Hinweis: Ich bin ehrenamtlich für den Deutschen Olympischen Sportbund in der Kommission Marketing & Medien tätig. Ich bin das vor allem, weil ich die Idee der Olympischen Spiele für essentiell für unsere Gesellschaft halte.
Kurz nach 9 am Morgen, Quai Jacques Chirac, nicht weit vom Eiffelturm. Tausende warten hier, am Kilometer 38 des olympischen Marathons auf die Läuferinnen.
Neben uns kommen zwei People of Colour gerade noch rechtzeitig an, eine junge Frau, ein junger Mann, vielleicht Anfang 20, groß gewachsen, im Basketball würden beide reüssieren. Ich tippe auf ein Geschwisterpaar. Die beiden sprechen niederländisch und sind spürbar freudig aufgeregt.
Er holt sein Handy heraus, wie so viele hier. Denn Ansagen gibt es nicht, wer etwas über den Stand des Rennens wissen möchte, wirft den Livestream an. Aus meinem Handy klingt der ARD-Kommentar, rechts neben uns läuft BBC, bei den beiden Spätankommern NPO.
Fünf Läuferinnen haben sich vom Feld abgesetzt, zwei kommen aus Äthiopien, zwei aus Kenia – und dann noch Sifan Hassan aus den Niederlanden, die schon Bronze über 5.000 und 10.000 Meter holte. Als sie das sehen, wird die Aufregung größer.
Kurz darauf kommt der Pulk aus Motorrädern und dem Zeitnehmerwagen, der auf seiner Pritsche die Fotografen trägt – und dann die Spitzgengruppe.
Hören Sie das „JA! JA! SIFAN!“? Das sind die beiden.
Einige Minuten noch beklatschen sie auch die anderen Läufer, dann gilt ihr Blick nur noch dem Livestream. Auf den letzten Metern zieht Hassan einen irrwitzigen Spurt an und holt Gold – Niederländerin fällt Niederländer um den Hals.
So geht das bei Olympia hunderte, wenn nicht tausende Male am Tag. Und doch war diese Begegnung, es ärgert mich, dass ich die beiden nicht angesprochen habe, eine Besondere. Denn da waren zwei junge Menschen von nicht-weißer Hautfarbe, die eine Nicht-Weiße Niederländerin bejubeln, die 2008 als 15-Jährige aus Äthiopien geflüchtet ist – allein. Ohne Begleitung. So wie jene, die das heute auch versuchen und zu hunderten im Mittelmeer ersaufen.
Und diese Ex-Flüchlting holt Gold für ein Land, bei dem Rechtsradikale in der Regierung sitzen. Am Abend, bei der Siegerehrung, wird Hassan ein Kopftuch tragen.
Vielleicht waren die jungen Niederländer einfach begeisterte Langlauffans, doch der Verdacht liegt nahe, dass Hassan für sie auch ein Symbol ist, dass man es trotz aller Fremdenfeindlichkeit schaffen kann in dem Land dessen Klischeeeinwohner blonden Haare und besonders helle Haut haben.
Das ambivalente Utopia namens Olympia
Die Olympischen Spiele sind ein Utopie.
Gegründet wurden sie um der Welt zu zeigen, dass wir Menschen, egal welche Hautfarbe oder Herkunft oder Statur oder Weltsicht wir besitzen, selbst im Wettbewerb miteinander klarkommen und Achtung voreinander haben können.
Es gehört zur großen Ambivalenz rund um Olympia, dass diese Idee fast tot war, bevor sie von den Nazis zur Propaganda missbraucht wurde. Erst die Spiele 1936 mit ihren Inszenierungen sorgten dafür, dass die Welt Interesse an einem großen, multidisziplinärem Sportfest entwickelte. Ebenfalls zu dieser Ambivalenz zählt, dass die Spiele in Berlin die letzten vor dem Weltkrieg waren.
Auch heute noch gibt es vieles, was man an den Spielen und ihren Ausrichtern schlecht, schlimm, verwerflich finden kann. Korruption kommt einem schnell in den Kopf, die restriktiven Markenrechtsregeln, die hinterfragenswerte Doping-Agentur WADA, die merkwürdigen Gestalten, die sich rund um das IOC scharen und natürlich das Thema Umwelt.
Doch leben wir in einer vernetzten und komplexen Welt. Wer glaubt, irgendetwas sei eindeutig schwarz oder weiß, der sieht einfach nicht genau hin. Unsere Welt ist nicht simpel, nichts ist moralisch so eindeutig, wie mancher glauben möchte. Doch wer sich deshalb aus einer ambivalenten Situation herauszieht, gibt eben auch sein Mitspracherecht ab.
