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Vielleicht sollte ich die „Tagesthemen“ nicht mehr schauen. Wäre besser für meinen Blutdruck. Denn egal ob Anne Will, Tom Buhrow oder gestern WDR-Kommentarsprecher Birand Bingül – sie alle demonstrieren ihre Überforderung mit der medialen Welt. Streng genommen zeigten die „Tagesthemen“ gestern einen Herrn, der zugab, dass er in Sachen Nachrichten eine „undurchsichtige Quelle“ ist. Birand Bingül heißt er und ist laut Eigenbeschreibung Fernsehredakteur beim WDR.

Er sprach einen verdrehten Kommentar zum Hinrichtungsvideo von Saddam Hussein. Verdreht deshalb, und das sei hier nur am Rande wichtig, weil er am Ende des Kommentars sagt, die ganze mediale Diskussion über Videos im Internet sei „gleichgültig“, es gehe ihm ja um die Lage im Irak. Also hat er ungefähr zwei Minuten lang „Gleichgültiges“ geredet, so etwas ist stilistischer Suizid.

Interessanter aber sind seine Ausführungen zu Internetvideos (die vermutlich bald auf seiner Homepage zu sehen sein werden, leider sehe ich auf der verdrehten „Tagesthemen“-Homepage keine Möglichkeit zur Verlinkung). Ähnlich wie schon bei Tom Buhrow und Anne Will ist es der auffällig abfällige Ton in Sachen Internet, der sie als das ausweist, was ich hier als Rubrik „Zitternde“ eingeführt haben: klassische Journalisten mit Angst um den eigenen Job.

Es sei „erschreckend einfach“, diese Bilder zu drehen, sagt Bingül. Und dann stelle „irgendjemand“ das „Filmchen ins Internet“. Und, Schockschwerenot, „am nächsten Tag kann es jeder dort sehen“. Vor allem aber, das geschieht „vorbei an uns Journalisten, an unserem Ethos, die Grenzen zum Voyeurismus zu beachten“. Zweiminütige Handy-Videos „können den Lauf der Medienwelt beeinflussen“. Produziert würden sie von „Herren der Handy-Videos“, die Bingül einstuft als „undurchsichtige Quellen“, weil „nicht sicher ist, wer hinter diesem Video steckt und mit welchen Interessen“.

Diese Naivität ist beeindruckend. Aber nehmen wir uns seiner Argumentation an und fragen uns: Sind die „Tagesthemen“ eine vertrauenswürdige Quelle? Sicher, sie zeigen nicht das volle Internet-Video – nur den Anfang. So ganz verweigern geht dann ja doch nicht. Einordnen darf dann jemand, der als „vom WDR“ bezeichnet wird.

„Vom WDR“ legt nahe, er sei fest angestellter Mitarbeiter. Er selbst nennt sich „Fernsehredakteur“. Allein: Anscheinend stimmt dies nicht. Bingül ist Dienstleister des WDR, zumindest war er das noch im November, als Stefan Niggemeier über ihn schrieb:

„Daß Bingül auf der offiziellen Kommentatorenliste der ?Tagesthemen? steht, verdankt er einer ?Integrationsoffensive? des WDR, für den er frei arbeitet und sonst zum Beispiel das Magazin ?Cosmo TV? moderiert.“

Bingül also darf nicht kommentieren, weil er der Beste für das Thema ist, sondern weil er in den Kommentatorenkreis dank einer Integrationsoffensive gerückt ist. Außerdem ist er freier Journalist, was ihm eine andere Position in Sachen Beeinflussbarkeit gibt, als den fest Angestellten.

Das heißt nicht, dass Bingül ein schlechter Journalist ist. Es zeigt aber, wie die ARD selbst, für die er die „Umgehung von Journalisten“ anprangert, ihren Zuschauern ein nicht ganz transparentes Informationsbild liefert. Trotzdem zeugt sein Kommentar, ebenso wie andere Beiträge der „Tagesthemen“ zum Thema Internet von einer tiefen Angst vor dem, was da passiert, im Netz.

Da gibt es also die „Herren der Handy-Videos“. „Herren“. Das klingt nach grausamen Landvogten, nach fiesen Peitschenschwingern, nach – Tyrannen. Die „Herren der Handy-Videos“ aber sind eben nicht nur Hinrichtungsfilmer. Es sind sogar bis auf eine Ausnahme bisher überhaupt keine Hinrichtungsfilmer. Was wäre denn gewesen, hätte es Handy-Video-Herren schon bei den Massakern im ehemaligen Jugoslawien gegeben? Hätte Bingül dann nicht gejubelt, dass die neuen technischen Möglichkeiten, der Welt einen Einblick in grausame Machenschaften erlauben.

