Deutschland denkt viel und macht wenig.
Das dachte ich in den vergangenen 24 Stunden mehrfach und die Indizien dafür reichen von der Bundespolitik bis zum AC/DC-Konzert in Düsseldorf.
Nehmen wir die gescheiterte Kanzlerwahl von Friedrich Merz. Auf die Option, dass es so viele Abweichler in den Reihen von CDU und SPD geben könnte, dass die Wahl scheitert, war anscheinend niemand vorbereitet. Berlin Table schreibt:
„Die Ratlosigkeit der Verwaltungsspitze war sicht- und greifbar, als sie das Ergebnis des ersten Wahlgangs erreichte. Parlamentspräsident Julia Klöckner hatte Bundestagsdirektor Michael Schäfer (SPD) unmittelbar nach ihrem Start sein schnelles Ausscheiden angekündigt. Und auch, weil mittlerweile feststeht, dass Schäfer als Staatssekretär ins BMAS wechselt, könnte es sein, dass er nicht mehr die allergrößte Leidenschaft an den Tag legte. Sein Nachfolger, Paul Göttke (CDU), ist zwar benannt, aber noch nicht vom Präsidium des Bundestages gewählt. Das sollte erst an diesem Mittwoch stattfinden. Auch der Ältestenrat sah sich nicht in der Verantwortung, einen Plan B vorzudenken. So fahndeten die Hausjuristen des Parlaments nach dem ersten Wahlgang in aller Eile nach den Voraussetzungen für eine zweite Abstimmung. Am Ende dauerte es Stunden, bis man sich auf das Procedere und einen schnellen zweiten Wahlgang einigte.“
„Wird schon schiefgehen“ war einst ein Satz, der mit Ironie vorgetragen wurde. Heute ist er zu oft Motto, wenn in Deutschland etwas geplant oder gedacht wird. Man kann ja noch richtig finden, dass einige Abgeordnete ein Zeichen setzen wollten gegen den Kanzler Merz. Stimmt aber, was etliche Quellen berichten, dann haben sie sich vorher nicht gefragt, ob direkt im Anschluss eine zweite Wahlrunde stattfinden könnten. Das hätte man recherchieren müssen, Recherche ist anstrengend, es wird schon alles gutgehen.
Aber es ging nicht gut. Genauso wie die Sache mit dem Open Air-Festivalgelände in Düsseldorf. Das soll auf dem Parkplatz der Messe entstehen und im Sommer Ort von Konzerten mit 80.000 Zuschauern sein.
Eigentlich eine gute Idee. Innenstadtfestivals sind ein wachsender Markt, es gibt Millionenkonzerte auf der Copacabana wie jüngst von Lady Gaga oder seit langen Jahren ein zwei Wochen laufendes Festival im Londoner Hyde Park, das ich persönlich sehr mag: Man hat Festivalatmosphäre, muss aber nicht campen.
Das erste Konzert dieser Art in Düsseldorf sollte AC/DC am 8. Juli werden. Heute nun meldet die „Rheinische Post“, dass die Band vor dem Umzug ins Stadion stehe, weil nur 40.000 Karten verkauft wurden.
Warum? Weil man es sich einfach gemacht hat. Die Stadt Düsseldorf glaubte, dass es ausreichend sei, einfach eine Fläche freizuräumen, eine Bühne aufzustellen und eine Band zu buchen. Preiskategorien gibt es zwei: Den Golden Circle direkt vor der Bühne, der sofort ausverkauft war, und Stehplätze für gesalzene 165,50 Euro plus Gebühren. Sprich: Wer nicht früh genug kommt, vor dem stehen zehntausende Menschen auf einer ebenen Fläche.
Auch sonst gibt es keine Informationen, die Lust machen, auf einen Besuch des Konzerts. Streetfood-Festival als Catering? Vorgruppen? Kirmes? Nein, davon hörte man nichts.
Konzert mit Kirmes: Das British Summertime Open Air im Hyde Park.
Wer ein Konzert so plant, der war in den 80ern das letzte Mal auf einem Open Air-Auftritt. Schon 2003 waren Veranstalter ja anders unterwegs. Damals sah ich AC/DC als Supporting Act (!) der Rolling Stones in Oberhausen. Auch das war eine Freifläche von gehobenem Staubgehalt in der Luft, doch selbst damals gab es Tribünen um den Innenraum und neben den Haupt-Bands spielten auch noch die Cranberries.
In London baut man eine Kirmes und ein kleines alt-englisch gestyltes Catering-Dorf auf. Es gibt verschiedene Stehbereiche, eine Tribüne mit VIP-Logen, eigene Teuerticket-Rückzugsbereiche und mehrere Bühnen, vom Winz-Pavillon bis zur Hauptbühne mit gigantomanische Videowand.
Florence & the Machine beim British Summertime Festival 2019.
