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„Bin ich im falschen Film?“ Diese Frage stellte ich mir kürzlich, als der Deutsche Marketing Tag in Düsseldorf gastierte, das jährliche Treffen der Mitglieder des Deutschen Marketing Verbandes (zu denen ich auch gehöre).

„Marketing Centricity“ war das etwas wolkige Oberthema. Doch wie sich dies runterbrach, das war bemerkenswert. Denn ganz viele der Vorträge und Debatten drehten sich um digitale Themen (was natürlich richtig ist), aber in einem hohen Maß um Bereiche, die immense Investitionen erfordern.

Beispiele:

  • „Künstliche Intelligenz und Social Media“
  • „Massenhafte Individualisierung“
  • „Big Data zu Smart Data und Analytics“
  • „Marketing Tech“
  • „Künstliche Intelligenz im Marketing“
  • „Campaign Algorithms“
  • „Data Creativity“
  • „CRM Best Practices“
  • „Blockchain“
  • „Real-Time Steuerung“
  • „Datengetriebenes Marketing“

„Wisst ihr eigentlich, wovon ihr redet?“, wollte ich bei manchen der Vorträge fragen und gab mir selbst die Antwort: „Nö.“

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Der holprige Umgang vieler Redner mit technischen Vokabeln und das Bejubeln von Ergebnissen, die eher mittelmäßig wirkten, offenbarten aus meiner Sicht ein aktuelles Problem des deutschen Marketings:

Die Entscheider glauben, dass sie nur teure Technologie kaufen müssten – und alles wird wieder gut. Vor allem nimmt ihnen IT die Last, sich selbst und ihr Tun in den vergangenen 20 Jahren hinterfragen zu müssen

Datenbanken und Algorithmen werden zum Alibi für mangelnden Handlungswillen.

Denn was soll sie denn tun, die digitale Technik, die Soft- und Hardware? Vor allem versucht sie Beziehungen zu Kunden zu automatisieren.

Das kann dann so aussehen: Kauft eine Kundin alle paar Monate eine bestimmte Schokolade, soll ihr immer mal wieder die passende Werbung angezeigt werden, sie soll über Preisaktionen per Newsletter informiert werden und all dies wird gepaart mit Produkten, die andere Liebhaber jener Schokolade mit ähnlicher Demographie auch bestellt haben.

Zu keinem Zeitpunkt stellt sich jemand die Frage, ob die Kundin das gut findet. Ob sie die Schokolade für sich kauft, oder jemand anders. Ob sie gerade auf Diät ist. Wofür sie die Schokolade braucht. Warum sie gerade diese Marke kauft. Stattdessen werden Daten gesammelt, aggregiert und durch Algorithmen ausgewertet und in Aktionen verwandelt.

Hier findet eine grundsätzliche Verwechslung statt: Im Marketing dominiert der Glaube, ein Verbraucher oder Kunde definiere sich aus seinen Klicks und Käufen.

Handelsblatt.com an einem ganz normalen Tag.

Diese Haltung entstand aus dem, was die Tech-Ethnographin Tricia Wang „Quantifizierungs-Bias“ nennt: ein unterbewusste Überbewertung des Messbaren über das Nicht-Messbare.

Im Marketing ist dies nicht neu, sondern führt seit Jahrzehnten zu Fehleinschätzungen. Ein Beispiel dafür sind Media-Reichweiten. Es lässt sich messen, wie viele Menschen eine Zeitung gekauft haben – aber nur mit hohem Aufwand, wie viele (wahrscheinlich) eine Anzeige wahrgenommen haben. Weshalb die Reichweite einer Werbung im klassischen Bereich ohne großen Widerspruch mit der Reichweite des Mediums in Gestalt von Auflagen und Einschaltquoten gleichgesetzt wird. Das war noch nie auch nur annähernd richtig, aber eben messbar.

Oder: Während solch eine Print- oder TV-Kampagne läuft, sind Produkte oft im Handel reduziert. Welcher Anteil der Käufe auf die Kampagne zurückzuführen ist und welcher auf den Preis oder ob beides korelliert, ist nicht messbar. Der Umsatz schon. Also wurde dieser durch die Kampagne befeuert.

Nicht hilfreich war dabei eine immer häufger zu beobachtende Mentalität in Großkonzernen, in denen vieles erlaubt ist, nur eines nicht: Fehler machen. Auch dies hilft dem Quantifzierungs-Bias. Denn stellt sich eine Marketingmaßnahme als erfolglos heraus, helfen quantifizierbare Entscheidungsgrundlagen dabei die eigene Karriere zu retten – „Cover your ass“, heißt das in der Konzernsprache.