Ja, es ist einfach, solche Aufnahmen zu verbreiten. Aber nicht „erschreckend“ einfach. Wie jede neue Technologie hat auch das Internet gute wie schlechte Seiten. Und den Journalisten obliegt es diese verschiedenen Aspekte zu erläutern und zu filtern. Weil ihnen das aber nicht mehr objektiv gelingt, wie Bingül demonstriert, deshalb werden sie einfach umgangen. Er weiß nicht, „welche Interessen“ die Hinrichtungsfilmer verfolgen, klagt Bingül. Aber geht es darum? Glaubt er wirklich, die Menschheit besteht aus einer tumben Fleischmasse, die nicht selbst begreift, wie grausam das Schauspiel ist, dass es dort zu sehen gibt. Gerne vergessen die „Tagesthemen“, was das Internet gebracht hat: Innerhalb von nicht mal zehn Jahren hat sich jeder Mensch mit Internetanschluss eine Masse Wissen erschlossen, für die früher blutige Kriege geführt wurden. Das macht noch nicht jeden zum Einstein. Aber es hebt den durchschnittlichen IQ ganz erheblich.

Doch Bingül ist ja nicht der einzige, der am Beispiel Saddam-Video demonstriert, dass die digitale Spaltung nicht zwischen Arm und Reich, sondern quer durch die gut verdienende Medienwelt verläuft.

Jeder treue Leitartikler gibt sich schockiert, ob der Bilder, die er da sieht. Nur: Sind es wirklich die Bilder, die schockieren – oder das Wissen darüber, was dort gerade passiert, aber gar nicht zu sehen ist. Denn auf Youtube & Co. entdecke ich nur ein zweieinhalbminütiges Video von extrem wackeliger Qualität. In diesen zweieinhalb Minuten ist viel Schwarz zu sehen und einiges an Gerufe. Ob diese Rufe in der Tat den kolportierten Übersetzungen entsprechen, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall ist der tatsächliche Grausamkeitsfaktor nur deshalb so hoch, weil es real ist und nicht gestellt. Zu sehen ist verdammt wenig. Das aber gesteht kaum einer der schreibenden Journalisten ein. Vielleicht, weil die wenigsten das Video gesehen haben?

Die sorgfältige Transkription der „Bild“ fällt zum Beispiel auf. Einerseits heißt es im Text: „Sein Genick bricht hörbar. Der zweite Halswirbel schneidet ins Rückenmark, wirkt wie eine Guillotine.“ Nun ist weder Saddams zweiter Halswirbel zu sehen, noch habe ich das hörbare Brechen gehört. Und so heißt es in der Bildergalerie auch: „Sein Genick brach deutlich hörbar, sagen Zeugen“

Nun ist auch in einigen Berichten die Rede von einem längeren Video, angeblich zehn Minuten. Diese Differenz erläutert niemand.

Für manchen Journalisten ist sie eben ein Höllenpfuhl, diese Parallelwelt der Videomacher. Am deutlichsten demonstriert das, wie Heiko Hebig entdeckt hat, wohl Spiegel Online:

„Unter der Überschrift „Saddam Execution Full Video“ werden mehrere Links angezeigt, die auf Server führen, auf denen das Band hinterlegt ist“

Tja, wer so etwas schreibt, der zittert wohl wirklich vor der Macht der „Herren der Handy-Videos“. Schließlich beherrschen die ja die Kunst, diese verdammten Bänder aus dem Mobiltelefon zu pulen. Und sie kommunizieren, schreiben nicht vom Internet umgangene Journalisten, per Keksdose (gefunden im Bildblog).

Nachtrag: Spiegel Online steigert sich weiter in die Abstrusität. Die Möglichkeit, dass Dateien kopiert oder verkürzt werden können, scheint außerhalb der Vorstellungskraft von Spon-Redakteuren zu liegen. Dafür aber „liegen“ Videos „vor“. Also so richtig auf dem Schreibtisch. Hat wohl jemand auf Band kopiert:
„SPIEGEL ONLINE liegen mittlerweile drei Versionen dieses Piratenvideos vor. Die erste wurde am vergangenen Sonntag, also einen Tag nach der Hinrichtung, auf einer einschlägig bekannten, dschihadistischen Internetseite verbreitet. Sie hat eine Länge von 2:35 Minuten und enthält die vollständige Exekution. Eine zweite, identische Version findet sich auf einer Video-Website. Eine dritte, gekürzte Fassung verschickte die Nachrichtenagentur AP. Sie ist 1:24 Minuten lang und endet kurz vor der eigentlichen Hinrichtung.“


Kommentare


hockeystick 3. Januar 2007 um 11:19

\“vorbei an uns Journalisten, an unserem Ethos\“

Als ich das gestern abend mit einem Ohr mitbekommen habe, musste ich auch herzlich lachen.