Auch bei der Causa AC/DC: Man hat eine gute Idee, aber man will es sich einfach machen, investiert weder Geld noch Hirnschmalz.
Ich möchte die Verwaltung meiner Wohnstadt nicht zu sehr dissen, aber… Auch der Marathon, der zum ersten Mal nach sechs Jahren wieder hier stattfand, ist ein Beispiel für die teutonische Malaise. Natürlich gab es eine App zum Rennen, damit man einzelne Läufer tracken kann. Doch sich am Renntag selbst ein Konto einzurichten, funktionierte nicht. Außerdem kommunizierte das Progrämmchen mal auf Englisch, mal auf Deutsch, was auf eine günstig eingekaufte White-Label-Lösung hindeutet.
Ähnlich der Rahmen des Laufs. „Run to the Beat“ war das Motto, das so auch schon beim Basel-Marathon, dem Halbmarathon in Struer oder etlichen anderen Läufen Verwendung fand. Warum wurde es gewählt? Weil DJs an der Strecke standen, die einfachstmögliche Beschallung des öffentlichen Raumes.
Diese lethargische Haltung, wenn man Social Media-Accounts für Unternehmen betreut. Viele Markenverantwortliche glauben, dass Werkstudierende oder Auszubildende doch Instagram oder TikTok betreuen könnten. Man kann sich sicher sein: Die Entscheider, die das so machen wollen, werden nach dem ersten Contentstück über Monate nicht mehr auf den Kanal schauen, dann irgendwann sehen, wie schlecht das Projekt läuft – und die jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anderen Tätigkeiten zuführen.
Auch hier: Man möchte keine Arbeit haben.
In anderen Ländern ist auch das anders. Wenn ich auf der Digitalkonferenz SXSW in Austin mit Digitalmarketers spreche, sind sie erschüttert, dass bekannte Marken ihren direktesten Kommunikationskanal zur Zielgruppe nicht mit substantiellen Investments unterfüttern.
Vielleicht ist es gerade das digitale Zeitalter, dass dieses deutsche Denken hervorgebracht hat. Denn der Zusammenbruch der New Economy hat Deutschland so erschüttert wie kein anderes Land. Der Neue Markt mit seinen Tech-Aktion sorgte für eine Börseneuphorie, die es nie zuvor hier zu Lande gegeben hat. Viele Menschen verloren Geld und danach danach war „das Internet“ als Sündenbock nie mehr eine ernstzunehmende Größe im Leben und Wirtschaften.
Das zeigte sich beim Aufkommen von Social Media oder dem Web 2.0, wie es damals genannt wurde. 2012 veröffentlichte die OECD eine Studie über die Social Media-Nutzung in zwei Dutzend Ländern. Nur in Deutschland nutzten Menschen mit überdurchschnittlichem Bildungsgrad das Social Web weniger als Mitbürger mit niedrigeren Schulabschlüssen – Deutschlands Eliten wollten mit Facebook & Co nichts zu tun haben.
Diese vermeintliche Anstrengung, sich über das Ideen-Niveau mit einem Thema zu beschäftigen, zeigt sich auch bei Künstlicher Intelligenz. Ganz viele Unternehmen behaupten, sie würden dort nun investieren – gute Idee. Doch was kommt dabei heraus? Wer Best Practice-Fälle für den Einsatz von KI in Deutschland sucht, stößt auf schockierend wenige.
Gestern fiel mir ein Autohändler aus meiner Heimatgegend auf (den ich aus alter Verbundenheit nicht angreifen möchte, er hat mich immer gut behandelt), der mit einer Agentur einen Chatbot für ein Gebrauchtwagenangebot gebaut hat. Das Ergebnis ist albern und eben keine Kaufberatung, was ein gut gebauter Chatbot ja leisten könnte – trotzdem haben Händler und Agentur das Ding für einen Marketingpreis eingereicht.
So erklärt sich vielleicht auch eine Studie von EY, die man sprachlosmachend finden darf. Die Beratung befragte 15.000 Menschen in 25 Ländern, darunter 1.000 Deutsche, für ihren „AI Sentiment Index“.
Zweimal taucht Deutschland in den Randbereichen der Studienergebnisse auf. Nur 27% der Befragten Germanen überprüft die Ergebnisse, die ihnen eine KI auswirft – ein unterdurchschnittlicher Wert, der Durchschnitt liegt bei 31% (und das ist ja auch verstörend niedrig).
Vorne sind die Deutschen dagegen beim Zustimmen auf die Frage, ob die KI ihre Bedürfnisse versteht – rund 80% antworteten mit „Ja“.
Ist doch alles ganz einfach mit dieser KI, und dann wird das schon stimmen. Bereitschaft sich näher mit Funktionsweisen oder auch nur mit der Korrektheit der Ergebnisse zu beschäftigen – ach, anstrengend.
