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Gern wüsste ich, welche Stimmung heute am Harvestehuder Weg 42 in Hamburg herrschte. Dort hat der Jahreszeiten-Verlag seinen Sitz und somit auch die Redaktion des von mir durchaus geschätzten Magazins „Der Feinschmecker“.

Ob man sich dort heute beglückwünscht hat? Gehighfived gar? Ob man sich jetzt zu den coolen Kids gehörend wähnte?

Denn gestern übertrug das Gourmet-Magazin die Verleihung seines Riesling-Cups, einem Wettbewerb für Weine jener Rebsorte. Doch trafen sich Chefredakteurin Deborah Middelhoff und Gast-Moderator Henrik Thoma nicht gut ausgeleuchtet an jenem Harvestehuder Weg 42 – sondern, ich zitiere:

„In unserem 3D-Metaverse-Studio des internationalen Start-ups Room“.

Und das sah dann so aus:

Oder so:

Das Setting war nicht nur wegen der grotesken Riesenhaftigkeit des Pseudo-TV-Studios von einem gehobenen Maß an Albernheit gekennzeichnet. Nein, offensichtlich saßen Middelhoff und Thoma an unterschiedlichen Orten – obwohl beide in Hamburg arbeiten. (Disclosure: Thoma ist mit Wein am Limit einer der einflussreichsten Händler der Weinszene. Ich bin als Abonnent und Käufer begeisterter Kunde).

Die 40 Minuten zeigen, was derzeit bei solchen Formaten falsch läuft. Zum Beispiel der Glaube, schlecht gemachtes Fernsehen werde „revolutionär“ (Zitat Middelhoff), weil es im Internet stattfindet.

Denn genau das war es: bizarr schlecht gemachtes Fernsehen.

Ständig ruckelte und wuckelte es, Ton und Bild liefen auseinander, die Bildschärfe der reingeschnittenen Sprecher unterschied sich signifkant von der Schärfe des Möchtegern-Studios. Entweder die Teilnehmer saßen vor nicht ausreichend guten Kameras, oder die Software des „internationalen Start-ups Room“ rechnete die Qualität runter.

Die zugeschalteten Sieger Christopher Löwen und Philipp Kuhn hatten offensichtlich keine Greenscreen hinter sich und mussten deshalb so beschnitten werden, dass ihre Statur an Comicfiguren erinnerte.

Aber auch bei Middelhoff und Thoma reichte es nicht für Top-Greenscreen-Technik. Deshalb musste Thoma beim Probieren der Weine sein Glas von unten ins Bild ziehen, so dass er wirkte wie ein Säufer in einer Sitcom – immer ordentlich Alk unter der Tischplatte versteckt.

Der Sound? Grauenvoll. Keiner der Beteiligten war stressfrei verständlich.

Das Konzept? Nicht existent.

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Dass Chefredakteurin Middelhoff schon in den ersten Minuten einen Auxerrios für einen Rotwein hielt, war fast noch hinnehmbar. Also, wenn man kein überdurchschnittliches Weinwissen bei einem Wein-Award erwartet.

Eigentlich könnte man den Mantel des Schweigens über diese Peinlichkeit decken. Nur steht der Riesling-Cup stellvertretend für einiges, was derzeit im digitalen Drittweltland Deutschland falsch läuft.

Das Columbus-Syndrom

Der Feinschmecker ist hochgradig analog. Die Webseite ist optisch tapfer gemacht, inhaltlich ist sie verzichtbar. Die Analogität betrifft auch die Chefredakteurin: Gelegentlich liked sie mal was auf LinkedIn, aber nicht mal für ein einziges Posting dort hat es bislang gereicht. Kein Mitglied der Ganske-Geschäfsführung verfügt über ein digitales Profil. Es gibt Social Media-Aktivitäten des „Feinschmecker“, sie sind auf der Homepage aber nicht prominent verlinkt, inhaltlich von unterdurchschnittlicher Qualität und erzeugen entsprechend niedriges Engagement. Immerhin gibt es einen Podcast – mit ähnlicher Ambitionslosigkeit wie jener Livestream.

