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„Klickt halt. So ist das eben. Ganz normale Überspitzung.“

Das sagte ein Nachwuchsjournalist mir im vergangenen Jahr, als ich in einer Diskussion Kritik übte an der Art und Weise, wie selbst renommierte Medienmarken Überschriften fabrizieren (und dies online wie im Gedruckten).

Ganz normal, Alltag, sich nicht so haben, alles nicht so schlimm, nach fünf Minuten wieder vergessen.

Diese Haltung beobachte ich recht häufig in redaktionellen Zirkeln. Sie erinnert mich an einen alten Hörfunkspruch: „Versendet sich.“

„Versendet sich“, das sagte der Radiomensch gern, wenn es eine kleine Panne bei einem Beitrag gab, was bodenständig auch übersetzt werden könnte mit „Scheiß der Hund drauf“.

Diese Scheiß-der-Hund-drauf-Haltung ist oft zu beobachten. Nur ein Beispiel: Da eilmeldeten etliche bekannte Medienhäuser am Donnerstag, Angela Merkel haben den Wechsel auf eine EU-Position angedeutet. Auslöser war ein „Süddeutsche“-Interview, in dem sie sagte:

„Es ist jedenfalls eine Wahl von großer Bedeutung, eine besondere Wahl. Viele machen sich Sorgen um Europa, auch ich. Daraus entsteht bei mir ein noch einmal gesteigertes Gefühl der Verantwortung, mich gemeinsam mit anderen um das Schicksal dieses Europas zu kümmern.“

Das reichte den Hauptstadtkorrespondenzexegetikern für eine Brüll-Schlagzeile, obwohl Merkel im gleichen Interview sagte:

„Meine Entscheidung, den Parteivorsitz abzugeben, steht in untrennbarem Zusammenhang mit meiner Entscheidung, nach 2021 nicht mehr in der Politik zu sein.“

Die geradezu bizarre Reise jenes Zitats können Sie sehr schön bei Übermedien nachvollziehen.

Und natürlich sind diese Falschmeldungen auf den meisten Nachrichtenseiten weiter lesbar. Mehr noch: Sie werden sogar als Paid Content verkauft wie hier bei der „Rhein-Zeitung“:

Nun hat solch eine Spekulation recht wenig Auswirkungen. Im Politikjournalismus ist sie in Sachen Wahrheitsgehalt wie in Sachen Wirkung vergleichbar mit königlichen Schwangerschaftsmeldungen im „Goldenen Blatt“. Schade ist natürlich die innerredaktionelle Verschwendung von Kapazitäten, sind es doch Chefredakteure und Büroleiter die sich bemüßigt sehen, diesen Spekulatius mit Heißluftsahne in Gestalt eines Kommentars oder Leitartikels zu garnieren. Und man müsste ja annehmen, dass die hochrangigen Personen ihre Zeit sinnvoller investieren könnten.

Doch ist die Geschichte nur Indikator für ein nicht hinnehmbares Problem des aktuellen Journalismus. Viel zu viele seiner Vertreter glauben, dass ihre hochgehypten Werke sich versenden, nach fünf Minuten vergessen sind und einfach so aus den Köpfen entschwinden. Sprich: keinen Schaden anrichten.

Das ist natürlich erstaunlich ob der angeblichen Bedeutung, die der Journalismus doch haben soll. Spricht man die gleichen Personen auf Sparrunden, Demokratie oder Populismus an, so tönen sie von vierter Macht im Staat und gesellschaftlichem Auftrag. Wie geht das zusammen?

Mir scheint, viele Journalisten sind sich nicht mehr bewusst, was selbst kleine Storys anrichten können.

Beispiel: die Geschichte des Bubble Tea in Deutschland.

Dank des Grimme Online Award stieß ich auf den Podcast Rice and Shine. Seine Macherinnen Minh Thu Tran und Vanessa Vu reden über das Leben von Deutschen mit asiatischem Migrationshintergrund, über Vorurteile gegenüber Asiaten und über asiatisches Leben.

In einer der jüngsten Folgen sprachen sie über etwas, was ich aus Deutschland fast völlig verschwunden glaubte: Bubble Tea.

Ab 2011 schoss die Zahl der Bubble Tea-Läden in Deutschland nach oben – und stürzte 2012 wieder ab.