Oder vielleicht auch unter der eigenen Würde? Es könnte natürlich auch sein, dass die Einfachheit, die vieles in der digitalen Welt ausstrahlt, mit deutscher Arroganz kollidiert. Social Media? Ist doch ganz simpel, da stellen sich junge Menschen in Pose und erreichen Millionen Leute – eine alberne Tätigkeit. Dass dahinter ganze Teams und harte Arbeit stecken, wissen viele nicht. Dass sie es nicht wissen, liegt maßgeblich an der abwertenden Darstellung von Inhalteerschaffern AKA Creator in der Darstellung deutscher Medien.
Genauso verhält es sich vielleicht mit künstlicher Intelligenz. Mit Verve nutzen Deutsche ChatGPT und rühmen sich der Ergebnisse. Ergänzt werden diese Bekundungen mit Vokabelkombinationen wie „ganz einfach“ oder „mal eben“.
Fragt man nach, wie sie damit umgehen, dass Large Language Models das Konzept der Richtigkeit nicht kennen, erheblich voreingenommen sind und aus der Architektur heraus nur Mittelmäßigkeit erzeugen können, lautet die Antwort gern: „Also für mich ist es gut genug.“
Es ist eine bräsige Zufriedenheit, die sich über das Land gelegt hat. Der Kopf funktioniert noch, doch Arme, Beine, Rücken – da kommt nicht mehr viel. Man möchte wütend werden ob der Lethargie, man möchte die Entscheider schütteln oder wachohrfeigen.
Aber… Das wäre natürlich auch sehr anstrengend.
Kommentare
Trq 7. Mai 2025 um 16:28
"Zweimal taucht Deutschland in den Randbereichen der Studienergebnisse auf. Nur 27% der Befragten Germanen überprüft die Ergebnisse, die ihnen eine KI auswirft – ein unterdurchschnittlicher Wert, der Durchschnitt liegt bei 31$ (und das ist ja auch verstörend niedrig)." – Ist der Dollar Typo oder Metahumor den ich wieder nicht verstehen?
Thomas Knüwer 8. Mai 2025 um 9:22
Das war ein Tippfehler – sorry und danke für den Hinweis!
Franziska 8. Mai 2025 um 9:47
Apropos Marathon-App: Ich konnte mich anmelden, ABER man konnte überhaupt nicht richtig in den Streckenverlauf rein und rauszoomen – entweder hatte man eine viel zu weit entfernte Einstellung oder total nah, was die Orientierung schwer machte. Tja.
Alexander Labinsky 8. Mai 2025 um 9:58
Dieser Beitrag bringt es mal wieder auf den Punkt, herzlichen Dank dafür!
Es ist wirklich nur noch eine wurschtige Verantwortungslosigkeit, mit der Aufgaben angegangen werden. Wenn es klappt, dann ist es ja super, wenn nicht, dann haben eben alle ihr bestes gegeben und jetzt mit Schuldzuweisungen anzufangen hilft ja auch niemandem mehr, darum wollen wir uns alle weiter lieb haben und zusammen das nächste Projekt in Angriff nehmen.
In meiner Erfahrung liegt es ironischerweise oft an Prozessen, in denen die Verantwortung angeblich klar zugewiesen ist, in der Folge aber niemand mehr die Gesamtverantwortung übernimmt: "Ich kann ja auch nur auf der Grundlage entscheiden, was mir zugearbeitet wird." Und zugearbeitet wird natürlich nur streng im eigenen engen Kompetenzbereich! Denn das lernt man früh, dass es anmaßend ist, wenn man bei den anderen Beteiligten Exzellenz einfordert – schließlich gilt in Deutschland das Experten-Prinzip, und Experte ist man qua Posten, nicht qua Qualifikation. Und den gesundem Menschenverstand, dem aufgrund von Lebenserfahrung und Interesse am Weltgeschehen auffällt, wenn ein gewählter Ansatz zum Scheitern verurteilt ist, lassen wir mal ganz außen vor, nicht dass wir Kollegen X, der sich ja nun wirklich im Rahmen seiner Möglichkeiten redlich bemüht, noch beschämen, weil er mit seiner Aufgabe offenbar überfordert ist, der arme Kerl.
Die Frage ist nur, wie wir aus der Nummer, ohne den von vielen scheinbar herbeigesehnten Caudillo-Stil, wo der Chef von ober herab mit harter Hand die Richtung vorgibt und sich Widerworte verbittet, wieder herauskommen. Was wir bräuchten wäre ja eine Kultur, in der man gemeinsam auf ein Ziel hinarbeitet und Hinweise, wie es noch besser ginge, nicht als ehrabschneidend, sondern als Möglichkeit zum lebenslangen Lernen begreifen. Aktuell zweifele ich daran, dass wir auf dem Weg dahin sind.