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Nachtrag vom 10.9.16: Facebook hat sich breitschlagen lassen und zeigt das Foto. Eine, wie ich finde, schwierige Entscheidung. Denn aus einer klaren Regelung wird nun eine schwammige, die Forderung nach weiteren Ausnahmen wird kommen.

Manchmal rätsele ich ja, ob Journalisten des Jahres 2016 unter ADD leiden – oder einfach nur fürchterliche Heuchler sind.

Heutiger Anlass ist die immense Medien-Aufregung um ein historisches Bild, das von Facebook gelöscht wurde. Es handelt sich um jenes Foto eines nackten, weinenden und schreienden Mädchens aus dem Vietnam-Krieg, das uns bis heute berührt. Dieses Bild postete Tom Egeland, Autor der norwegischen Zeitung „Aftonposten“, auf Facebook zusammen mit se32183194-b955-4167-98b9-a598c510e45echs anderen Bildern, die Kriege verändert haben.

Egelands Account wurde daraufhin gesperrt – denn Bilder nackter Kinder fallen bei Facebook unter Kinderpornographie und mit den Verbreitern von Kinderpornographie mag Facebook nicht sanft umgehen. Aftonposten-Chefredakteur Egil Hansen verfasste deshalb einen langen, offenen Brief an Mark Zuckerberg, dem er sogar die Seite 1 seines Blattes widmete.

Darin erklärt er Zuckerberg zum „mächtigsten Redakteur der Welt“ und zitiert – natürlich – George Orwell. Zitat:

„If you will not distinguish between child pornography and documentary photographs from a war, this will simply promote stupidity and fail to bring human beings closer to each other.“

Die Bedeutungsschwere der Sache untermalt er mit einem Video, in dem er t-shirtig bekleidet sein Anliegen vorträgt. Die Ernsthaftigkeit wird unterstrichen durch die Vorschaltung von Werbung vor dem Video, nach nur 13 Sekunden Reklame für norwegischen Fisch, hören wir seine Anklage.

laks urtesaus

Die Angelegenheit traf bei deutschen Redaktionen auf fruchtbaren Boden. Hier Google News:

Facebook Vietnam

Nun ist es ja nichts Neues: Wann immer ein teutscher Journalist auf einen Großkonzern – erst recht einen digitalen – einprügeln kann, entwickelt er die Reflexionsfähigkeit eines angeschossenen Elefantenbullen unter Einfluss von 2,5 Kilo Koks. Natürlich wäre die Geschichte einen Artikel wert und genauso eine Diskussion. Doch genausowenig wie Hansen an einer ernsthaften Debatte interessiert ist, sind es seine deutschen Kollegen.

„Angriff auf die Pressefreiheit“, krakeelt die „Bild“. Hämisch findet sich in fast jedem Artikel, dass Zuckerberg ja noch nicht reagiert habe. Wohlgemerkt: Auf einen offenen Brief, der gestern um 21.33 Uhr in Norwegen online ging, also am frühen Nachmittag kalifornischer Zeit. Entweder, Journalisten glauben, dass der CEO eines Milliardenunternehmens nichts anderes zu tun hat, also in Minutenschnelle etwas derartiges zu beantworten (während ähnliche Postings oder Kommentare von ihren eigenen Verlegern, Herausgebern und Chefredakteuren bekanntermaßen ja niemals mit einer Reaktion gewürdigt werden) – oder sie haben das Prinzip der Zeitverschiebung noch nicht  ganz verstanden.

Doch: Ist die Reaktion von Facebook wirklich derart verdammenswert?

Einerseits ist dieses Foto ohne Frage historisch und dass es uns bis heute berührt zeigt seine Sprengkraft. Andererseits sehen wir hier eben ein nacktes, verletztliches und minderjähriges Mädchen. Es ist also nicht OK, ein nacktes, minderjähriges Mädchen in einer nicht-verletzlichen Situation abzubilden – schon aber, wenn es völlig verängstigt ist? Ist die Würde jenes Mädchens der Kollateralschaden in der Visualisierung der Schrecken eines Krieges?

Wenn jenes Mädchen hingegen tot wäre, wie wäre es dann?

Tatsächlich hatten wir doch vor gar nicht langer Zeit exakt diese Diskussion. Da lag ein geflüchteter Junge, ertrunken im Mittelmeer, am Strand der Türkei und berührte uns nicht weniger, als jene junge Vietnamesin. Die einen Medien zeigten das Bild, die anderen kritisierten dies scharf.

So schrieb „Welt“-Autor Alan Posener:

„Dieses Foto informiert nicht. Es sagt uns nichts, was wir nicht wissen. Es manipuliert. Und Manipulation ist immer schlecht, auch – ja gerade – für einen guten Zweck. Wenn wir zulassen, dass Bilder nicht nach informativen, sondern nach performativen Gesichtspunkten veröffentlicht werden, dass also der Zweck darüber entscheidet, ob das Mittel in Ordnung ist, dann können wir den Anspruch aufgeben, Journalismus zu betreiben, dann betreiben wir Propaganda.

Was wir in Wirklichkeit mit diesem Foto zeigen, ist: Im Leben wie im Tod gelten für syrische Flüchtlingskinder nicht die gleichen Maßstäbe wie für Kinder, die in Europa geboren wurden. Das muss sich ändern. Das beginnt mit dem Respekt vor der Würde des toten Jungen; es beginnt damit, dass wir ihn so behandeln, als wäre er unser Kind – und nicht ein Ding. Und es endet erst, wenn wir das Elend Syriens als unsere eigene Schande und Verantwortung empfinden und entsprechend handeln.“

Der „Münchener Merkur“ erklärte:

„Aber wir haben uns nach kontroversen Diskussionen in unserer Redaktion dagegen entschieden. Der Hauptgrund ist, dass wir uns nicht wohl dabei fühlen, ein totes Kind in aller Deutlichkeit zu zeigen. Zudem sollte jeder selbst entscheiden, ob er dieses traurige Bild sehen möchte oder nicht. Wie schlimm das Flüchtlingsdrama ist, weiß jeder aus den vielen, vielen Berichten auch auf unserem Portal. Und wir werden weiterhin ungeschönt darüber berichten. Aber ohne einen toten Buben zu zeigen.“

Eine Zusammenfassung von Stimmen hat das Bildblog gesammelt.

Sicher, im Fall von Vietnam ist das Kind schon in den Medienbrunnen gefallen, das Foto ist um die Welt gegangen. Doch trotzdem: Mediendeutschland fürchtet um die Würde eines toten, angezogenen Jungen – aber nicht um die Würde eines nackten, lebenden Mädchens?

Ich weiß nicht, ob man diese beiden Bilder zeigen sollte oder nicht. Ich weiß nicht, ob man sie NICHT zeigen sollte. Was wäre, wenn das vietnamesische Mädchen ein syrisches wäre und das Bild aus dem Jahr 2016 stammte?

Wenn jedoch Facebook mit einem klaren Regelwerk daran geht, Bilder herauszunehmen, dann ist das eben eine weitaus stringentere und eindeutigere Haltung als die, die Journalisten im Umgang mit dramatischen Fotos von Kindern an den Tag legen.


Kommentare


Bildrauschen 10. September 2016 um 18:01

Was in den Medienhäusern scheinbar noch immer nicht angekommen ist: Zuckerbergs Netzwerk, Zuckerbergs Regeln. Niemand interressiert sich dort für dei Meinung von Journalisten. Niemand ist verpflichtet Facebook zu nutzen. Und Facebook ist auch nciht verpflichtet dort Medien oder Journalisten zu dulden!

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