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In der Serie “Netzwert Reloaded” verfolge ich jede Woche, was das Team von Handelsblatt Netzwert vor exakt 10 Jahren über das digitale Geschäft schrieb. Alle Netzwert-Reloaded Folgen finden Sie hier.

Wer hat das wohl gesagt – und wann?

„Mit der Kostenlos-Kultur im Internet muss es ein Ende haben.“

Axel-Springer-Troll- Außenminister Christoph Keese 2012? Sein Chef Matthias Döpfner 2010? Zeitungsverbands-Lenker Helmut Heinen 2010?

Nein, es war T-Online-Vorstandslenker Thomas Holtrop vor 10 Jahren.

Gefunden habe ich dieses Zitat in der Cebit-Beilage des „Handelsblatt“ vom 13.3.2002. Diese Beilagen hatten beim „Handelsblatt“ Tradition und waren meist ordentlich mit Anzeigen gefüttert. 2002 sollte das schönere Netzwert-Layout die Buchungen erhöhen. So wurden es 20 Seiten an jenem Mittwoch – eine ordentliche Leistung angesichts der Krise damals. Inhaltlich war die Beilage ein Rundumschlag in Sachen IT und Internet, von Web-Services über E-Procurement bis zur automatisierten Datenerfassung. Und weil es so ein breites Themenspektrum war, ermöglicht diese Beilage auch einen guter Blick auf den Stand des digitalen Deutschland anno 2002.

Unter anderem tobte die Debatte um Paid Content. Denn auch wenn es viele Medienmanager eine Dekade später vergessen haben: All das, was sie heute ankündigen, wurde schon einmal angedacht – und dann verworfen. Nehmen wir nur das „Handelsblatt“, meinen alten Arbeitgeber. Der offerierte damals ein Online-Abo. Print-Bezieher waren kostenlos dabei, andere zahlten 13,30 Euro im Monat. „Die Einnahmen daraus sind ein substantieller und stabiler Teil unserer Umsätze“, behauptete damals die Marketing-Chefin der Online-Tochter Economy One. Und: „Unsere Zielgruppe hat eine äußerst hohe Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft.“ Fast deckungsgleich klangen ihre Nachfolger dann neun Jahre später beim Start der missratenen iPad App „Handelsblatt First“. In beiden Fällen hielt sich vielleicht nicht die Zahlungsfähigkeit, ganz sicher aber die -bereitschaft in engen Grenzen.

Mancher Verlag könnte es besser wissen. Denn in jenem Artikel wird auch der Peter Würtenberger zitiert, damals Chef von Bild.de: „Für normale Nachrichten wird der typische Internet-User kaum zahlen, wohl aber für Premium-Informationsangebote, Spiele und exklusiven Kontakt zu Stars über Live-Chats.“ Heute ist Würtenberger Chief Marketing Officer von Axel Springer. Ob sich seine Meinung geändert hat oder ob er nicht durchdringt gegen die Paid-Content-Fanatiker, dürfen sie ihn dann selbst fragen.

Die Cebit selbst war im Jahr 2002 in dem Abschwung, der bis heute nicht gestoppt wurde. Kurz vor der Messe hatte sie die Ausstellerzahlen noch einmal korrigiert – nach unten, natürlich. Das schreckte Kabarettist Dietmar Wischmeyer nicht ab, eine Lobrede auf die Messe zu schreiben. Also, so eine Art Lobrede:

„…Jedoch in einer Stadt des Nordens hat sich der Karneval sogar etwas von seiner mittelalterlichen Ursprünglichkeit bewahrt. Jene Stadt, wie sollte es anders sein, ist die Provinz aller Provinzen: Hannover…. Das dionyisische Fest zum Ausklang des Winters heißt Cebit…

Doch wie es sich für eine protestantische Stadt gehört wird nicht einfach dumpf gezecht, sondern vorher muss noch für den Herrn Zebaoth der Umsatz gesteigert werden. Deshalb ist dem eigentlichen Gelage eine Computermesse vorgeschaltet. Schon in aller Herrgotsfrühe setzt sich der Jeckenzug auf den Autobahnen in Bewegung und findet in der Maßnahme A auf dem Messeschnellweg seinen sechsspurigen Höhepunkt. Zu Hunderttausenden fallen sie auf das Gelände ein und stehen zwischen Pappmaché gewordenen Witzen herum – geradeso wie in Köln.

