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Angela Merkel liest Twitter.

Das klingt erstmal nach einer Kuriosität im Medienkabinett, die nach spöttischen Bemerkungen ruft. Ich glaube aber, diese bisher (meines Wissens nach) nicht bekannte Information hat gewisse Implikationen.

Aufgefallen war Merkels Twitter-Konsum – vielen Dank – Jung von Matt-Mann Matthias Richel:

Das Bild auf Merkels iPad ist eindeutig: Wir sehen Twitter.

Nun würde dies bei Donald Trump nicht verwundern. Auch bei „gewöhnlichen“ Mitgliedern des Bundestages nötigte diese Information nicht mehr als ein Schulterzucken ab.

Merkel jedoch war bisher nur bekannt als Anhängerin von SMS. Es gibt zwar den Twitter-Account AngelaMerkelCDU – doch der liegt seit Januar 2017 still. Richtig aktiv war er ohnehin nie: 2014 beigetreten, ein paar lieblose Tweets, jahrelanges Schweigen, dann ein paar Retweets im vergangenen Jahr: Mit „erratisch“ ist dieses Nutzungsverhalten nur unzureichend beschrieben. Den Twitter-Raum überließ Merkel bisher Regierungssprecher Steffen Seibert, der diesen auch durchaus professionell bespielte.

Es ist anzunehmen, dass Merkel nun mit einen privat gestellten Account unter Fakenamen auf Twitter mitliest. Denn so kontrolliert, wie sie ansonsten kommuniziert, wird sie jede Möglichkeit, aus Versehen irgendetwas von sich zu geben, was nicht exakt vorherbestimmt ist, vermeiden wollen.

Dass sie aber Twitter als Nachrichtenfilter nutzt, ist aus zwei Gründen mehr als eine Anekdote.

1. Angela Merkel lässt sich beeinflussen

Merkel ist zwar eine zutiefst opportunistisch handelnde Politikerin. Doch haben all die Jahre gezeigt, dass sie sich von Institutionen beeinflussen lässt, die ihr nützlich für ihre Ziele erscheinen. Der Deutschen Telekom hielt ihre Regierung in Sachen Breitbandausbau lange die Stange, obwohl Experten schon seit Jahren das von der Telekom bevorzugte Vectoring ersetzt sehen wollen durch Glasfaserkabel. Erst jetzt rudert Merkels Team zurück – vielleicht weil sie immer stärker als Analogkanzlerin gesehen wird? Auch die Verlegerverbände genießen ein offenes Ohr bei ihr: Obwohl Experten selbst im Bundestag mit deutlichsten Worten vor dem Leistungsschutzrecht warnten, drückte Merkel es durch.

Handelsblatt Netzwert vom Oktober 2001: Round Table mit u.a. Angela Merkel, Werner Müller und Stephan Schambach.

Ich selbst erlebte diesen Opportunismus einmal hautnah. Im Jahr 2000, noch als Generalsekretärin der CDU, war sie Teil eines Round Table-Gesprächs mit Startup-Gründern. Diese forderten von ihr und Wirtschaftsminister Werner Müller (SPD) vehement eine gesetzliche Regelung, um Venture Capital-Investitionen zu erleichtern. Von Müller war zu diesem Thema später nichts mehr zu hören – Merkel nahm die Forderungen der Startupper und goss sie eine Woche später in einen Gastbeitrag für die „FAZ“. Mit einem Mal wirkte sie wie am Puls der Zeit.

Bisher genossen Institutionen, egal ob Verbände oder Nachrichtenmarken, diesen Zugang ins Kanzleramt – die einen über Lobbyismus, die anderen über Presseclippings. Nun könnte das auch für Einzelpersonen außerhalb des üblichen Politzirkusses gelten, die entweder von Medien oder Großkopferten retweetet werden, oder denen Merkel selbst folgt. Sprich: Da entstehen potentielle Polit-Influencer. Weshalb die Frage, welchen Accounts Merkel folgt vielleicht sogar eine von öffentlichem Interesse sein könnte.

2. Twitter ist Influencer einer globalen Meinungs-Elite

Das Wort Elite ist in Deutschland eher Schimpfwort, denn einordnende Vokabel. Doch ist Twitter durchaus ein Kommunikationstreffpunkt einer digitalen und medialen Elite geworden. Nirgends sonst gibt es einen Ort, an dem Politiker, Wirtschaftsentscheider, Wissenschaftler, Journalisten, Bürger und jene schwer zu verortende Kaste der Prominenten kommunikativ aufeinander treffen. Das heißt nicht, dass jeder immer auf alles reagiert. Doch entstehen immer wieder spontan Debatten zwischen Mitgliedern jener Eliten und Personen außerhalb dieses (natürlich nicht fest abgrenzbaren) Kreises – und das ist etwas neues in unserer Gesellschaft. Erst recht auf globaler Ebene: Denn auch über Ländergrenzen hinweg ist solche eine Kommunikation ja möglich. Und: Das war auch schon vor Donald Trump so.

Diese Funktion von Twitter wird in Deutschland oft unterschätzt – vor allem von Medienverantwortlichen. Noch immer sind erstaunlich viele Journalisten und Verlagsentscheider entweder gar nicht auf Twitter oder bestenfalls als schlichter Multiplikator der Haupt-Accounts ihrer Häuser. Tatsächlich aber ist Twitter auch hierzulande ein digitaler Treffpunkt der – nennen wir sie mal so – Meinungselite.

Angela Merkel also ist zumindest Beobachterin jener Meinungselite, von der sie sich an anderem Ort durchaus beeinflussen lässt. Das macht die Entdeckung ihrer Twitter-Aktivität über die simple Nutzung einer Social Web-Plattform hinaus spannend und bedeutsam. Ich schätze mal, bei seinem nächsten Auftritt vor der Bundespressekonferenz wird Steffen Seibert die eine oder andere Frage dazu beantworten dürfen.


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Liveberichterstattung im B2B-Bereich – Teil 1: Vorbereitung, Kanal- & Poststrategie – Projecter GmbH 22. März 2019 um 18:00

[…] Der Kurznachrichtendienst gilt als Elitennetzwerk, auf dem sich Journalisten, Entscheider und sogar die Kanzlerin […]

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