Gerade bei den Olympischen Spielen gibt es etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt um die Ambivalenz in die Richtung zu bewegen, die wir uns wünschen. Sie sind etwas Besonders und lösen deshalb eine immense kognitive Dissonanz in uns aus, wie auch Malcolm Gladwell in der sehr hörenswerten aktuellen Staffel seines Podcasts Revisiones History (in dem es um die Spiele von Berlin 1936 geht) feststellt.
Denn das mit der Korruption, dem Doping, den Potentaten, das alles wissen wir seit Jahrzehnten. Und doch ist es in dem Moment egal, da wir Menschen dabei beobachten Dinge zu tun, von denen wir selbst nicht einmal träumen würden, sie selbst zu vollbringen.
Ich habe die zweite Woche der Sommerspiele in Paris verbracht. Es waren wundervolle, hoch emotionale Tage. „Die Spiele waren eine Wohltat“, hieß es im ZDF-Kommentar der Schlussfeier und dies ist der wahrste Satz, der über sie gesprochen wurde.
In all dieser Unsicherheit, den Kriegen in der Ukraine und Israel, dem Erstarken der Undemokraten und der Angst vor einem erneuten US-Präsident Donald Trump waren die Spiele von Paris zunächst einmal eine Flucht. Aber eben auch: ein Utopia.
In diesem Utopia sind Hautfarben und Geschlechter egal. Selbst Leistungen waren nur insofern von Bedeutung, als dass Leistung den Versuch umschreibt, etwas zu erreichen. Egal ob es die abgehängte Freiwasserschwimmerin Emma Finlin oder die überrundete 10.000 Meter-Läuferin Megan Keith war – sie wurden lauter gefeiert als viele Sieger.
Im Publikum ist es nicht anders. Da versammelt sich eine bunte Menge von Menschen. Die einen unterstützen Angehörige, wie die Familie des britischen Bahnradfahrers Ethan Vernon, die nächsten eskalieren, weil sie LeBron James oder Stephen Curry live sehen können und andere gehen zu einem der Wettbewerbe, die keinen Eintritt kosten, so wie zum Triathlon oder der Mixed Staffel im Gehen (einer meiner Höhepunkte) um einfach zu gucken, was passiert. Viele kommen in Trikots gewandet, andere hängen sich Blumenketten in den Farben ihres Landes um, manche verkleiden sich komplett.
Geschürt wurde dies durch fantastische Ideen der Organisatoren. Zum Beispiel den Parc des Champions: Jeden Abend um 17.30 wurden dort Medaillengewinner aus verschiedensten Sportarten und allen Nationen gefeiert – Eintritt frei. Und man stelle sich nur mal vor, man ist Tontauben-Schütze und geht seinem Hobby vor einer niedrigen dreistelligen Zahl von Besuchern in relativer Stille nach. Dann gibt es eine Medaille und man betritt einen langen Laufsteg mit Blick auf den Eiffelturm vor 13.000 euphorisierten Zuschauern, denn vor einem hat Starschwimmer Leon Marchand mit nacktem Oberkörper die Masse durcheskaliert.
Auch die 13.000 im Parc des Champions einte eine kindliche Begeisterung für die Athleten und für die eigene Unterstützung auf den Rängen. Dies kann über 16 Tage nur anhalten, weil es ein drittes Element gibt: die Helfer. Egal ob es die 45.000 Freiwilligen sind, die abgesehen von ihrer Bekleidung (#Ambivalenz) keinen Lohn erhalten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe oder die Polizei – alle sind gut gelaunt, gar fröhliche, alle scheinen nur das Ziel zu haben, den Menschen vor Ort eine gute Zeit zu bereiten.
Belohnt werden sie mit tausenden „Merci“, manchmal ein wenig Verrücktheit und einer Atmosphäre, wie es sie sonst auf der Welt nur selten gibt.
Noch so ein Olympischer Moment: Am Tag vor dem Damenmarathon stieg die Ausgabe der Herren. Eine halbe Stunde vor dem Feld fährt die erste von etlichen Motorradstaffeln der Polizei die Strecke ab. Über 42 Kilometer werden sie begleitet von Applaus – was die Ordnungshüter sichtlich irritiert. Schließlich heben die ersten schüchtern die Hand, irgendwann sind es immer mehr. Beim Damenmarathon ist dies schon so normal, dass erste Motorradler Zuschauer bei der langsamen Fahrt abklatschen.
Vielleicht merken sich das mal alle Beteiligten: Ist die Polizei freundlich zu den Menschen, sind die Menschen es auch zur Polizei – und umgekehrt.
In einem weiteren Punkt waren die Spiele in Paris – so wie auch die von London 2012 – ein Utopia. Sie zeigten, wie eine Stadt sein könnte. Vermutlich nie wieder wird Paris so angenehm staufrei, leer und freundlich sein.