„Kurzlebiger Trend“, dachte auch ich. Den süßen Tee fand ich persönlich noch ganz lecker, die Tapioka-Perlen dagegen waren überhaupt nicht mein Ding.

Doch gab es für den Absturz des Bubble Tea in Deutschland anscheinend eine ganz andere Erklärung: einen Artikel der „Rheinischen Post“ vom 22. August 2012.

„Giftspuren im Bubble Tea“. Wow! Das klingt heftig. Nichts an diesem Einstieg ist non-alarmistisch. Und auch im Text selbst geht es munter so weiter. So lautet der Einstieg:

„“Wir haben in allen Proben PCB-ähnliche Stoffe nachgewiesen, die das Risiko, an Krebs zu erkranken, stark erhöhen“, sagte Manfred Möller vom Institut für Hygiene und Umweltmedizin am Uniklinikum Aachen, der gemeinsam mit der Mönchengladbacher Firma „Leco Instrumente“ die Analyse des Getränks durchführte.“

Dieser Artikel sorgte für ein Bubble-Tea-Laden-Sterben.

„Und mit was? Mit Recht!“ mag der geneigte Leser meinen – wenn er jenen „Rheinische Post“-Artikel nicht bis zu Ende studiert. Denn weiter hinten folgt ein Detail, das dem Leser bis dahin verschwiegen wurde – und die Vermutung liegt nahe, dass dies mit Absicht geschah, um die Knallerschlagzeile nicht kaputtzumachen:

„Allerdings haben die Aachener noch keine Ergebnisse über die Konzentration der gesundheitsgefährdenden Stoffe vorgelegt. Erst danach sind Aussagen über eine Gefährdung möglich. Ein Experte des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts in Münster, das Lebensmittel im Auftrag des Landes analysiert, sagte, die Probemenge bei dem Fund in Mönchengladbach sei zu gering und damit nicht aussagekräftig.“

Ach so. Nicht aussagefählg. Gar nicht sicher, ob das ganze gefährlich ist.

Sprich: Die Mönchengladbacher Lokalpostille hat eine Story hochgejazzt, die Menschen Angst macht – ohne eine ausreichende Faktenlage zu haben. Tatsächlich ruderte jener Wissenschaftler später ebenfalls zurück: „Die mediale Welle kam einer Verleumdungskampagne gleich“, sagte er 2013 der „Zeit“.

Doch bis dahin waren schon berufliche Grundlagen vernichtet worden. Die Teashop-Gründer verloren ihre Umsätze, verschuldeten sich, waren pleite – alles wegen zweier Gladbacher Lokalschreiber, die auch mal große Welt spielen wollten. Und – natürlich – der Artikel ist weiterhin online lesbar.

Das Beispiel ist schon ein paar Jahre alt, doch wiederholt es sich ständig. Beispiel Verena Bahlsen: Natürlich waren ihre Äußerungen unsäglich, doch Ausgangslage war ein Artikel des „Handelsblatt“, der in seiner Überschrift so tat, als habe es bei der Konferenz „Online Marketing Rockstars“ eine Debatte zwischen ihr und Juso-Chef Kevin Kühnert gegeben und der einen eindeutig ironischen Satz Bahlsens über Yachten nicht als ironisch kennzeichnete.

Früher waren solche Halb- und Unwahrheiten dem Boulevard und den Klatschblättern vorbehalten – heute darf jeder mal, weil er glaubt, dass sich alles versendet.

Und die journalistische Branche? Der scheint das egal. Sie arbeitet sich lieber an Claas Relotius ab. Dessen Arbeit hat vielleicht die eine oder andere Meinung verändert. Doch einen wirklichen Schaden hat sie nicht angerichtet – und das unterscheidet den „Spiegel“-Fälscher von vielen Berufsstandskollegen, die Tag für Tag Berufsethos eintauschen gegen Klickzahlen.

Titelfoto: Larry Jacobsen / CC BY 2.0


Kommentare


Ben 21. Mai 2019 um 9:52

"Doch einen wirklichen Schaden hat sie nicht angerichtet – und das unterscheidet den „Spiegel“-Fälscher von vielen Berufsstandskollegen, die Tag für Tag Berufsethos eintauschen gegen Klickzahlen."