Als Columbus Amerika erreichte, dachte er, es sei Indien. So ähnlich ist das mit dem Riesling-Cup: „Der Feinschmecker“ schafft es, den Oberkörper der Chefredakteurin auf Youtube zu bewegen und glaubt nun, man habe das Metaverse erreicht – einfach weil das eigene, beschränkte Weltbild verhindert, die Vorstellungskraft zu weiten.

Der Fernseh-Fetisch

Für meine Generation gab es kaum etwas Größeres als das Fernsehen. Wer im Fernsehen war, der hatte es geschafft – und sei es nur als Winkemännchen im Hintergrund einer Übertragung von der Internationalen Funkausstellung.

Diese Prägung führt dazu, dass sich alles am Vorbild Fernsehen bemisst. So glaubt dann eben der „Feinschmecker“, ein Studio mit der Alster als Hintergrund sei in irgendeiner Form zweckdienlich bei der Übertragung einer solchen Preisverleihung, weil die Redaktion eben in Hamburg sitzt.

Doch TV ist TV und Internet ist Internet. Längst wäre es möglich, so viel mehr zu machen. Sowohl was das Setting betrifft, als auch die Einbindung des Netzes ingesamt. Der Zuschauer blieb beim „Feinschmecker“ Zuschauer – obwohl man ihn ja mit Kommentaren hätte einbinden können. Überraschend ist diese Sende-Fixierung nicht: Auch im Social Web meidet Ganske ja Kommunikation. Oder um einen Song-Titel von Olli Schulz abzuwandeln: „Halt die Fresse, kauf nen Heft“.

Die Trend-Hyperventilation

Verlage sind mit dieser beschränkten Weltsicht nicht allein in Deutschland. Das Digitalwissen von EntscheiderInnen ist in zu vielen Branchen und in zu vielen Unternehmen signifikant niedriger als in anderen Ländern. Mehr noch: In Deutschland geriert man sich gern in demonstrativer Ablehnung alles Digitalen.

Aus dieser Historie heraus entstehen dann Hype-Wellen, denen sich jene EntscheiderInnen anschließen, um mal zu den coolen Kids zu gehören. Derzeit gibt es solche Trend-Hyperventilationen zum Beispiel bei NFT. So feierte sich Donata Hopfen, die die scheidende Chefin der Deutschen Fußball-Liga DFL, auf LinkedIn für den NFT-Vermarktungsdeal, den sie abschloss. Natürlich kann man sich schnafte finden, wenn man Teil des Versuchs ist, die Fans des eigenen Produktes in ein Schneeballsystem zu locken – aber nur, wenn man keine Sorgen vor langfristigen Image-Dellen hat.

Das Metaverse ist auch so ein Hype. Eines eint fast alle Marken und Institutionen, die sich in diesem Feld versuchen: Ihre Präsenzen in virtuellen Welten zeichnen sich durch kontemplative Ruhe aus – so wie jüngst bei der Europäischen Union. 

Die meisten Markenverantwortlichen, die ins Metaverse drängen, hatten auch sicher schon 5 Minuten und 23 Sekunden eine VR-Brille auf. Ist es eine steile These anzunehmen, dass es im Hause Ganske ein kürzerer Zeitraum war?

Es wird Sie, liebe Lesenden, vielleicht überraschen: Aber die Default-Einstellung virtueller Welten ist nicht die Beinlosigkeit. Im „Feinschmecker“-Stream hat keiner der Gäste Füße, Knie oder Schenkel – so wie im Meta-Metaverse. In letzterem aber können sich die Entbeinten wenigstens bewegen. Beim „Feinschmecker“-3D-Metaverse-Studio war das ausgeschlossen – wer sich bewegt, verschwindet.

Aber klar: Das war kein „Metaverse-Studio“, sondern ein ein virtuelles Studio, wie es im Fernsehen seit Jahrzehnten Alltag ist – nur eben in schlechter. In sehr, sehr, SEHR viel schlechter. Und 3D, wie behauptet, war da nix.