Wer so denkt, für den ist es verlockend, in MarTech zu investieren, in Datenbanken und CRM-Systeme, in Big-Data-Anwendungen und KI-Programme. Oben kommen Zahlen rein, unten Zahlen wieder raus. Alles quantifzierbar, alles cover your ass. Laut dem Gartner „Spend Survey“ fließen 30% der Marketing-Etats in den Bereich MarTech.

Und der Kunde?

Hasst es.

Automatisierbare Werbung, beispielsweise, ist ja nicht neu. Ihre bisheriger Erfolg besteht darin, dass Adblocker erst wuchsen, dann in den Architektur mobiler Betriebssysteme krochen, anschließend in Browser und bei vielen Nutzern die Grundeinstellung des Surfverhaltens bilden.

Wenn das so toll funktioniert mit der datengesteuerten, individuellen Ansprache – warum wehren sich so viele Nutzer dagegen?

Die Marketers selbst sind ja unzufrieden mit ihrem Online-Bereich, das zeigen etliche Studien. Doch wollten sie dies ändern, wären grundlegende Schritte nötig. Die fallen schwer in einer über Jahrzehnte gewachsenen Biosphäre des Quantifizierungsfetischismus.

Kommen wir nochmal zurück zu jener Frage, dich oben stellte: „Was soll sie denn tun, die digitale Technik, die Soft- und Hardware? Vor allem versucht sie Beziehungen zu Kunden zu automatisieren.“

Jede Datenverarbeitung kann nur so gut sein, wie die Daten, die sie erhält. Und hier liegt das Problem bei all den IT-Investitionen des Marketing-Bereichs. Die mit ihnen erworbenen Programme, Server und Computer sollen etwas analysieren, ordnen und bespielen, was gar nicht vorhanden ist – Beziehungen zu Kunden.

Die allerallermeisten Unternehmen haben keinen Endkundenkontakt – und erst recht keine Beziehung.

Bei Lebensmittelherstellern hat der Händler den Kontakt zum Verbraucher, bei Autoherstellern die unabhängigen Händler, bei Verlagen die Kioskverkäufer. All diese Unternehmen hören nur etwas von ihren Kunden, wenn etwas schief gelaufen ist. Niemand ruft bei der Hotline von Mars an und sagt: „Hömma, dä Schokkoriegel heute.. Echt lecker – gute Arbeit, weiter so!“

Eine Beziehung aber ginge ja noch weiter, bestünde aus einem zumindest unregelmäßigen Kontakt, einer Konversation, eben mehr, als nur dem Entgegennehmen von Geld im Gegenzug für die Übergabe eines Produktes.

Auch ohne Beziehung können Verbraucher eine Bindung an ein Produkt oder eine Marke empfinden – das ist sogar der Normalzustand. Dann kauft Verbraucher das Shampoo, das sie kaufen, weil es keine Probleme gibt oder dessen Verpackung sie am ansprechendsten finden. Ohne eine Kommunikation wird dieses Shampoo es aber schwer haben, die Kunden zu halten, wenn ein Mitbewerber bessere Argumente oder Konversation liefert.

„Any fool can steal your idea. But not even a genius can steal your relationships.“

Das schrieb einmal der großartige Cartoonist Hugh MacLeod. Das Fehlen von Beziehungen ist nicht nur ein kleines Problem im Rahmen der Kundenbindung: Es begünstigt Disruptions-Situationen.

Eine disruptive Innovation, nur um das nochmal festzuhalten, ist nicht einfach nur Irgendwatneuet, sondern ein von Harvard-Professor Clayton Christensen beobachtetes Phänomen. Wikipedia definiert es so: „Disruptive innovation is an innovation that creates a new market and value network and eventually disrupts an existing market and value network, displacing established market-leading firms, products, and alliances“

Das Digitale Zeitalter erleichtert Disruption, weil auch kleinere Unternehmen sehr einfach eine Beziehung zu Kunden aufbauen können, ohne überfordert zu sein – selbst wenn sie wachsen.

Ein schönes Beispiel ist der Biermarkt. Über Jahrzehnte haben die TV-Biere Millionen in Werbung und Sponsoring gesteckt. Wer sich jedoch die Absatzzahlen genauer anschaut entdeckt, dass jedes Bier eine regionale Fanbasis hat, außerhalb dieser Stammregion aber vor allem über den Preis verkauft. Sprich: All jene Millionen über Jahrzehnte haben nicht dafür gesorgt, dass eine enge Bindung, geschweige denn eine Beziehung zu Käufern entstanden ist.