Das liegt natürlich auch daran, dass – ebenfalls wie in London – zahlreiche Einheimische die Stadt verlassen hatten. Der Verdacht liegt nahe, dass dies an jenen liegt, die kein Utopia wollen und nicht mal die Realität schildern: den Medien.
Sowohl 2012 wie 2024 waren die Spiele im Vorfeld schon gescheitert, ein einziges Chaos, in dem nichts funktioniert und die Gastgeberstadt im Wahnsinn versinkt – zumindest, wenn man der Berichterstattung glaubte.
Wir müssen noch sehr viel intensiver darüber diskutieren, welche Auswirkungen die grundnegative Haltung des allerweitesten Teils der klassischen Medien bei praktisch jedem Thema auf den Zusammenhalt under Gesellschaft hat.
In den vergangenen Wochen aber funktionierte Paris so, wie man es sich immer wünschen würde. Selbst das weite Netz der Fahrspuren, die nur für Olympia-Fahrzeuge, Busse und Taxen abgesperrt waren, führte nicht zu mehr Stau – sonst grundblockierte Kreuzungen oder der Autobahnring waren weitaus weniger verstopft als an einem normalen Wochentag.
Sehnsuchtsort Paris
In einem Punkt sind sich Franzosen und Deutsche sehr ähnlich: Sie sind in ihrer Grundhaltung schnell unzufrieden und haben keine Probleme, dies zu äußern. Oder bodenständiger formuliert: Beide Nationen meckern gern.
Während der Olympischen Spiele wurde nicht gemeckert – im Gegenteil. Die Franzosen begeisterten sich für ihre Sportler und für das Funktionieren der Spiele und sie begeisterten sich für die eigene Begeisterung. Und mit dieser Begeisterung begeisterten sie die ganze Welt.
Wird diese Stimmung anhalten? Sicher nicht für ewig. Aber noch heute schwärmen Engländer von den Spielen in London und wir Deutschen verklären das Sommermärchen des Fußballs – das 18 Jahre her ist.
Und da ist noch etwas. Mit den Olympischen Spielen hat Paris einen Weg abgeschlossen, der die Stadt zum popkulturellen Sehnsuchtsort der westlichen Welt gemacht hat, womit sie New York und London ablöst. Das ist mehr als Chichi: Solch eine Position hat nicht nur Auswirkungen auf den Tourismus, sondern genauso auf die Ansiedlung von Unternehmen und die Attraktivität für Wissenschaftlerinnen.
Aber die Kosten!
Eigentlich bräuchte Deutschland die Olympischen Spiele schon morgen und nicht übermorgen. Denn jene Begeisterung fehlt ja. Alles erscheint düster, ja, unrettbar. Aus diesem – oft durch Fakten nicht gedeckten – Morast nährt sich die AFD.
Natürlich ist nicht alles glänzend. Natürlich ist viel harte Arbeit (und viel Geld) nötig, um Deutschland in das Land zu verwandeln, als das es sich gern sieht. Nur: Das gilt eben auch ohne Olympische Spiele. Irgendwo las ich während der Tage von Paris, dass man ja nicht warten könnte, bis man die Spiele bekommt, um mit der Arbeit anzufangen. Das behauptet ja auch niemand. Aber glauben wir allen Ernstes, dass die schwerwiegenden Fehler der Regierungszeit von Angela Merkel in zwei Jahren begradigt werden sein?
„Aber, aber, aber.. DIE KOSTEN!“ werden jetzt viele wehklagen. Natürlich haben sie damit Recht – Olympische Spiele kosten Milliarden. Aber diese Milliarden fließen zu einem gehörigen Teil in Projekte, die langfristig erhalten bleiben: bessere Straßen, die Renovierung von Sportstätten, Infrastrukturprojekte.
Neu gebaut, übrigens, soll für Olympische Spiele in Deutschland nichts mehr. Was natürlich auch bedeutet, dass sie nur in Berlin oder München stattfinden könnten – denn nur noch dort gibt es große Stadien, die für Leichtathletik geeignet sind.
Das allein ist ja schon traurig. Doch lässt es sich über viele Sportarten hinweg herunterdividieren. Für BMX-Rennen gibt es nur eine überdachte Anlage in Deutschland, es gibt zu wenig Sporthallen insgesamt, Schulsport fällt überdurchschnittlich häufig aus, Anwohner klagen Sportplätze weg und viele Sportvereine kommen nur über die Runden durch Verrückte, die am Rande der Selbstausbeutung das Vereinsleben beisammen halten. Gerade letzteres muss sich ändern. Sportvereine sind Orte an denen wir zusammenkommen und ohne diese Orte zerfällt unsere Gesellschaft.
