Natürlich kann eine Kanzlerin nicht alle Reden selbst schreiben. Es wäre aber doch von gehobener Schönheit, würde sie die Reden, die sie hält, vorher mal durchlesen. Und kurz nachdenken, ob ihr Stab da nicht bizarren Blödsinn in eine ansonsten gute Rede geschrieben hat. Ich bin ja ein Internet-Optimist. Das Web, davon bin ich überzeugt, kann vieles bewirken – und hat schon vieles bewirkt.
Eines aber, da bin ich mir sicher, hat es nicht: die Mauer zum Fall gebracht. Auch sonst wäre diese Behauptung wohl eine Minderstheitenmeinung, wäre sie nicht ausgesprochen worden von unserer Regierungschefin.
Die sprach auf dem von Microsoft organisierten Government Leaders Forum. Und ihr entwich eine merkwürdig verschwurbelte Rede, die mutmaßlich einem extrem inkompetenten Redenschreiberhirn entsprungen ist.
Allen Ernstes setzt sie den Fall der Mauer in Zusammenhang mit der Informationstechnologie:
„Meiner festen Überzeugung nach sind die Tatsachen, dass ich heute bei Ihnen bin, dass wir keine Mauer mehr in Berlin haben, dass der Kalte Krieg beendet ist und dass sich eine unglaubliche Bewegung der Freiheit über die Welt ausgebreitet hat, ein Produkt der Informationsgesellschaft beziehungsweise der Fähigkeit, Informationen auszutauschen. Dies alles wäre ohne Informationstechnologie nicht möglich gewesen.“
Dumm nur, dass das Internet als die Mauer fiel, noch verdammt klein war. Mehr Informationen dazu liefert der Netplanet.
Nun gibt es in einigen Blogs mächtig Kritik für diesen Patzer. Und das ist schade, weil der Fehltritt überdeckt, dass die Kanzlerin den Rest der Rede gerne ausschneiden und ihrem Innenminister ins Poesie-Album kleben dürfte. Fast scheint es, Merkel wolle eine Gegengewicht setzen, gegen Überwachungsstattswunschdenken von Wolfgang Schäuble:
„Aber ich glaube, der Bürger wird erzwingen, dass er an bestimmte Informationen kommt und dass aus seiner Perspektive und nicht von der Ebene der jeweiligen politischen Verantwortlichen aus gedacht wird…
Das heißt also, dass wir in einer Zeit leben – dessen können wir uns bewusst sein; ich finde es immer sehr spannend, wenn man das Glück hat, in einer solchen Zeit zu leben –, die ungefähr so revolutionär ist wie das 15. Jahrhundert mit der Einführung der Buchdruckerkunst. Sie hat damals Europa kulturell und ökonomisch nach vorne gebracht und hat uns auf lange Zeit eine Welt beschert, die sehr eurozentriert war und später, seit Beginn des 20. Jahrhunderts, auch von Amerika mitbestimmt wird. Wir müssen Folgendes wissen: Von der Frage, wie schnell und wie bestimmend wir im Bereich der Informationstechnologie sind, hängt für Europa ab, welche Rolle es im 21. Jahrhundert spielen wird.“
Vor allem aber:
„Diktatorische Systeme bekommen zunehmend ein prinzipielles Problem. Die weltweite Verfügbarkeit von Informationen ist wesentliche Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Folglich muss den Bürgerinnen und Bürgern in den Ländern ein vollständiger Zugang zu Informationen gewährt und die Fähigkeit, Informationen zu neuem Wissen zu verknüpfen, per Bildung beigebracht werden.
In einem politisch-diktatorischen System führt dies zu einem Zielkonflikt. Auf der einen Seite muss darauf geachtet werden, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Landes während der Arbeitszeit diese Fähigkeit erlernen. Auf der anderen Seite muss sichergestellt werden, dass diese Menschen nicht so mündig werden, dass sie beginnen, das System außerhalb der Arbeitszeit zu kritisieren.“
Kommentare
Axel 24. Januar 2008 um 17:25
Gab es vor dem Web keine Informationstechnologien? Die subversive Kraft eines Kopierers in einem totalitären System hat die Stasi auf jeden Fall nicht unterschätzt. Oder des Telefons, des Fernsehens und … tatsächlich des Buch-/Zeitungs-Druckes.
hANNES wURST 24. Januar 2008 um 17:55
Also ich habe es nicht kapiert. Was war falsch an Merkels Aussage? Kommt mir eher so vor, als wenn dem Blogschreiber das Vorwissen fehlt um irgendetwas mit diesen Aussagen anzufangen. Würden Sie so einen Schmarrn auch in der Zeitung veröffentlichen?
Sebastian Reichel 24. Januar 2008 um 18:15
Ohne, dass ich Frau Merkels Redenschreiber jetzt verteidigen will: ich glaub, sie spielt da eher auf das berühmte \’Westfernsehen\‘ an.