Gegenbeispiel Brewdog: Der inzwischen vielleicht größte Craft Brauer Europas betreibt eine aktive Community, nutzt seine Anhänger systematisch zur Finanzierung seiner Expansion (die Hauptversammlung in Aberdeen ist eine riesige Party mit Bands und Bier), entwickelt gemeinsam mit seinen Fans die Bierserie Mashtag. Wie gut Brewdog seine Fans versteht, zeigt der Adventskalender: 24 Biere für 115 Euro – aber jedes einzelne Bier gehört zu den schrägen, abgefahrenen Kreationen der Schotten. Folge: Der Kalender ist in kürzester Zeit ausverkauft.

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Wie aber kommen Unternehmen nun aus dieser Situation raus? Wie können sie Beziehungen aufbauen, obwohl sie groß geworden sind?

Tricia Wang hat einen spannenden Begriff erschaffen: Thick Data.

Damit meint sie die direktesten und unverfälschtesten, erhältlichen Daten, die den vollen Kontext von Kunden-/Verbraucheremotionen und -erlebnissen einfangen. Diese Thick Data würden es den Entscheidern erlauben, die Welt wie ein Außeridischer zu sehen, der zum ersten Mal die Welt sieht.

Auch aus unserer Erfahrung bei kpunktnull ist solch ein naiver Blick auf die Realität hilfreich. Denn über die Jahre zementieren sich innerhalb von Marketingabteilungen Ansichten, fast schon: Mythen, über die Käufer und Verwender eines Produktes oder einer Marke. So behauptete ein Markenverantwortlicher bei einem unserer Projekte einst, sein Produkt würde ausschließlich in Gesellschaft verwendet – doch im Social Web zeigte sich, dass die Hälfte aller Postings eine demonstrative Verwendung allein zeigte.

Social Media Listening ist also ein Weg, um Thick Data zu generieren.

Ein weiterer ist die Einrichtung eigener Kanäle. Diese können aber nur erfolgreich sein, wenn aus einer losen Bindung schon etwas Stärkeres geworden ist. Brewdog konnte auch nicht von Null auf Community gehen. Verlage behaupten derzeit gern, ihre Abonnenten seien nun Club-Mitglieder. Doch welche Kommunikation besteht zwischen ihnen und jenen Clubererinnen und -ern?

Ein Beispiel für die Einrichtung eines solchen Kanals ist Borussia Dortmund. Auf dem Deutschen Marketing Tag erklärte Geschäftsführer Carsten Cramer, dass der Club ein Angebot gehabt hätte, seine Fanshops von einem US-Unternehmen betreiben zu lassen. Man entschied sich dagegen. Denn Der Fan solle dort Kontakt haben zu BVB-Mitarbeitern, die sogar über die aktuelle Nachrichtenlage in Sachen Verein und Mannschaft informiert werden, damit sie sich kundig mit den Anhängern unterhalten können – was für ein Unterschied zu Telekomkonzernen, die ihre stationären Ableger von Franchisenehmern betreiben lassen.

Und auch das Community Management im Social Web ist von immenser Bedeutung. Kommunikation erzeugt mehr Kommunikation, das gilt auch auf Facebook oder Twitter. Weshalb eine aktive Reaktion auf das, was die Anhänger einer Marke schreiben, den Einstieg in die Beziehung bedeutet. Doch zeigt sich immer wieder, dass Unternehmen lieber am Community Management sparen als an der Inhalteerstellung oder den Mediaetats – ein strategischer Fehler.

All diese Überlegungen um Beziehung, Konversation und individuelle Erlebnisse spielen derzeit kaum eine Rolle im deutschen Marketing – im Gegensatz zu IT-Investitionen. Unternehmen versuchen seit Jahrzehnte gewachsene Fehlentwicklungen mit Geld totzuwerfen. Die Erfolgsaussichten dieser Herangehensweise erscheinen mir überschaubar.

Weshalb ich glaube, dass im übernächsten Jahr die große Enttäuschungswelle einsetzen wird: All die funkelnden Programme und wolkigen KI-Pläne werden damit enden, dass Programme von Mitarbeitern nicht eingesetzt werden und, selbst wenn, die entstehenden Ergebnisse den Mitteleinsatz nicht rechtfertigen. Flott werden die Branchenmedien dann auch wieder behaupten, dass DIgitalisierung insgesamt ja nichts bringe.

Gewinnen werden aber jene, die eine Mischung schaffen aus Big Data, Thick Data und wirklich kreativen Ideen. Die, die es schaffen, über Kommunikation eine echte Beziehung zu ihren Kunden herzustellen. Das ist beschwerlich und wird dauern, doch es wird sich auszahlen.