Aber, hey, Metaverse! Freuen Sie sich demnächst auf die „Feinschmecker“-Abobestätigung via Blockchain.

Die Billigheimer-Mentalität

Verlage haben einen Igel in der Tasche. Das liegt an ihrer generellen Krise. Geht es um das Digitale, handelt es sich um den prähistorischen Riesenigel, der sich einst wilde Kämpfe mit T-Rex-Männchen lieferte – und gewann.

Denn natürlich hätte sich selbst dieses virtuelle Studio so bespielen lassen, dass die Bilder scharf und die Lippenbewegungen synchron zum Ton gewesen wären. Jener Ton hätte sogar angenehm klingen können.

Dafür aber hätte man gute Mikros, mobile Greenscreens, ordentliche Webcams und gutes Licht kaufen und durch die Republik schicken müssen, bestenfalls mit einem Techniker, der das ganze Zeugs aufbaut. So was kostet halt.

Und deshalb sind so viele Livestreams von Medienhäusern – abgesehen von der konzeptionellen Trostlosigkeit – so ermüdend: Man glaubt, dass iPhone Headsets und eingebaute Webcams großartig sind, weil man gar nichts anderes kennt und in diesem kostenlosen Internet kein Geld ausgeben will.

Nun bin ich ja der letzte, der gegen Experimente und dem Ausprobieren von Neuem wäre. Aber öffentlich unter dem Dach einer Marke, deren Abo-Club „Premium“ im Namen trägt? Und gab es wirklich niemand der darauf hingewiesen hat, dass Anbieter wie evmux bereits eine überlegene Technologie haben, die es für 40$ im Monat gibt?

Ja, ich wüsste wirklich gern, was heute so gesprochen wurde, am Harvestehuder Weg. War man all pumped up vom Vorabend? Einfach nur zufrieden? Oder hat irgendjemand das gesagt, was angemessen gewesen wäre:

„Was war das für ein peinlicher Scheiß gestern.“


Kommentare


Henning 9. Dezember 2022 um 19:55

Vielleicht haben sie sie kostenlose Version von Room3D verwendet? Dein Artikel macht auf jeden Fall Lust sich dieses Abenteuer einmal anzusehen!

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Tim 11. Dezember 2022 um 21:17

Der Mitschnitt auf Youtube ist einfach nur herrlich. Besser kann man gar nicht klarmachen, dass einem die eigene Veranstaltung völlig egal ist und dass man auf sein Publikum pfeift. Ist das denn vorher gar nicht geprobt worden? Auch sehr unfair und unprofessionell gegenüber den Herren Thoma, Löwen und Kuhn. Aber gut, Verlage. Was soll man da groß erwarten.

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Thankmar 13. Dezember 2022 um 14:27

Die Anwesenheit auf privatwirtschaftlichen Social Media-Plattformen als Marker für "im Digitalen angekommen" zu sehen, ist aber auch sehr 2010.

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Thankmar 13. Dezember 2022 um 14:28

Entschuldige, das sollte keine Antwort sein

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Thomas Knüwer 15. Dezember 2022 um 18:09

Das sehe ich anders. Führungskräfte bewegen sich oft in engen Filterblasen, privat wie beruflich. Und das Social Web ist die größte Filterblasenzerplatzmaschine ever. Aus den 13 Jahren Beratung ist meine Erfahrung, dass in signifikantem Ausmaß gilt: Je aktiver eine Führungskraft im Social Web, desto höher ihre Managementqualität und desto größer die Offenheit gegenüber Innovationen.

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JensE 13. Dezember 2022 um 10:33

Schöner Beitrag. Aber bei "[…] die die scheidende Chefin […]" ist glaube ich ein "die" zu viel. ;o)

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Teekay 13. Dezember 2022 um 16:44

Ich verstehe einfach nicht, warum man sich nicht physisch an einem Ort getroffen hat, dort einen Podcast aufzeichnet und dann das ganze filmt? Ich sehe einfach keinen Mehrwert im Metaverse zu so vielen anderen Formaten die man hätte wählen können..

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