Xpress 24. Januar 2008 um 18:21
Also ich setze Informationstechnologien nicht gleich mit Internet.
Jörg Friedrich 24. Januar 2008 um 18:24
Du selbst, Thomas, verstellst durch die Fehlinterpretation der Rede im ersten Teil deines Textes den Blick auf den richtigen zweiten Teil. Merkel hat nirgends gesagt, dass das Internet die Mauer zum Einsturz gebracht hat – auch nicht metaphorisch. Wörtlich sagte sie: \“Insofern haben die Informationstechnologie, die Datenverarbeitung und später das Internet zu einem großen historischen Erfolg beigetragen.\“
Das ist richtig.
Thomas Kollbach 24. Januar 2008 um 20:17
Wenn Merkel ein Gegengewicht zum Überwachungsstaat setzten möchte, warum sagt sie dann sowas: http://udovetter.de/lawblog/merkel_os.mp3
Man möchte vielmehr glauben sie könnte gedacht haben: \“Naja dann können wir ja mal was nettes zum Netz sagen immerhin ist dieser gates da, der hatte dochmal was erfunden womit meine leute jeden Tag mir das Internet ausdrucken…\“
In wirklichkeit ist doch nur Wahlkampf und man möchte allen gefallen. Wirklich beurteilen sollte man Politiker nur nach ihrem Handeln und nciht nach ihren Worten. Worte sind billig. Und Merkel bringt uns immerhin die Vorratsdatenspeicherung ins Haus
Thomas H. Lemke 24. Januar 2008 um 21:05
Informationstechnologie == Internet?
Wer kommt denn auf so eine Idee?!
Frau Merkel hat recht: Ohne Fernsehen, Telefon, Kopierer usw. gäbe es die Mauer wahrscheinlich noch. Woher sollte man sonst auch wissen, daß es etwas Anderes gibt, als die Umgebung, in der man lebt?
Wie unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen man sein kann, haben wir Bewohner der \“Tales der Ahnungslosen\“ immer erfahren, wenn wir einmal in Berlin per Fernsehen in die Welt schauen konnten.
Sosehr ich Ihre Art zu schreiben sonst auch liebe, Herr Knüwer: Das ging daneben!
Thomas Knüwer 24. Januar 2008 um 22:40
Ähm… Informationstechnologie gleich Fernsehen, Telefon und Kopierer? Hatte mir da immer was anderes darunter vorgestellt. Computer und so nen Zeugs. Lag ich wohl falsch.
eMHa 25. Januar 2008 um 0:05
Auch ohne Informationstechnologie waren die Menschen seit je her in der Lage unzufrieden mit den herrschenden Verhältnissen zu sein. Selbst wenn man den Begriff der Informationstechnologie bis hin zur Glühlampe ausweitet: Mauer und Kalter Krieg sind schon arg übertrieben. Jedoch gehts bei Merkels Biographie nun einmal nicht ohne derartig historische Dimensionen. Und das Publikum fühlt sich geschmeichelt.
Außerdem weiß doch jeder, dass Uri Geller und David Hasselhoff die Mauer zu Fall gebracht haben.
BeastyBasti 25. Januar 2008 um 1:21
=> Soviel zur Kanzlerin!!!
Sanddorn 25. Januar 2008 um 1:43
Informationstechnologie sind auch die Videokameras mit dennen die Demos in Leipzig und Co. gedreht wurden.
Sebastian 25. Januar 2008 um 5:05
Beim Demokratischen Aufbruch hat sie während der Wendezeit auch kurzzeitig als EDV-Administratorin gearbeitet, also ganz unbewandert scheint sie in der Materie auch wieder nicht zu sein.
Tim 25. Januar 2008 um 8:15
Auch wenn es für jüngere unvollstellbar scheint, es gab in der DDR Telefone azuch in Privathaushalten und man konnte aus dem Westen auch ohne \“Gesprächsvium\“ sich in das Netz einwählen.
Ute 25. Januar 2008 um 8:43
Also manchmal finde ich die Aufregung um solche Wortschnipsel dann doch etwas überzogen. Ja, es war ein Faux Pas von Frau Merkel, aber der Rest der Rede liest sich wirklich gut und zeigt Merkels Standpunkt auf – da finde ich den ersten Passus mehr als verzeihlich. Und vielleicht haben Fax und/oder der Teletext ja wirklich die Mauer zum einsturz gebracht? Nein, ich denke auch, Frau Merkel bezieht sich auf das Fernsehen. 😉
Robert 25. Januar 2008 um 9:36
Informationstechnologie, Abkürzung IT [von englisch information technology], die Technik der Informationserfassung, -übermittlung, -verarbeitung und -speicherung mithilfe von Computern und Telekommunikationseinrichtungen; im Englischen auch »information processing«, »information services«, »information systems«. Informationstechnologie basiert sowohl auf Grundlagen und Spezialgebieten der Informatik als auch auf weiteren physikalisch-technischen Fachgebieten; zu diesen gehören u. a. Mess- und Regelungstechnik, Nachrichten- und Übertragungstechnik, Telekommunikation, Elektrotechnik, Mikroelektronik und Mikrotechnik. Der Begriff Informationstechnologie impliziert ein hohes Maß an Innovation. Zu den wichtigsten basistechnologischen Entwicklungen im IT-Bereich zählen höhere Speicherkapazitäten, schnellere Übertragung in flächendeckenden, breitbandigen Netzen, steigende Prozessorleistungen und intelligente Informationsverarbeitung.