Besucher des Deutschen Marketing Tags wurden übrigens per E-Mail aufgefordert, ihre Eintrittskarten, die nicht über ein Ticketsystem, sondern über Rechnungen verkauft wurden, farbig ausgedruckt mitzubringen – Funktionalitäten wie Apple Wallet waren nicht vorgesehen.

Beschlossen wurde der Kongress aber mit dem Thema „Quantenwirtschaft – was kommt nach der Digitalisierung?“.

Und vielleicht muss man auch nicht mehr wissen, über den aktuellen Stand des Marketings in Deutschland.

Nachtrag vom 7.1.20: Hier noch eine interessante Beobachtung…

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Kommentare


Thorsten Eder 20. Dezember 2019 um 14:52

Absolut zutreffend. Ich konnte das alles so erleben (Mein Gott fallen mir da wieder viele "Geschichten" als Beispiel ein). Hätte es nur nicht so gut zusammenfassen können. Vielen Dank für diesen Artikel.

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Christian Bachem 20. Dezember 2019 um 16:06

Gut beobachtet und gewohnt pointiert zugespitzt. Das deckt sich mit meinen Erlebnissen auf dem Marketing-Tag. In welches Panel man auch ging, auf nahezu jeder Bühne wurde unter mantraartigem Murmeln aktuell gängiger Bullsgit-Bingo-Vokabeln munter ein rosa Kaninchen nach dem anderen aus dem Transformation-Hut gezaubert. Das Publikum nahm es teils staunend, teils verzückt zur Kenntnis. Dieser von dir beschreibene selbstreferentiellen Zirkus, der ganz ohne Kunden auskommt, hat allerdings noch weitere Zelte, in denen ähnlich bemerkenswerte Vorstellungen gegeben werden. Das eine ist das "VUCA-Zelt", das uns weis machen soll, wie unfassbar komplex die Marketing-Welt heute ist (nicht zulrtzt wegen dieser furchtbar unberechenbaren Kunden, die sich erdereisten einfach nur Menschen zu sein). VUCA ist das zweite große Alibi für mangelnden Handlungswillen (danke für den treffenden Begriff). Das dritte Zelt ist das "Haltung-Zelt". Dahin ziehen alle Marketingexperten weiter, denen vor lauter Transformation und VUCA derart schwindlig ist, dass sie Halt durch Haltung benötigen. Dort treffen sie außerdem auf jene Merketeers, die aufgeschreckt feststellen, dass sie den Kunden aus den Augen verloren haben. Einen Kunden der sich scheinbar plötzlich für – man gleubt es kaum – andere Dinge als Klickstrecken und Banner-Karussels interessiert. Und dem der gewiefte Marketeer nun mit Haltung beikommen möchte. Immerhin: Dieser Zirkus ist streckenweise derart absurd und komisch, dass er ganz ohne Pausenclowns auskommt. Mal sehen was nächstes Jahr auf dem Programm steht. Ich freue mich schon!

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Martin C. Wagner 21. Dezember 2019 um 7:54

Sehr guter Artikel. Thick Data klingt nach einem richtig guten Ansatz. Allerdings kostet er Zeit und Arbeit. Wenn ich an meine kleine Marketing-Abteilung in einem B2B-KMU denke, dann fehlen uns dafür einfach die Ressourcen. Wobei wir auch keinen BigData-Ansatz fahren. Dafür fehlt mir das Budget ;-).

Derzeit führen wir ein CRM-System ein und wollen gemeinsam mit Vertrieb und Projektteam unsere Zielgruppen-Personas erneuern. Ich denke, das ist die Grundlage und kann ein erster Schritt zu einem Thick Data-Ansatz sein. Wie sehen Sie das?

Beste Grüße
Martin C. Wagner

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DoSchu 21. Dezember 2019 um 11:15

Apropos Bier: ohne Werbung überregional erfolgreich ist das Augustiner-Bräu aus Minga
Danke für diesen wichtigen Artikel.
Cheers!

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Tim 23. Dezember 2019 um 10:07

Ähnlichen Mumpitz gab es vor 25 Jahren in der Agenturbranche unter dem Schlagwort "Kreative Werbung". Werbung (und HR) sind nun mal die Unternehmensbereiche, die am anfälligsten für offensichtlichen Quatsch sind. Besonders große Gefahr droht dort, wo Werbeverantwortliche nicht am Unternehmenserfolg beteiligt sind. Sind sie es aber, kehren automatisch Vernunft und Effizienz ein.

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