durch ist geht auch das „Heute Journal“.
Mein Lehr-Herr Ferdinand Simoneit erzählte gerne von den Tarifverhandlungen der 60er Jahre. Immer wurde spät in die Nacht debattiert, die Journalisten warteten draußen. Frühzeitig durfte niemand raus, dann hätte es so ausgesehen, als ob die Kontrahenten nicht wirklich hart gerungen hätten. Einmal sei er an ein Protokoll gekommen, erzählte uns Simoneit. Ergebnis: Die Verhandlung hätte flott beendet werden können, aber man konnte ja nicht raus. Hätte gegenüber den eigenen Mitgliedern und den Medien nicht gut ausgesehen.
Die Sondierungsgespräche – und auch später die Koalitionsverhandlungen – sind die Tarifverhandlungen von heute. Meine Wette: Pünktlich um 22.30 wird alles bereit stehen für eine Live-Schaltung nach Berlin.
Nachtrag: OK, vielleicht wirds ja auch Sonntag…
Kommentare
Heiko Hebig 6. Oktober 2005 um 13:27
Mich würde auch eine Live-Schaltung von Raab-TV nicht mehr wirklich überraschen.
Fredson 6. Oktober 2005 um 14:46
tknuewer, vorsicht, nicht zu fest an der Glaskugel reiben. KLingt aber plausibel.
Es wäre der Beginn des Epilogs einer dramatischen Inszenierung die mich mittlerweile ein bisschen schlaff im Fernsehsessel hängen lässt. Tolles Movie, aber bitte: Lasst denn Abspann beginnen, ich will endlich Zähne putzen und ins Bett!
Tobbe 6. Oktober 2005 um 16:08
„Die Glaubwürdigkeit der Politiker war noch nie so gering wie heute. Das liegt nicht zuletzt an einer Gesellschaft, die in die Glotze guckt. Die Politiker reden nur oberflächliches Zeug in Talkshows, weil sie meinen, es sei die Hauptsache, man präge sich ihr Gesicht ein.“ (Helmut Schmidt)
Hatte ich mal vor einiger Zeit gehört.
Markus 6. Oktober 2005 um 22:31
Sie haben vergessen, dass heute parallel „Berlin Mitte“ läuft. Wie kommt das denn, wenn auf dem einen Kanal noch debatiert wird und auf dem anderen Ergebnisse verkündet werden?
Am Sonntag lässt sich das hintereinander bringen: Erst Christiansen, dann (live-)Ergebnisse.
Gruß
tknuewer 7. Oktober 2005 um 9:22
Dieser Logik kann ich mich nicht verschließen – und die Politik anscheinend auch nicht…
themaastrix 9. Oktober 2005 um 11:09
Sonntagabend wollen sich Schröder, Merkel und Co. zu weiteren Gesprächen zusammensetzen – wie ich im Radio hörte, sollen die Verhandlungen notfalls “bis in die Nacht” laufen. Ist das alles nur Mediendramaturgie, damit am Montag behaupte…