Doch der Protestant kennt ja von Hause aus keinen unmittelbaren Spaß am Leben und deshalb wird frühestens ein Jahr später gelacht. Der gelungenste Scherz 2000 und 2001 hieß New Economy, richtig gezündet hat er erst im letzten Herbst.

Die schöne Nebenwirkung: Im ersten Jahr werden die Witze noch für bare Münze genommen…

Aber wehe, die Nacht bricht herein, dann rollen die versteckten Bierfässer aus dem Unterschlupf und überall zwischen den Messeständen wird gejuchzt und gesoffen: Spontan entstandene Paare kopulieren kichernd hintern den Monitorwänden, während alte Cebit-Kämpen noch am Fries des Hostessenbusens nesteln…“

Dieser Absatz machte die Cebit-Organisatoren unterdurchschnittlich froh. Aber egal, so schön wie 2000 und 2001 sollte es ohnehin nie wieder werden.

Ob damals mehr gebeichtet wurde als heute ist offen. Damals aber schrieb Netzwertlerin Anja Müller ein sehr schönes Portrait über Aloys Terliesner, den Cebit-Pfarrer. Eigentlich arbeitete er in einem Kloster im Westmünsterland, doch seit 1990 reiste er mit einem evangelischen Pfarrer jedes Jahr zur Cebit an. In der dortigen Kapelle gab es denn Messen, Andachten, Beichtstunden oder einfach nur Gespräche:

„Eines Morgens, als Pater Terliesner im Kirchenraum – wie viele Aussteller – staubsaugte, schlich sich ein bedeutender Manager an ihm vorbei. Wer das war, will er nicht verraten. Der Pater mit dem Staubsauger in der Hand war erstaunt. Und er freut sich noch heute, wenn er daran denkt, was der Mann sagt: ,Manchmal muss eben auch ein Chef zu seinem Chef.‘

Beizeiten steht der Pater auch ganz allein da, fünf Minuten vor der angekündigten Predigt, und fragt sich, ob er überhaupt in sein Gewand schlüpfen soll. Doch bis er die Messe liest eilen doch wieder einige Gläubige rein. Sie sind froh, dass es pro Tag manchmal vier Gottesdienste gibt…

Vor allem im vergangenen Jahr kamen so viele Menschen in den kleinen Kirchenraum, der rund 50 Gläubigen Platz bietet, dass die Minuten kostbar wurden: ,Die wollten mein Ohr.‘ Es kamen vor allem jene, die nicht mehr Anfang 20, jung und dynamisch waren. Es kamen Menschen, die Angst hatten, dass sie nicht mehr begehrt werden, nicht als Mitarbeiter, nicht als Abteilungsleiter, manchmal nicht mehr als Mensch… ,Hier drinnen spüren sie, wie viel geistliche Armut es da draußen in den Messehallen gibt.“

In der ersten Ausgabe der deutschen WIRED schrieben wir ja ein Klagelied auf den digitalen Standort Deutschland. 2002 sah es nicht besser aus, wie ein Interview mit Stephan A. Janssen zeigte, damals Leiter der Forschungsgruppe „Electronic Government“ an der Uni Witten/Herdecke:

„Daran, dass Studien der Beratungshäuser und wissenschaftliche Untersuchungen uns mit großer Kontinuität allenfalls als Hoffnungsträger oder in einigen Bereichen gar als Schlusslicht platzieren, ist leider nicht zu rütteln. Deutschland ist derzeit nur Mittelmaß bei E-Government.“

Wie sehr sich die Welt gewandelt hat, zeigt dagegen ein anderer Artikel des Netzwert-Specials:

„Einst waren Flachbildschirme nur etwas für gut betuchte Trendsetter. Die Cebit 2002 zeigt: LCD-Monitore setzen sich durch.“

Ja, das kann man sich kaum vorstellen: Vor 10 Jahren waren Flachbildschirme noch etwas besonderes. Für die Nostalgiker: Damals rief Samsung für einen 17-Zoll-Monitor mit einer Auflösung von 1280×1024 geschmeidige 1.290 Euro auf. Den damals größten LCD-TV-Bildschirm der Welt präsentierte Sharp auf der Cebit: 30 Zoll groß war er und kostete um die 10.000 Euro. Zum Vergleich heute kostet das 27 Inch große Display bei Apple ein Zehntel dieses Preises.