Dies alles erfordert Geld. Aber Olympische Spiele in Deutschland könnten auch in diesem Punkt helfen. Denn das Projekt Olympia könnte via Sonderhaushalte die Haushaltssperre umgehen. Die wird ja inzwischen schon von so linksradikalen Autoren wie Martin Wolf, dem Mit-Herausgeber der „Financial Times“ scharf kritisiert. Zitat:
„Germany’s short-term problems will pass. Its longer-term ones are more challenging. But the most unnecessary one is its reluctance to fund needed public investment at home. The time to repeal the absurd “debt brake” in the constitution is now.“
So lange aber die CDU oder die FDP in der Regierung beteiligt sind, wird nicht an der Schuldenbremse gerüttelt werdem, egal was Experten sagen. Die Olympischen Spiele würden ein wenig was freimachen, ohne das bockige Beharren auf der Schuldenbremse lockern zu müssen – das eigene Gesicht bliebe gewahrt.
Diese Gesichtswahrung ist wichtig, weil den Deutschen seit Jahrzehnten eingebläut wird, ein ausgeglichener Haushalt sei glückselig machend. Dabei ist er nur Ausdruck eines falschen Staatsverständisses. Denn was ist denn die Aufgabe des Staates? Doch nicht, einen ausgeglichenen Haushalte zu präsentieren – sondern seinen Bürgern ein Umfeld zu ermöglichen, in dem sie sicher und frei leben können. Dieses übergeordnete Ziel ist in den vergangenen Jahren totgespart worden.
Das muss sich ändern – egal ob mit oder ohne Olympische Spiele. Mit den Spielen aber würde es einfacher. Denn wir Menschen sind eben auch sehr faul und will man uns zu einer Anstrengung überreden hilft es, ein Ziel zu haben. Mehr noch: eine Vision.
Diese Vision könnte lauten: Die Olympischen Spiele in Deutschland sind der Abschluss des Weges, der Deutschland renoviert, gar saniert, egal ob es um Infrastruktur, Gesetze oder sozialen Zusammenhalt geht. Wir machen uns jetzt auf die Reise und wollen 2040 damit fertig sein (2036 wäre noch schöner, aber 100 Jahre nach Hitlers Spielen wieder welche abzuhalten – also, ich kann das Zögern nachvollziehen).
Dann, wenn wir fertig sind, laden wir die Welt ein und zeigen ihr dieses neue Deutschland mit seiner geeinten, demokratischen Gesellschaft und seiner hohen Lebensqualität. Und gemeinsam mit unseren Gästen aus allen Nationen feiern wir, was wir erreicht haben.
Die Geschichten, die wir uns erzählen
Wir Menschen sind nur so gut, wie die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Die Olympischen Spiele sind voll von Geschichten. Es sind Geschichten des Triumphes und des Scheiterns, der Entbehrung und der hysterischen Feier des Erreichten.
Derzeit gibt es Menschen und Medien, die Zweifel daran wecken, ob Deutschland überhaupt in der Lage wäre, so etwas wie Paris 2024 zu organisieren.
An die habe ich eine Frage: Are you f****** kidding me?
Selbst unter den aktuellen Gegebenheiten hat Deutschland gerade eine Fußball-Europameisterschaft auf die Beine gestellt, die zwar nicht die Magie eines Sommermärchens umgab, die aber ohne Fehl und Tadel war.
Was wäre erst möglich, wenn wir uns gemeinsam anstrengen? Wenn wir uns vorstellen wie es wäre, wenn deutsche Sprinterinnen im Olympiastadion Berlin Gold holten? Wenn ganz Sylt sich für die Surfer an seinem Strand begeisterte? Wenn die deutschen Basketballer die Vorrunde auf ihrem Homecourt Kölnarena dominieren um für die Ausscheidungsspiele nach Berlin oder München zu gehen? Und wenn wir all das anschließend auch noch für die Paralympics wiederholen?
Diese Geschichte sollten wir uns erzählen. Nein, wir müssen sie erzählen. Auch wenn es viel Arbeit bedeutet.
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Kommentare
Alphager 15. August 2024 um 17:14
Ich bin nicht bereit, Milliarden Steuergelder auszugeben, damit IOC-Vertreter eigene Straßenspuren von der Polizei freigehalten bekommen und Milliardengewinne mit Marketing- und TV-Rechten machen. Sollte die Geldverteilung zu Gunsten der Gastgeber verändert werden bin ich voll dafür.
Calvero 20. August 2024 um 11:55
Aäähh, warum denn nun? PS: Mehr als das, was Jens Weinreich bei Tilo Jung gerade über 4 Stunden (!) dargelegt hat, muss man zum Thema nicht wissen.