1) Hat Relotius nicht ebenso sein Berufsethos für Ruhm und Reichweite geopfert?
2) Ich glaube, dass der von Relotius angerichtete Schaden vielleicht weniger direkt in verlorenen Euros messbar ist. Was einen in Zeiten "Lügenpresse" skandierender Möchtegernfaschisten fatalen "Beweis" der Verderbtheit des Journalismus angeht, halte ich den Reputationsschaden aber für enorm.

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Thomas Knüwer 21. Mai 2019 um 10:15

1) Doch, natürlich. Aber eben ohne großen Schaden für andere – das schrub ich ja.

2) Natürlich haben Sie da recht. Doch lässt sich das eben schwerer quantifizieren. Möglicherweise schlägt ja auch der Confirmation Bias zu und alle, die vorher schon Lügenpresse gerufen haben, fühlen sich bestärkt – und andere erklären ihn zum Einzelfall. Ist also alles recht schwierig. Wenn die berufliche Existenz vor die Wand fährt, ist das aber eine direkte Wirkung.

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Christoph Henninger 23. Mai 2019 um 13:38

Ich gebe Ihnen nicht recht. Ausdrücklich bin ich der Meinung, dass auch Relotius einen Schaden verursacht hat. Dieser ist, wie Ben es schreibt, vielleicht nicht in Geld messbar, aber ich finde ihn doch sehr groß.

Nur: Die anderen sind wirklich zum Teil nicht besser! (Nein nicht alle.) Das Problem ist doch eher solch reißerische Schlagzeilen zu verhindern. Irgendwer hat mal damit angefangen und die anderen sahen, das es gut war… also klicks brachte. Und so haben sich das alle angefangen, anstatt das man versucht mit der Unaufgeregtheit und der Glaubwürdigkeit sowie der sachlichen Diskussion eine Marke aufzubauen rutschen immer mehr Presseerzeugnisse in diesen Sumpf ab. Sie sind damit irgendwie wie die AfD, die sich gerne hinstellt (oder hingestellt hat) und gesagt hat "Sooo habe ich das nicht gesagt". Sie haben die Unwahrheit verbreitet ohne zu lügen. Eben wie auch die Presse an vielen Stellen leider immer mehr.

Es ist anstrengend sich seine Informationen aus der Presse zu holen. Darum verstehe ich auch langsam die Leute die ihr "Wissen" aus Facebook-Gruppen sammeln. Es ist vielleicht nicht richtiger. Aber einfacher!

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K. Ruemelmonster 30. Mai 2019 um 19:39

"… und der einen eindeutig ironischen Satz Bahlsens über Yachten nicht als ironisch kennzeichnete."

Bitte den Part im unten verlinkten Clip nochmal ansehen. "Eindeutig ironisch" finde ich Bahlsens Aussage nicht. Sie hat das etwas plaudernd/schnippisch formuliert, aber ich kann keinerlei zweite Bedeutung in ihrer Art zu reden entdecken. Sie meint das wirklich so.

https://www.handelsblatt.com/video/arts_und_style/bahlsen-erbin-nichts-liegt-mir-ferner-als-den-nationalsozialismus-zu-verharmlosen/24353776.html?ticket=ST-184895-7peS5l4L1sw2bHeFh6Bv-ap1

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Thomas Knüwer 31. Mai 2019 um 8:46

Ne, sorry, das ist eindeutig ironisch gesagt. Und halten wir mal kurz fest: Das Handelsblatt hat sie noch dazu falsch zitiert, denn sie spricht ja von Yachten, was die Aussage noch ironischer macht, und nicht von Yacht. Und das sagt sie, während sie in einer labberigen Latzhose auf der Bühne steht.

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K. Ruemelmonster 31. Mai 2019 um 17:03

Wikipedia über Ironie*: "Dabei behauptet der Sprecher etwas, das seiner wahren Einstellung oder Überzeugung nicht entspricht …".

Eine Distanzierung im Sinne von "ich würde nie eine Yacht oder andere teure Luxusartikel kaufen" ist in Bahlsens Aussage nicht zu finden oder herauszuhören. Das ist auch gar nicht möglich, denn was sie sagen möchte ist "ich bin stolz darauf reich zu sein und mache was ich will mit der Kohle". Man kann bestenfalls von einer ironischen Überhöhung durch die Benutzung des Plurals sprechen. Aber selbst das unterstreicht ihre eigentliche Aussage, anstatt sie zu konterkarieren.

* https://de.wikipedia.org/wiki/Ironie

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