Während in den vergangenen Tagen Jens Schröder, Redakteur von Meedia, seinen Unmut auf den mangelnden Service von Unitymedia hinaustwitterte hieß das Feindbild vor 10 Jahren ish. Im Herbst 2001 war aus Kabel NRW diese merkwürdige Buchstabenkürzel geworden und die Marketingabteilung hatte mächtig Geld bekommen um den Begriff in den Markt zu drücken. Nun schwoll der Ärger der Kunden an nach dem Motto „Große Werbung, nix dahinter“. Zum Beispiel in Düsseldorf-Bilk:

„Fast alle Anwohner haben sich zu einer sonntäglichen Krisensitzung versammelt. Grund: In einem lapidaren Aushang kündigt ein örtlicher TV-Installateur an, dass er im Auftrag von ish „neue Medienanschlüsse“ installieren werde und die Bewohner deshalb – man hat ja sonst nichts zu tun – am nächsten Tag von 9 bis 16 Uhr in der Wohnung anwesend sein müssen… Für die Techniker ist der Ärger nichts Neues: ,In achtzig Prozent aller Fälle kommt es zu Beschwerden‘, gibt ein Mitarbeiter unumwunden zu.“

Der mangelnde Service war nur eine Seite. Düsseldorf, Neuss und Köln waren Pilotstädte bei der Umstellung des TV-Kabel auf Multimedia-Leitungen. Ergebnis: massive Störungen und Netzausfälle. Fast täglich landete ish in der Lokalpresse, ganze Stadtviertel standen ohne Kabel-TV da. Und Internetleitung mit diesem Kabel verbinden – das mochte damals noch kaum jemand.

Doch war ja zu ahnen: Das würde nicht so bleiben. Die Option, nicht mehr ins Internet „zu gehen“ sondern ständig im Netz „zu sein“ hieß im Jahr 2002 nicht „always online“ sondern Ubiquotus Computing. Etliche Technologieunternehmen entwarfen damals eine Welt der Zukunft für Netzwert. Und wenn man sie heute liest ist es fast erschreckend, wie viel davon nur wenige Jahre später Alltag war:

„Microsoft will mit seiner Dotnet-Strategie alle Endgeräte, vom PC bis zum Fernseher miteinander verknüpfen. Somit sollen Nutzer jede Datei, die sie irgendwo abgespeichert haben, von überall her abrufen können. Parallel soll dazu das Projekt „Hailstorm“ die Nutzer treffen. Damit will Microsoft die Grundlage schaffen, diese Daten nicht nur an jedem Ort, sondern auch zu jeder Zeit abrufen zu können.“

Aber auch damals gab es schon die Bedenkenträger. Wolffried Stucky, zum Beispiel, Wirtschaftsinformatiker an der Uni Karlsruhe: „Es ist ausgesprochen fraglich, ob es gesellschaftsverträglich ist und Sinn macht, sich durch ständige Anwesenheit im Netz einer totalen Überwachung auszuliefern.“

Davon ließen sich Konzerne wie die Deutsche Telekom nicht bremsen. Sie wollte dagegen dafür sorgen, dass innerhalb von 10 Jahren (also heute) sämtliche Endgeräte ständig im Netz angemeldet seien:

„Die Morgenlektüre ist nicht länger die Zeitung, sondern ein semi-flexibles, funkvernetztes T-Home-Pad, das die Nachrichten des Tages, den Terminkalender und Depot-Informationen im persönlichen Mix auf den Frühstückstisch liefert. Im Auto stellt ein ,Everset‘ sprachgesteuert eine Telefonkonferenz her und notiert den Besprechungsinhalt. Derweil werden daheim die Sprösslinge vom ganz persönlichen Haus-Roboter TQ umsorgt. Auf Zuruf holt er für sie Filme aus dem Netz oder liest ihnen Gute-Nacht-Geschichten vor.

Accenture geht noch weiter: Es sieht als mögliches Endgerät einen elektronischen Bilder-Wechselrahmen, auf den per Handy oder PC immer neue Digitalbilder geschickt werden können.“

Und dann kommt die lustigste Stelle des Artikels:

„Bis dahin ist es noch weit.“


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