Deutschlands Politik ist so reich an Treppenwitzen, dass ich jede Minute damit rechne, dass Sascha Baron Cohen sich das Angela-Merkel-Kostüm vom Laib reißt und ruft: „Hey, it’s just me!“
DWDL überbringt die jüngste Geschichte – und wieder ist sie unfassbar. Weil sie zeigt, wie blind Deutschlands Volksvertreter durch das Leben tappsen, in backfischesker Scheuklappigkeit, gesegnet mit der Naivität eines Fünfmonatigen, die Länge eines Dackelschwanzes determiniert den Begriff „Langfristigkeit“.
Nun bietet solch ein kindlicher Blick auf die Welt auch Chancen. So wie im Fall des Bundestagsfernsehens, das tatsächlich ein Piratensender ist.
Diese Live-Übertragungen begannen einst als reines Haus-TV der Abgeordneten. Dann landeten sie verschlüsselt im Berliner Kabel. Doch nun werden sie unverschlüsselt gezeigt. Und damit beginnt das Problem.
Denn laut deutschem Recht müssen TV-Betreiber staatsfern sein. Wer wäre aber näher am Staat als der Staat? Die Abstrusität der Lage macht deutlich, wie verstaubt das deutsche Medienrecht ist. Denn es wäre ja im Sinne der Bürger, Bundestagssitzungen sehbar zu machen. Und zwar alle.
Also, lieber Norbert Lammert: Wenden Sie Judo an. Nutzen sie den Schwung der Kritik. Sorgen Sie dafür, dass sämtliche Bundestagssitzungen per Gesetz der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Gründen sie ein Web-Portal, auf dem diese zu sehen sind – zusammen mit einer digitalen Bürgerbeteiligung. Ändern sie das Medienrecht und stoppen sich schwachsinnige Ansinnen wie Web-TV-Lizenzierungen, wie sie der ausgeschiedene LFM-Betonkopf Norbert Schneider forderte. Und wo Sie gerade dabei sind: Kämpfen Sie für die Abschaffung der Landesmedienanstalten. Wir brauchen sie nicht mehr, ehrlich.
Die Medienwelt wandelt sich in Tornado-Geschwindigkeit, Deutschland kriecht dahin. Norbert Lammert, es ist Ihre Chance.
Foto: DBT
Kommentare
simonnickel 16. März 2011 um 17:44
Jeden Tag lernt man wieder neue Abstrusitäten des deutschen Gesetzwesens. Für solche Schritte wird immer ein Skandal oder ein bedeutendes Ereignis benötigt, daher ist jetzt wohl der beste Zeitpunkt dafür.
Steve Gates 16. März 2011 um 18:28
Kleiner Fehler: Das Parlamentsfernsehen ist schon lange kein reiner Sender für eine „geschlossene Benutzergruppe“ mehr sondern bereits seit Jahren im Berliner Kabelnetz UNVERSCHLÜSSELT empfangbar:
http://www.bundestag.de/dokumente/datenhandbuch/20/20_03/index.html
Gerhard 16. März 2011 um 20:18
Schon an den werten Herrn Lammert geschickt? Oder liest er gar hier mit? =)
Ich habe ehrlich gesagt schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass das mit den deutschen Politikern und der Medienkompetenz noch etwas wird.
Hackworth 16. März 2011 um 22:50
Von wegen Judo anwenden. Was Lammert und vermutlich so ziemlich alle anderen an der Spitze wollen, ist ein klassischer Propagandasender, der die Sternstuden der jeweiligen Regierung übertragen soll – ob der nun legal betrieben wird oder nicht, ist denen doch völlig wurscht. Warum sonst wird Phoenix verboten, die Anhörung Röttgens zu übertragen?
Nur jemand 17. März 2011 um 11:35
Das man das immer erklären muss, zeigt den geringen Demokratie-Erklärungs-Level deutscher Bildungs-Anstalten wie Schulen und ÖR-TV: Zentral-Medien-Anstalten haben das Problem des dann naheliegenden Zentral-Funkes wie Honecker-TV und Anführer-TV. Daher sind Medien in Deutschland Bundesländer-Sache und werden per Länder-Staats-Vertrag geregelt. Klar ist es armselig, das nicht der lokale Landesfunk die Landes-Machenschaften aufdeckt, sondern der Konkurrenz-Landes-Fürsten-Funk einer Konkurrenz-Partei in andersfarbigen Bundes-Ländern über die Verfehlungen berichten muss. Die Hamburger wissen über den Banken-Fehl-Kauf vermutlich besser Bescheid als die Südländer und umgekehrt die CSUler alle Fehler vom Elbetunnel oder was auch immer.