Quelle:
Meyers Lexikon
http://lexikon.meyers.de/meyers/Informationstechnologie
Thomas Knüwer 25. Januar 2008 um 10:14
Kleiner Hinweis: Den Artikel oben musste ich ein wenig editieren, weil er das Layout zerschossen hat.
Robert 25. Januar 2008 um 10:50
macht ja nix…es steht ja noch alles drin 🙂
Detlef Borchers 25. Januar 2008 um 11:19
Es ist selten, dass ich so etwas schreibe, aber Merkel hat Recht. Ich kann mich noch erinnern, wie \“Focke-Julf\“ Helsingius 1986/87 in Finnland das Net-Relay nach Russland aufgebaut hat und wie überascht wir nach Analyse der Logs über den Traffic aus der DDR waren. Da waren sehr viele technische Forschungsinstitute mit drunter, eben die Physiker (Merkel) aber auch die Sprachwissenschaftler. Und ganz vorne dran die Leute aus Jena…..
Nina 25. Januar 2008 um 12:00
Lieber Herr Knüwer,
es irrt der Mensch, solang\‘ er strebt – sagte schon
Johann Wolfgang von Goethe.
Und Johannes von Müller ergänzt perfekt:
Es ist ein Lob für einen Mann, wenn man seine Fehler sagen darf, ohne daß er groß zu sein aufhört.
Für mich hören Sie nicht auf, groß zu sein 🙂
Rainersacht 25. Januar 2008 um 12:26
Ey, Merkel ist eine ITlerin der ersten Stunde! Echt wahr! Und welche Rolle das Fax bei der Primel-Revolution in der DDR gespielt hat, das müssten Techno-Historiker nochmal erforschen. Schätze, dass die Bedeutung ähnlich groß war wie beim Tianamen-Aufstand (darüber gibt es schon Forschungsergebnisse…).
Onyro 25. Januar 2008 um 14:31
IT gab es schon vor dem Internet und dem Computer, nur hieß sie da in Deutschland meist OI (Organisation & Information) und befasste sich eher mit dem was ein klassisches Sekretariat, ein Bibliothekar oder ein Archivar macht. Und ja, ich glaube auch Frau Merkel bzw. ihr Redenschreiber meinte Informationstechnologie in einem weiteren Sinne und speziell das berühmte Westfernsehen, westliche Musik, westliche Bücher die den Kommunismus in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang insbesondere bei jungen Leuten nach und nach unterhöhlt haben.
Vergleichbar dem berühmten Buch \“The Lexus And The Olive Tree\“: Wer nach Konsum strebt fängt keine Kriege an bzw. akzeptiert keinen totalitären Machtapparat der die persönlichen Freiheiten einschränkt 😉
KS 25. Januar 2008 um 20:04
@Robert: Ich hätte gedacht daß das deutsche Pendant zu dem englichen \“IT\“ die gute alte \“EDV\“ sei…
@Detlef: Noch früher hatte ja Piet Beertema den Russen das Netz* geöffnet – 1984…. http://www.godfatherof.nl/kremvax.html 😉
*) \“das Netz\“ != \“Internet\“, für die \“Jüngeren\“ hier…
Robert 26. Januar 2008 um 10:14
@KS:
womöglich könnte man den \“Buchdruck\“ auch als IT bezeichnen?
KS 26. Januar 2008 um 22:35
@Robert: Nur wenn man den Unterschied zwischen Büchern und Elektronik nicht kennt.
Aber der Ausschnitt aus dem Meyerschen hätte auch 1:1 unter dem Stichwort EDV stehen können.
Detlef Borchers 27. Januar 2008 um 14:34
@Robert: Wie der Buchdruck als IT begriffen werden kann, das zeigt sehr schön Michael Giesecke in seinem \“Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien.\“
Kyra 27. Januar 2008 um 23:33
gr. techne = Fähigkeit, Handwerk
gr. logos = Wort, Begriff
Informationstechnologie = Lehre vom \“Handwerk\“ der Information
=> Lehre von Informationsverarbeitung.
Ob mechanisch, elektronisch, mit Stift und Papier ist wurscht, sagt das Wort.
Im Grunde geht es Reden wie jener sowieso um Informations*technik*: Nicht das Geschwafel darüber, sondern die Anwendung davon hat was bewirkt. 🙂