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weltherrscher 3. Januar 2007 um 12:14

die moralinsaure empörungsheuchelei hat der ard noch nie gestanden.
wenn man den kommentatoren, redakteuren usw. dort zuhört, fragt man sich als zuschauer schon das eine oder andere mal, ob deren elfenbeinturm auf einem anderen planeten steht?

wie war das noch beim monigate mit der ti?
ich glaube es waren blogger die da erst das eine oder andere gerade rücken mussten, nachdem die ard eine privatperson quasi abgeschrieben hatten. war für die ja nur ein durchlaufender posten. soviel zur moralischen integrität der ard.

und die wollen uns bürgern erklären, wie die welt zu funktionieren hat?

das moralisch verwerfliche an der hinrichtung, war die hinrichtung selbst. ob nun gefilmt oder nicht.

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Sascha Stoltenow 3. Januar 2007 um 12:36

Willkommen im Formatierungswettbewerb.
Herrn Luhman verdanken wir die klarsichtige Formulierung, dass wir das, was wir wissen, über die Massenmedien wissen. Dumm nur, dass wir das,was wir in Zukunft wissen werden, auch über das Medium der Massen wissen werden. Damit verlieren die klassichend Medien an Definitionsmacht, wenn es ihnen nicht gelingt, das bessere Angebot zu machen. Dank der neuen technischen Möglichkeiten, befinden sich die Medien in einem Formatierungswettbewerb, und zwar sowohl mit ihren Rezipienten als auch mit ihren Rohstofflieferanten (Politik, Unternehmen etc.) Wer immer hier das bessere Angebot bei der Konstruktion von Realität macht, wird diesen Wettbewerb gewinnen. So lange bei Unternehmen noch die alte Sichtweise eines deterministischen Sender-Empfänger-Modells vorherrscht (ergo das Denken der Marktingmenschen) ist das nicht bedrohlich. Sobald aber wir Spin Doktoren an die Ressourcen gelangen, wird es gefährlich 😉 Der einzige Ausweg für die Medien: Qualität und Rezipientenorientierung und die Einsicht, dass aus user generated content perspektivisch auch unser generated meaning werden wird. Wer sich darauf nicht einlässt, den entsorgt die Geschichte.

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Philipp Wagener 3. Januar 2007 um 16:07

Also ich warte hier nun schon lange auf einen Kommentar zum Erwerb des StudiVZ durch eure Verlagsgruppe!

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Thomas Knüwer 3. Januar 2007 um 17:31

Die Regel ist nicht neu: Ich schreibe hier nichts negatives über meinen Arbeitgeber.

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Themios 3. Januar 2007 um 17:44

*schmunzel* Auch eine eindeutige Aussage Thomas. 😉

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Philipp Wagener 3. Januar 2007 um 18:02

Man kann ja auch was Neutrales oder gar Positives schreiben, auch wenn es bisher einige negtive Schlagzeilen gab, so ist es doch die erste große Web 2.0 Akqusition im europäischen Raum.
Vielleicht ausschlaggebend für die Zukunft…

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Sven Wiesner 3. Januar 2007 um 18:08

Wahnsinn, genau meine Gedanken als ich das gestern sah!

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marcus 3. Januar 2007 um 20:33

einfach mal ein allgemeines dankeschön für dieses blog. 🙂

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darkrond 4. Januar 2007 um 3:15

neben der traurig niedrigen qualität des kommentars von herrn bingül in bezug auf seine \“analysen\“ sollte vielleicht noch angemerkt werden, dass er sein eigenes thema verfehlt. er kommentiert nicht die problematik des videos, sondern versucht sich vergeblich an einem medienvergleich.
wie es richtig geht, zeigt nerdcore. kurz, prägnant, ein kommentar eben.

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Bernd 4. Januar 2007 um 10:29

Selbst wenn Birand Bingül freier Mitarbeiter (oder Dienstleister, oder was auch immer) wäre, was ist daran so betonenswert? Sind fest angestellte Journalisten die besseren Journalisten? Die unabhängigeren? Wohl kaum.

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Thomas Chille 20. Januar 2007 um 16:58

Genauso wenig betonenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Verweis auf eine \“Integrationsoffensive\“. Wenn in ihrem Sprachgebrauch \“Integration\“ für \“Nix Gut\“ stehen soll, so benutzen sie doch bitte das Wort \“Multikulti\“. Es ist inzwischen genügend negativ besetzt.

Oder trauern Journalisten, die ethnisch eher dem Alten Europa zuzuordnen sind, weniger den Alten Medien nach?

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