Wer Satellit hat oder in Berlin oder neuen Ländern wohnt, kennt kleine Sender. Diese würden bei einer Zentral-Anstalt vermutlich schnell bereinigt. Schliesslich gibt es die vielen Religions-Sender und ÖR-Transponder vielleicht nur, damit Astra 80% Auslastung verkünden kann und auf Astra keine Heer-Schaar kleiner Sender die Wahrheit verkündet wie z.B. DrDish. Gibt es Berliner Gay-TV noch ?
Zentralismus bedeutet, das das Äquivalent zur ungarischen Medien-Fürstin-Zarin jeden Sender beliebig ausknipsen kann. Da die meisten Internetler kein TV schauen, weil es unkewl ist, interessiert die das Problem und Vielfalt auch nicht. Also fordern die Abschaffung von GEZ und Nachrichten durch RTL… und nicht mehr Sender wie die Fernbedienung Tasten hat.
RTL hatte m.W. laut Interview in Saarland seine Lizenz erworben. Hötten die damals von Helmut Kohls Zentral-Sender-Verteilungs-Anstalt eine Lizenz bekommen ? Eine EU-weite Anstalt wäre vielleicht wirksamer. Aber bitte keine Merkel-Zentral-Sender-Anstalt wo der Chef rausfliegt, nur weil er Gay-TV oder Moslem-TV erlaubt hat. Wir erinnern an den von Schuldenmachern rausgeworfenen ZDF-Nachrichten-Sprecher.
Die Frequenzkontrolle der Landes-Medien-Anstalten über die Kabel-Einspeisungen halte ich für kritikwürdiger. Bei GEZabschaffen-vs.-WerbeTVabschaffen-Fanbois braucht man mit konstruktiven Diskussionen aber gar nicht erst anfangen. Speziell weil die meisten gerne von Dingen diskutieren, die sie gar nicht sehen und kennen.
Und übrigens: Viele Leute (auch in Berlin viele) kriegen nicht mal DSL-1000.
Das man jede Rede punktgenau ansteuern und Cut-Listen mit z.b. den Zentralen Aussagen machen können sollte, sollte normal sein. Geht das inzwischen auch bei YouTube oder nur bei Bing und dort vielleicht nur für Start-Punkte, also z.B. „Rede von Lammert 1min:23sec“ aber keine Zusammenschnitte wie „Sekunden 23..30 und Sekunden 55..68“ usw… ?
Was aber viel viel wichtiger wäre: Schriftliche Transkripte. Egal wie (Nordkoreaner, Knackis, Hartz4ler, Flattr-2, Freiwillige, VHS-Kurse für Schreibmaschine oder Deutsch für Migranten, freiwillige politische Gegner…) und durchsuchbar und findbar (unified language) und vote-bar („die unbeliebtesten 100 Sprüche von Politiker Hans Wurst Mustermann“). Damit man jeden dummen Spruch schnell auffindet und es den Leuten per Video-Link im Internet, per Twitter und dann notgedrungen weil den TV-Sender-Praktikanten nichts übrigbleibt auf allen TV-Sendern entgegenhalten kann, weil man das auf Spiegel-Online verlinkte Video von den Top20-Tweets auch auf RTL-2 und dann RTL und damit auch in ARD und ZDF zeigen muss. Aktuell wären Verlängerungs-Sprüche und Video-Aussagen wie „AKWs sind sicher“ der Renner in der Transkript-Sammlung. Rücktritt, ewiger Verzicht auf alle Landeslöhne usw. sollte klar sein. Bei einem Zentralfunk würde kein Sender solche Sprüche und Interviews senden sondern Durchhalteparolen und „in Japan ist keine Strahlung ausgetreten – die Militärhubschrauber füllen nur den Goldfisch-Koi-Karpfen-Teich wieder auf“ verkünden. Aber an Honecker-TV erinnert sich wohl keiner mehr. Wenn man Lügen nicht (negativ natürlich) sanktioniert, wird es zum Berufsbild das wir täglich „bewundern“ dürfen.
Was als Ergänzung dann noch fehlt, wäre eine App, wo jeder Wähler sieht, wer sich z.B. nicht öffentlich gegen AKW-Verlängerung ausgesprochen hat oder gegen mehr Geld für Hartz4ler oder gegen Migranten ist. Man muss seine GPS-Position bzw. Wahlkreis in der App und Online angeben können und sich markieren und (als Motivator) öffentlich voten können, wen seiner Kandidaten man weshalb (Ehebrecher, AKW-Verlängerer, Titel-Fälschertum,…) nicht wählen kann. Die existierenden Projekte sind mir zu halb-gar und Video-Aussagen würden einen Meinungsverstärker bilden. wähl-wen-warum-(nicht).de gibts leider nicht. So schlau scheinen die Grünen aber nicht zu sein obwohl gerade Wahlkampf sein soll und man jeden dazu bringen könnte, sich verbindlich gegen Verlängerung auszusprechen, obwohl die Basta-Abteilung etwas anderes will. Manche wollen wohl lieber gewählt werden und auf unsere Kosten leben, als ohne gewählt zu sein trotzdem mit List und Tücke ihre Ziele – nämlich den Ausstieg – zu erreichen.
Trittin läuft mit einer Kamera und Mikrofon von Kandidat zu Kandidat, klingelt an der Tür und lässt sie als Videobeweis aussagen, ob sie dauerhaft für oder gegen Verlängerung stimmen werden und das nichts im (kommenden) Koalitionsvertrag verloren hat. Stattdessen müssen das die Blogger-Frontler-gegen-AKWs machen 🙁
FAZ, Die Zeit usw trauen sich wohl nicht, eine offene Webseite der AKW-Freunde-Kandidaten mit eidesstattlichen Erklärungen zu machen. „Tolle“ Leistungs-Presse.
Davon abgesehen gilt natürlich was Hackworth in (4) sagt: Manche sehen sich wohl gern im TV. Die Theorie des Alpha-Tieres erklärt das vermutlich. Und wer z.B. Wasserverträge, Berater-Kosten usw. nicht offen abschliesst und zur Offenlegung gezwungen werden muss, hat Transparenz und Korruptionsbekämpfung nicht begriffen. Der verwechselt Demokratie mit Darkroom-Politik. Jeder Beamte und Politiker und Manager muss proaktiv jederzeit nachweisen können, das er zum Vorteil seines Volkes bzw. Kleinaktionärs gehandelt hat. D.h. Kameras und Transparenz hätten 99,9999% der Zeit bei fast jeder ihrer Handlungen dabei zu sein und nicht nur beim Presse-Ball. Das man per App interaktiv an jeder (nicht-Geheimen) Ausschuss-Sitzung und TV-Sendung teilnehmen kann, sollte doch wohl klar sein. Der real-time BigBrother-Chat und sogar #dsds-Tweets sind demokratischer als viele Parlamente .
simonnickel 17. März 2011 um 12:51
Wenn das jedoch auf eine Übertragungspfilcht hinausläuft und alle Sitzungen Online verfügbar sind, dann ist weniger Propaganda möglich als jetzt. Nennt sich dann Transparenz.
Philipp Jüttner 17. März 2011 um 16:05
Tatsächlich wäre es noch viel wichtiger und hätte einen weitaus höheren Informationswert für die interessierten Bürger, wenn nicht bloß die (stark ritualisierten) Debatten im Plenum, sondern auch die eigentliche Arbeit der Parlamentarier, die ja weitgehend in den Ausschüssen passiert, übertragen würde. Hiergegen hat Lammert in der Vergangenheit ausdrücklich gewand. Es wäre ein großer Beitrag dazu, Politik transparenter zu machen und den Politikverdruss zu verringern, wenn die MdBs den Mut hätten, zu zeigen, wie sie arbeiten und zu Entscheidungen finden. Es wäre eben auch eine Chance dafür, dass sich Bürger frühzeitig in die Entscheidungsprozesse einbringen könnten.
Hackworth 17. März 2011 um 16:07
Sicher, eine generelle elektronische Übertragung und Archivierung aller öffentlichen Sitzungen wäre ein großer Schritt, so wie Open Government generell. Solange aber nach Gutdünken gerade die potentiell peinlichen solcher Termine nicht übertragen werden, ist noch nichts gewonnen.
Timo Rieg 17. März 2011 um 21:40
100 Prozent Zustimmung. Nur: Die Politik wird den Teufel tun da irgendwas anzufassen. Die gesamte Medienregulierung würde ja zusammenfallen wie ein Kartenhaus. JMStV, öffentlich-rechtlicher Rundfunk, KEF… da gibt es so vieles, was nicht in die Landschaft passt, zum Teil nie gepasst hat – außer, dass es alles gerde keine Staatsferne schafft im Sinne von freien Medien, sondern Einfluss ermöglicht.